Na endlich! So konnte es nicht weitergehen! Wiederholt und ausführlich wurde über die unglaublichen Zustände in Kinder- und Jugendheimen in der Bundesrepublik in der Zeit von 1949 bis 1975 berichtet. Die schreckliche Heimerziehung in der DDR aber wurde nur am Rande erwähnt. Damit ist jetzt Schluß. Ende des vergangenen Monats stellte die Bundesregierung einen Bericht zur »Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR« vor. Das Papier beschreibt erschreckende Zustände und kommt zu dem Schluß: »In den Heimen der DDR gehörten Zwang und Gewalt zum Alltag.« Die Zöglinge in den Heimen seien mit Schlägen, Schlafentzug, Strafhungern, Isolation und sexuellen Übergriffen erniedrigt und gequält worden. Genaue Opferzahlen können, was nicht allzu sehr verwundert, auch auf Nachfragen nicht genannt werden. Verwunderung rief allerdings die Tatsache hervor, daß als einziger Kronzeuge ein älterer Mann auftrat, der vor vierzig Jahren aus einem DDR-Erziehungsheim entlassen worden war und verkündete, »stolz« zu sein, »das erste Mal angehört zu werden«. Die staatliche Obrigkeit dagegen war zahlreich vertreten. Sechs Landesministerinnen und -minister sowie zwei Staatssekretäre mühten sich ab, die Öffentlichkeit über die Greuel in den Heimen und das Leid der Betroffenen zu unterrichten. Hermann Kues (CDU), Staatssekretär unter der Familienministerin Kristina Schröder, machte für die Greuel das Gesellschaftssystem, das »Versagen des DDR-Systems«, verantwortlich.
In etlichen Passagen läßt der Aufarbeitungsbericht den Verdacht aufkommen, daß von dem im Dezember 2010 veröffentlichten Abschlußbericht des Runden Tisches zur Heimerziehung in der BRD abgeschrieben wurde. So meinte denn auch die Berliner Familienstaatssekretärin Sigrid Klebba, daß die ostdeutschen Heimkinder lange im Schatten ihrer Leidensgenossen im Westen gestanden hätten. Dabei seien ihre Erlebnisse trotz der unterschiedlichen politischen Hintergründe doch vergleichbar. Und damit gab sie das politische Hauptmotiv zu erkennen, das hinter dem Bericht steckt. Dessen Autoren geht es offenkundig darum, zwischen den tatsächlich unsäglichen Zuständen in den Heimen der BRD und der Heimerziehung in der DDR ein Gleichheitszeichen zu setzen. Man merkt die Absicht und ist gleich verstimmt.
Aber wie erging es denn den »Leidensgenossen im Westen«? Zwischen 1945 und 1975 lebten dort rund 800.000 Kinder und Jugendliche, darunter vor allem Kriegswaisen, »Bastarde« von Besatzungssoldaten, außerehelich gezeugte Kinder, Verwahrloste und schwer Erziehbare, in kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen, die zumeist noch wenige Jahre zuvor NS-Erziehungsheime, Jugend-KZs oder Gestapo-Gefängnisse gewesen waren. Nicht selten war das alte Personal übernommen worden. Die Heimzöglinge waren Demütigungen, Mißhandlungen und einer kaum vorstellbaren Ausbeutung ausgesetzt. Erst 2008 wurde auf Druck der Betroffenen und der Öffentlichkeit ein »Runder Tisch Heimerziehung« eingesetzt, der in seinem Abschlußbericht unter anderem konstatieren mußte, daß die Rechte der Heimkinder durch körperliche Züchtigungen, sexuelle Gewalt, religiösen Zwang, Einsatz von Medikamenten und Medikamentenversuche, Arbeitszwang sowie fehlende oder unzureichende schulische und berufliche Förderung massiv verletzt worden waren. Zur Entschädigung der zahllosen Opfer wurde ein Hilfsfonds von gerade einmal 120 Millionen Euro eingerichtet. Betroffene müssen, wenn sie Leistungen aus dem Fonds beantragen, unterschreiben, künftig keine weiteren Ansprüche gegen die Institutionen, in denen sie mißhandelt wurden, geltend zu machen.
Nach diesem Muster soll nun für die »Opfer« der DDR-Heimerziehung ein Fonds von 40 Millionen Euro gebildet werden. Auch hier ist die beabsichtigte Gleichsetzung West/Ost augenfällig. Einen Unterschied allerdings gibt es. Die bereits erwähnte Berliner Staatssekretärin Klebba faßte ihn in die Worte: »Gab es im Westen in den 1970er Jahren Reformen, orientierten sich die Ost-Heime weiter an den grausamen Fürsorge-Richtlinien des späten 19. Jahrhunderts.« Ja, so muß es gewesen sein. Das zeigt allein schon der Umstand, daß bereits in der Sowjetischen Besatzungszone die Prügelstrafe streng verboten wurde, was auch für die Erziehungsheime galt. In der Bundesrepublik durfte in Schulen bis 1973 geprügelt werden, in bayerischen Schulen sogar bis 1980.
Wie sehr die DDR noch den »grausamen Fürsorge-Richtlinien des späten 19. Jahrhunderts« verhaftet war, kann auch den programmatischen Ausführungen des Leiters des Lehrstuhles für Sozialpädagogik an der Berliner Humboldt-Universität und Vizepräsidenten der Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung, Eberhard Mannschatz, der im Volksbildungsministerium längere Zeit für die 474 Heime der Jugendhilfe verantwortlich war, entnommen werden: »Die zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Heimgemeinschaft erfahren eine spezifische Ausprägung. Wir bezeichnen sie mit dem Begriff der Geborgenheit. Die Kinder betrachten die Erzieher weniger als Personen, die einen Beruf ausüben, sie sind vielmehr ihrer Privatsphäre zugehörig, sie fungieren als die entscheidenden erwachsenen Bezugspersonen, denen die Kinder vertrauen ... Die Kinder erwarten von ihnen, daß sie sich gemeinsam mit ihnen betätigen, ihre Sorgen und Freuden teilen ... Geborgenheit gewährt auch eine gewisse Freizügigkeit ... Zu Hause, also im Heim, hat man sich nicht immer unter strenger Kontrolle, man läßt sich auch mal gehen. Das darf nicht mit dem Risiko ständiger Vorwürfe oder gar Bestrafung verbunden sein. Die Erzieher müssen es sich leisten können, auch einmal ein Auge zuzudrücken. Dennoch und gerade deshalb gehört zur Geborgenheit Disziplin ... Disziplin gewährleistet Freiheit und Geborgenheit.«
Diese und andere Grundsätze der DDR-Heimerziehung werden ausführlich in dem 2001 im Juventa Verlag erschienenen Buch »Heimerziehungsprofile« von den Sozialpädagogen Werner Freigang und Klaus Wolf zitiert, die dann feststellen: »Manches klingt für einen westdeutschen Leser fremd, aber anderes kann als durchaus ›modern‹ angesehen werden.« Mitarbeitern der DDR-Heime bescheinigen die Autoren eine gute Ausbildung, eine hohe Motivation und erzieherisches Ethos. Natürlich wissen auch sie, daß in Heimen östlich der Elbe nicht nur eitel Sonnenschein herrschte: »In einigen Jugendwerkhöfen und in extremer Weise im geschlossenem Jugendwerkhof Torgau wurden die Disziplinierung und der Zwang zu einem zentralen Element des Lebens ... Das allein aber kennzeichnet sicher nicht die Lebensbedingungen der Kinder in den Heimen der DDR.« Freigang und Wolf sind nicht nur national und international anerkannte Experten, sondern auch unverbesserliche Optimisten, und so meinten sie: »Möglicherweise werden in der zukünftigen Diskussion – etwa über neue Formen der Gemeinschaftserziehung – einige Fragen, Anregungen oder Warnungen eine Rolle spielen, die durch die Erfahrungen der DDR-Jugendhilfe angeregt sind.« Die Verfasser des schaurig-komischen Berichtes zur »Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR« und die acht hohen Regierungsvertreter, die mit ihm die Öffentlichkeit hinters Licht führen wollen, sehen das ein wenig anders. Während der einzige aufgebotene Zeuge von »Stolz« sprach »angehört zu werden«, machte die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, stellvertretende SPD-Vorsitzende, aus ihren Schamgefühlen keinen Hehl: »Ich bin 16 Jahre alt gewesen beim Zusammenbruch der DDR und habe bis dahin in einem behüteten Elternhaus gelebt.« Erst danach habe sie von der Gewalt in Heimen erfahren. »Dafür schäme ich mich, und das tut mir auch sehr leid«, bekannte sie. Ja, sie verdient unser aller Mitgefühl, allerdings ist Scham zuweilen doch nur Heuchelei, um eine Lüge zu tarnen.