»Jetzt ist Attacke angesagt. Wir haben ein Zugpferd.« Das erklärte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles Ende September des Vorjahres vor den versammelten Pressevertretern im Willy-Brandt-Haus unmittelbar nach der Inthronisierung von Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten. Nach dessen holprigem Start beschloß der Parteivorstand ein halbes Jahr später an gleicher Stelle den Entwurf des Wahlprogramms der Sozialdemokraten für den begonnenen Bundestagswahlkampf (s. a. Ossietzky 7/13). Es ist ein beeindruckendes Dokument, und die bereits vorbereiteten Plakate verraten, unter welchen Kampflosungen die Attacke geritten werden soll: »Miteinander für mehr Solidarität«, »Miteinander für mehr Gerechtigkeit«, »Miteinander für Deutschland«.
Sollte die Partei als Erste durchs Ziel reiten, womit nicht zu rechnen ist, dann verspricht sie unter anderem dafür zu sorgen, daß ein flächendeckender Mindestlohn eingeführt, gleicher Lohn für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit gesichert, der Spitzensteuersatz auf Einkommen ab 100.000 Euro auf 49 Prozent erhöht, endlich eine Vermögenssteuer sowie eine Finanztransaktionssteuer erhoben, eine Finanzmarktregulierung gewährleistet, der Rentenwert Ost an das Westniveau angeglichen wird und die Managergehälter begrenzt werden. In der Tat tolle Forderungen, die allerdings seit langem von der Linkspartei erhoben wurden. Wenn es jedoch im Bundestag zum Schwur kam, wurden sie von den sozialdemokratischen Abgeordneten einmütig abgeschmettert. Jetzt jedoch werden sie ohne Quellenangabe plagiiert und auf das eigene Wahlkampfbanner in fetten Lettern als »Original-SPD«-Begehr geschrieben. Gewiß nicht aus Liebe zu den Linken und schon gar nicht zu ihrem Ex-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, den die Attacke-Reiterin Nahles einst als »Gottesgeschenk für die SPD« gepriesen hatte. Der Grund für das Abschreiben ist schlicht und einfach der, daß die Linke die Agenda-2010-Partei im Kampf um Wählerstimmen zu einem scheinbaren Kurswechsel zwingt.
Gefragt, was er dazu sage, daß die SPD derzeit völlig ungeniert abkupfert, meinte Linksfraktionschef Gregor Gysi: »Das zeigt nur, daß die Linke wirkt, wenn die SPD Forderungen der Linken wie die nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn oder, wie kurz vor den niedersächsischen Landtagswahlen, nach einer Senkung der Zinsen für Dispokredite übernimmt. Das Problem besteht darin, daß die SPD sich mit fremden Federn schmückt, ohne die von den Linken übernommenen Forderungen auch umzusetzen. Die SPD müßte ihren Wählerinnen und Wählern erklären, wie sie einen gesetzlichen Mindestlohn mit einer FDP durchzusetzen gedenkt, die als Koalitionspartner im Unterschied zur Linken von ihr nicht ausgeschlossen wird, falls es für Rot-Grün nicht reicht.«
Gysis Stellvertreter in der Bundestagsfraktion Ulrich Maurer sieht das nicht anders: »In der Finanzmarktpolitik hat die SPD nun auch erkannt, daß ›spekulative Finanzprodukte, die keinen wirtschaftlichen Nutzen haben, verboten werden müssen‹. Aber wer hat denn Hedgefonds eingeführt und die Finanzmärkte der freien Spekulation auf alles – sogar auf Lebensmittel – Tür und Tor geöffnet? Auch das waren SPD und Grüne. Wenn die SPD nun verbal die Forderung der Linken übernimmt, zeigt dies: Die Linke wirkt!«
Vorerst aber handeln die sozialdemokratischen Oberen nach der Methode Guttenbergs, Schavans, Koch-Mehrins und anderer Falschmünzer. Sie schreiben ab, aber verschweigen die Quelle. Erbost sind sie jedoch, wenn das von ihnen von der Linkspartei Abgekupferte von der CDU/CSU plagiiert wird. So beklagte sich der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion Florian Pronold, daß »die CSU in Guttenberg-Manier von der SPD abschreibt«, und sein Parteichef, der Beinahe-Kanzlerkandidat Sigmar Gabriel, mokierte sich darüber, daß die CDU nach jahrelangem Streit nun auch für einen allgemeinen Mindestlohn plädiere. Der Sinneswandel sei ein »großer Sieg für die SPD und die Gewerkschaften«. Zehn Jahre habe man schließlich für die Einführung flächendeckender Lohnuntergrenzen gekämpft. Die CDU sei mit der Kursänderung zwar zur »Plagiats-partei« geworden, aber das sei zu verkraften: »Wenn Merkel bei uns das Richtige abschreibt, wollen wir gerne auf die Quellenangabe verzichten.« Soweit, so gut. Aber ein kleiner Witzbold ist der Sigmar schon. Immerhin verwechselt er seine Partei im vorliegenden Fall, oh Wunder, mit der PDS/Die Linke, denn diese hat wie die Gewerkschaften viele Jahre für den flächendeckenden Mindestlohn gestritten, und es war die SPD, die deren Anträge im Parlament abgelehnt hat und nun großzügig auf die »Quellenangabe« verzichtet.
Der Streit der »Plagiatorenparteien« ist inzwischen schon so unterhaltsam, daß selbst die ZDF-Sendung »Berlin direkt« zu diesem Thema einen längeren Beitrag ausstrahlte, den sie mit einem aufschlußreichen Text einleitete: »Lohnuntergrenze einführen, Managergehälter begrenzen – die Union bedient sich bei diesen Themen beim politischen Gegner. ›Berlin direkt‹ checkt Merkels Regierung und fragt: Alles nur geklaut?« Nun kann man vom Moderator der Sendung, dem Vize-Chef des ZDF-Hauptstadt-Studios Thomas Walde, nicht erwarten, daß er die Linke als die eigentlich Beklaute nennt, aber das Kuriosum bleibt: Angesichts der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich verlangt die Mehrheit der Wähler mehr soziale Gerechtigkeit, und so kupfert die SPD von der Linken ab, und die CDU/CSU klaut der SPD Teile des Abgekupferten. Plagiat im Doppelpack!
Allerdings müssen sich die Reichen und Superreichen nicht allzusehr fürchten. Nach der Wahl ist nicht vor der Wahl. Pack schlägt sich und verträgt sich. Bleibt es bei der jetzigen Verteilung der Wählergunst, so wird es im Herbst weder eine schwarz-gelbe noch eine rosa-grüne Regierung, sondern eine große Koalition geben. Von den plagiierten Wahlversprechungen wird wenig übrigbleiben. Dafür spricht schon die Tatsache, daß die Entwicklung nach der Verabschiedung der Agenda 2010 von den SPD-Lichtgestalten in hohen Tönen gepriesen wird: Parteichef Gabriel behauptet, die Agenda sei »ein großer Erfolg« gewesen«, Generalsekretärin Nahles meint, dieses Gesetzeswerk habe »das Land vorangebracht«, und einer seiner Väter, der damalige Kanzleramts- und heutige Bundestagsfraktionschef Steinmeier erklärte: »Wir können sehr stolz auf die Agenda 2010 sein«, denn ihr verdanke Deutschland, »daß wir bei weitem nicht mehr der kranke Mann Europas sind, der wir vor zehn Jahren waren«.
Ja, vor zehn Jahren war es um die deutsche Wirtschaft so schlimm bestellt, daß sich der überschlaue Ökonom Hans Werner Sinn an das bankrotte Osmanische Reich, den »kranken Mann am Bosporus«, erinnerte und die Bundesrepublik zum »kranken Mann in Europa« erklärte. Steinmeier übernimmt diesen geistreichen Begriff, um den Wählern die mit der Agenda 2010 geschriebene »einzigartige Erfolgsgeschichte« plastisch vor Augen zu führen. Zum 10jährigen Jubiläum wurde sie im Willy-Brandt-Haus gefeiert, in dem zur gleichen Zeit die abgekupferten linken Forderungen ins Wahlprogramm geschrieben wurden. Obwohl sich hier der Hund in den Schwanz beißt, wird zur Attacke geblasen. Aber es geht ja nicht um den Hund, sondern um ein Pferd, ein Zugpferd, das zwar lahmt, aber weiter laut wiehert.