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Titel082013

Brief aus Havanna (4)  (Volker Hermsdorf)

Es stimmt, Kuba ist arm. Es bezeichnet sich selbst als Entwicklungsland. Die Wirtschaft ist zwar im vergangenen Jahr um gut drei Prozent gewachsen, und die Löhne stiegen im Schnitt sogar um rund sechs Prozent, doch alles vollzieht sich auf einem äußerst niedrigen Niveau. Der Durchschnittslohn von knapp 500 kubanischen Peso (unter 20 Euro) reicht bestenfalls zum Überleben, zu mehr nicht.

Der Schreck über die Zahl läßt etwas nach, wenn man erfährt, daß die meisten Wohnungen und Häuser Eigentum ihrer Bewohner sind, denn mehr als drei Viertel der Kubaner leben mietfrei in ihren eigenen vier Wänden. Die notwendigsten Grundnahrungsmittel gibt es zu symbolischen Preisen auf Bezugsheft (Libretta). Auch wenn es wenig ist, in anderen lateinamerikanischen Ländern haben viele Menschen nicht einmal das. Die oft gehörte Behauptung, daß es für die nationale Währung so gut wie nichts zu kaufen gibt, ist falsch. Die Märkte in Havanna sind in diesem Frühjahr gut sortiert mit Früchten, Obst und Gemüse. Dieses Jahr gibt es sogar Blumenkohl und Brokkoli, und die Preise sind – wie die Einkommen – bescheiden. Ein ganzes Brot gibt es ab neun Eurocent, eine Fahrt mit dem Bus durch das gesamte Stadtgebiet kostet weniger als ein Eurocent, der Menüpreis in einem Restaurant für nationale Währung liegt zwischen 50 Cent und knapp einem Euro, im weltberühmten Coppelia kostet eine Riesenportion mit fünf Kugeln Speiseeis nicht einmal 20 Eurocent, die Tasse Kaffee gibt es für drei Eurocent, ein Kinobesuch schlägt mit sechs Eurocent und eine Karte für das Theater oder die Oper mit etwa 30 bis 50 Eurocent zu Buche. Doch selbst bei den niedrigen Kosten ist es richtig, daß die meisten Menschen ohne zusätzliche Einnahmen – am besten in konvertierbaren Peso – nicht über den Monat kommen. Importierte Lebensmittel sind nur für Devisen zu bekommen, qualitativ halbwegs akzeptable Kleidung ebenso. Und wer sich den kleinen Luxus leistet, sein Bier in einer Hotelbar zu trinken, muß dafür Peso Convertible auf den Tresen legen.

All dies ist wahr, und es wäre verlogen, es nicht zu erwähnen. Aber es ist noch verlogener, eine Beschreibung Kubas auf diese Probleme des Alltags zu beschränken und nicht die ganze Realität der Insel zu berichten. Denn selbst während der schwersten Krise seiner Geschichte, unmittelbar nach dem Verschwinden der Sowjetunion, ist auf Kuba niemand verhungert. Hier gibt es keine Favelas wie in Brasilien oder Armenviertel wie in Mexiko, keine von kriminellen Mörderbanden beherrschten Stadtteile wie in Honduras oder El Salvador, keine Jagd auf Obdachlose und Straßenkinder durch paramilitärische Bürgerwehren, Militär- und Polizeieinheiten, keine Menschen, die auf Müllhalden vegetieren und im Abfall nach Eßbarem suchen, keine verwahrlosten Kinder, die versuchen, als Arbeitssklaven ihr Überleben zu sichern, und ihre jungen Gehirne durch Klebstoffschnüffelei zerstören, bevor sie eine Chance hatten, sich zu entwickeln. Wer Augen zum Sehen hat, kann nicht leugnen, daß es hier anders ist, als in den meisten Nachbarländern der Region.

Doch woran liegt es, daß die Heimat von José Martí sich so grundsätzlich von ihren Nachbarn unterscheidet? Was ist passiert, daß hier auch die Ärmsten – die es noch immer gibt – ihre Kinder auf die Schule und zur Universität schicken können, daß sie kostenlos versorgt und geheilt werden, wenn sie krank sind? Warum gelten hier die einfachen Arbeiter, die Bauern, die Alten, die Erwerbslosen und die Armen nicht als störende Elemente, als asozialer Abfall einer Konsumgesellschaft, sondern als Menschen, die Anspruch auf Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben besitzen und deren Würde von allen zu respektieren ist?

Vielleicht kann der am 13. März in Mexiko vorgestellte und der prokommunistischen Propaganda sicher unverdächtige aktuelle Jahresbericht (Human Development Report) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen dabei helfen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Im diesjährigen Bericht mit dem Titel »Aufstieg des Südens: Menschlicher Fortschritt in einer ungleichen Welt« nimmt das sozialistische Kuba einen vorderen Rang in der Gruppe der hoch entwickelten Länder ein und erreicht nach Barbados, Chile, Argentinien, den Bahamas und Uruguay beim Index für menschliche Entwicklung den sechsten Platz in der Region. Unter den insgesamt 187 untersuchten Ländern liegt Kuba auf Platz 59, vor Mexiko (61), Brasilien (85) und Kolumbien (91).

Der UN-Bericht über die menschliche Entwicklung wird seit 1990 jährlich veröffentlicht. Grundlage für die Bewertung des Entwicklungsstandes ist der jeweilige Human Development Index (HDI) der untersuchten Länder. Der HDI versteht sich als Wohlstandsindikator und gilt als Alternative zu rein ökonomischen Maßstäben. Anders als beim Ländervergleich der Weltbank werden nicht nur das National- und das Pro-Kopf-Einkommen berücksichtigt, sondern der Entwicklungsstand anhand weiterer Indikatoren wie beispielsweise Lebenserwartung, Alphabetisierung, Bildungsgrad und geschlechterspezifische Ungleichheit beurteilt. Der Faktor Lebenserwartung gilt als Indikator für Gesundheitsvorsorge, Ernährung und Hygiene.

In Kuba liegt die durchschnittliche Lebenserwartung mit 79,3 Jahren über der in den USA mit 78,7 Jahren. Auch sonst widerlegen die von den Vereinten Nationen veröffentlichten Zahlen nahezu alle über Kuba kursierenden Vorurteile. Mit einem HDI von 0,780 liegt Kuba nicht nur über dem Durchschnittswert der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (HDI = 0,741), sondern auch über dem durchschnittlichen HDI von 0,758 aller Länder aus der Gruppe mit »hohem menschlichen Entwicklungsniveau«. Mit Platz 59 der Weltrangliste muß sich das arme Entwicklungsland deshalb begnügen, weil das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen deutlich unter dem anderer hoch entwickelter Länder zurückbleibt.

Als größtes Hindernis für die menschliche Entwicklung bezeichnete der Chefautor des UN-Berichts, Khalid Malik, die in weiten Teilen der Welt vorherrschende Ungleichheit und den fehlenden Zugang ganzer Bevölkerungsteile zu Bildung, Hygiene und Gesundheitsvorsorge. Die sozialistische Insel gilt deshalb für viele Länder Lateinamerikas und der Karibik zunehmend wieder als Modell. Und mittlerweile meinen nicht nur oppositionelle Gewerkschafter und Studenten, sondern auch immer mehr progressive Regierungschefs in der Region, daß die herausragende Position Kubas auf dem Kontinent etwas damit zu tun hat, daß das Land sich nicht nur von kolonialer und imperialer Fremdherrschaft, sondern auch von den kapitalistischen Produktions- und Verteilungszwängen befreit hat.