Das Feuilleton ist begeistert, fasziniert, hypnotisiert. Arte und ARD haben den Film »Gatekeepers« des israelischen Regisseur Dror Moreh gezeigt: Gespräche mit den sechs noch lebenden ehemaligen Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Der deutsche Titel »Töte zuerst« ist zwar nicht wörtlich, aber inhaltlich korrekt übersetzt. Die Welt aus dem Springer-Konzern befand: »Das ist viel sexier, hat so etwas Nahöstlich-Martialisches und wird deshalb genau jenem simplen Schwarz-Weiß-Bild des Nahostkonflikts gerecht, mit dem Morehs Werk so gar nichts zu tun hat.« »Es ist ein Film mit einem überraschenden Ansatz und einem überraschenden Ergebnis. Denn die Männer, die in den vergangenen 30 Jahren den Geheimdienst geleitet haben, geben nicht nur Einblick in ihre Arbeit, sondern ziehen unisono ein entlarvendes Fazit: Das Besatzungsregime über die palästinensischen Gebiete erscheint unmoralisch, ineffizient und kontraproduktiv.« (Die Welt) Die Süddeutsche äußerte Bewunderung für die sechs: »Wie sie das beschreiben, das ist außergewöhnlich ehrlich ... [Sie] geben dabei Einblick in eine sehr spezifische Form der Verantwortungsethik, in der jeder Wert einen Preis hat – und dieser Preis ist zumeist in Menschenleben zu beziffern.« Der Intendant des NDR verkündete stolz: »Daß eine Koproduktion des NDR als eine der weltweit besten fünf Dokumentationen für den Preis (Oscar) nominiert wurde, ist ein Riesenerfolg.« Die »National Society of Film Critics« in den USA verlieh Moreh den Preis für den besten Dokumentarfilm des Jahres. Auf Festivals in Toronto und Amsterdam erhielt der Film ebenfalls höchste Anerkennung, und das wird wohl so weitergehen.
Die Begeisterung ist verständlich, die Dokumentation ist spektakulär, denn hier werden sechs Schwerstkriminelle und Kriegsverbrecher interviewt, die sich offen zu ihren Verbrechen bekennen, ohne daß die Staatsanwaltschaft, ob in Jerusalem oder Den Haag, eingreift. Das fasziniert. Stellen wir uns nur vor, die Chefs unseres Verfassungsschutzes der letzten 40 Jahre würden sich zu einer solchen Liste von Verbrechen bekennen: Was wäre hier los? Wären die Feuilletons ähnlich begeistert?
Wenn der Regisseur die Mitglieder der Goldstone-Kommission über ihre Untersuchung des Gaza-Krieges im Winter 2008/2009 befragt hätte, die über ähnliche Kriegsverbrechen hätten berichten können, wären die Reaktionen anders ausgefallen. Denn die Verbrechen waren nicht ihre eigenen, sondern die der Israelis. Die Kommission wurde auch ohne Kinofilm mit dem Vorwurf der antisemitischen Voreingenommenheit überzogen.
Nichts an den Geständnissen in Morehs Film ist neu. Seit Jahren sind der internationalen Öffentlichkeit die gezielten Tötungen durch Mordkommandos oder Drohnen bekannt, ebenso die Folter durch Schlafentzug, stundenlange erniedrigende Sitzhaltungen, danach Schütteln, Augenverbinden, Angsteinflößen (Yuval Diskin: »Du mußt mit allen Mitteln arbeiten, die dir zur Verfügung stehen«), auch die Giftanschläge waren längst kein Geheimnis mehr. Was die früheren Chefs des Geheimdienstes über die »brutale Besatzungsarmee« sagen, über den »Terror ultra-orthodoxer Juden« und das »korrupte Kolonialregime, das die Araber unterdrückt und sich Verräter heranzieht«, das war dem israelischen Publikum alles längst vertraut – und auch daß Israel »das Leben von Millionen Menschen unerträglich macht«, man aber »keinen Frieden mit militärischen Mitteln schaffen kann« und deshalb die Beendigung der Besatzung der »einzige Weg [ist], um Israel als jüdische Demokratie zu retten«, alles war in Israel schon gesagt worden, ohne Erfolg. Aber wer es in Deutschland wiederholte, der wurde als Antisemit abgeurteilt.
Neu und eher verblüffend als faszinierend ist, daß diese Männer, die zum innersten Zirkel der Macht gehört hatten, so offen von ihren Verbrechen erzählen, die zum großen Teil noch lange nicht verjährt sind. Sie müssen sich absolut sicher vor jeder polizeilichen oder juristischen Verfolgung fühlen, und aller Erfahrung nach täuschen sie sich darin nicht, denn die israelischen Verstöße gegen das Völkerrecht sind noch niemals gerichtlich geahndet worden. Dieses politische Personal agiert außerhalb der internationalen Rechtsordnung, und nicht nur das Feuilleton schaut weg.
Steht Israel das Privileg strafrechtlicher Immunität zu? Ist der Staat durch Auferstehung aus dem Holocaust und durch das aktuelle Gefühl der Bedrohung in einer vermeintlich feindlichen Umwelt von der Verantwortung vor dem Gesetz befreit? Nein, die Bedrohung geht von Israel selbst aus, wie die sechs Chefs übereinstimmend diagnostiziert haben. Weder die erlittene furchtbare Geschichte noch die politische Unfähigkeit, erobertes Land wieder zu verlassen und sich in seine selbst gewählte Umgebung zu integrieren, befreit von den Pflichten, die Israel mit der Mitgliedschaft in der UNO und der Unterschrift unter die UNO-Charta eingegangen ist. Auch die Terrorakte palästinensischer Selbstmordattentäter entbinden die politischen und militärischen Repräsentanten Israels nicht von der Befolgung des Völkerrechts.
Der palästinensische Widerstand gegen das »unmenschliche Besatzungsregime«, welches »das Leben von Millionen unerträglich« macht (Carmi Gilon), wird nicht etwa als gerechtfertigt, sondern durchgängig als Terror wahrgenommen, die Palästinenser gelten schlicht als Terroristen. Nur einmal wagt Avraham Schalom das Eingeständnis, der Kampf gegen Terror sei wohl nur eine »Ausrede« für die Brutalität und Grausamkeit israelischer Militäreinsätze. Und Jaakow Peri erinnert sich an das Leid der Eltern und Kinder, wenn man sie um Mitternacht überfällt und die Familien auseinanderreißt: »Wenn du aus dem Dienst ausscheidest, stehst du politisch ein wenig links.«
Doch was hilft es: Keiner von ihnen bereut, was er getan hat. Vielmehr blitzt immer wieder Stolz über die Effizienz und den eigenen Erfindungsreichtum bei der Exekution auf. »Ein schöner Einsatz, sehr sauber, elegant«, schwärmt Carmi Gilon von einem seiner Coups: Den mutmaßlichen Bombenbauer Yahya Ayasch in Gaza liquidierte er mit einem sprengstoff-präparierten Handy. Und das Feuilleton bewundert die »außergewöhnliche Ehrlichkeit« der Herren des Schin Bet, ohne zu fragen, ob sie wohl auch unter der Anklage des Totschlags oder Mordes vor einem Staatsanwalt so ehrlich und offen aussagen würden.
Avraham Schalom nennt das israelische Militär gar eine »brutale Besatzungsarmee, die den deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg ähnelt« – ein gewagter Vergleich. In Deutschland ist er tabu. Er läßt erkennen, daß die Kälte und brutale Tätermentalität, die Abwesenheit jeder Moral, Reue und jedes Unrechtsbewußtseins bei den Geheimdienstchefs selber die Erinnerung an Adolf Eichmann weckt. Das sind keine Geständnisse der Schuld, sondern Bekenntnisse der Tat. Aber das Feuilleton hält sich lieber an den Schafspelz, ohne sich mit dem Wolf in ihm auseinanderzusetzen; es bleibt in der Ästhetik der zivilen Bekenner-Interviews gefangen.
Regisseur Dror Moreh glaubt, daß die Regierung in Jerusalem an diesen vernichtenden Aussagen über ihre verfehlte Politik nicht vorbeikommt, sie nicht wegwischen kann, denn die Verantwortlichen des Schin Bet seien keine »linken pazifistischen Spinner«. Die Reaktion Netanjahus jedoch und die Zusammensetzung der neuen Regierung lassen diesen Glauben hinter dem Horizont der Hoffnung verschwinden.
Wird der Schin Bet seine Praxis ändern? Moreh hat den gegenwärtigen Direktor Yoram Cohen nicht interviewt. Er wird bis zu dessen Ausscheiden aus dem Dienst warten müssen. Bis dahin wird Schin Bet seine Methoden den technischen Möglichkeiten anpassen, nicht aber der moralischen und rechtlichen Kritik. Denn oberster Dienstherr wird bis auf weiteres Benjamin Netanjahu sein, der an den Methoden seiner Politik festhalten wird wie an den Zielen. Wer sollte ihn dazu zwingen, wenn offensichtlich nicht einmal US-Präsident Obama dazu in der Lage ist, der seinen jüngsten Besuch in Jerusalem offensichtlich als Sightseeingtour begriff (von vornherein als den eines Zuhörers ankündigte). Kanzlerin Merkel scheint nicht aus den Schranken ihrer selbstdefinierten Staatsräson heraustreten zu können. Und die deutschen Feuilletonisten sind dermaßen geblendet durch den Blick in die Waffenkammer der Macht, daß sie darin kein Verbrechen zu erkennen vermögen. Man sollte sie alle in einen Sack stecken, ordentlich schütteln und dann noch einmal vor den Film »Töte zuerst« setzen.