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Titel082013

Vielfältige Einfalt oder einfältige Vielfalt  (Winfried Wolk)

Deutschland ist ein riesiges Land von unüberschaubarer Größe mit einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Bundesländer, »autonomen Einheiten, teilsouveränen Gliedstaaten, die ihrerseits eigene staatliche Aufgaben erfüllen«. (Wikipedia, Föderalismus in Deutschland)

Die ethnisch-nationalen Besonderheiten bestehen auch 64 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik in einem Maße, daß es wie ein Wunder erscheint, daß sich dieses bunte Völkergemisch von Bayern und Hessen, Sachsen und Mecklenburgern zu einem Staatenbund zusammengefunden hat, sozusagen zu einer europäischen Union im Kleinen. Auch wenn die offizielle Amtssprache Deutsch ist, sind die länderspezifischen Ausprägungen in der Sprache, im Rechnen, sogar in der Schreibweise der Buchstaben so gravierend, daß ein Einsatz von Lehrern, in einem Bundesland ausgebildet, in den Schulen eines anderen Bundeslandes einfach nicht möglich ist. Und ein im Grundgesetz verankertes »Kooperationsverbot« bewahrt diese einzigartige nationale Eigenständigkeit der einzelnen Länder und hält somit weitgehend auch die Lehrer als wichtiges Kulturgut im eigenen Bundesland. Ein ehemaliges deutsches Nicht-Bundes-Land mußte noch eine Mauer bauen, um das Abdriften gut ausgebildeten Personals zu verhindern.
Wollen Eltern heute ihr angestammtes Bundesland verlassen, nur weil sie woanders Arbeit finden, sollten sie wissen, was sie ihren Kindern damit antun. Denn wie der Lehrer für den Unterricht im anderen Land nicht taugt, ist es auch für den Schüler kaum möglich, diesem ganz anderen Unterricht zu folgen. Er wird mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, einen abrupten Leistungsabfall hinnehmen müssen, der ihn das Ziel der Klasse nicht erreichen läßt, was damit zwangsläufig zum Sitzenbleiben führt.

Nun greift eine revolutionäre Idee global-deutschen Ausmaßes um sich, die zumindest für die Schüler die Konsequenzen eines Landes- und damit Bildungswechsels mildern soll. Das Sitzenbleiben soll abgeschafft werden. Sitzenbleiben traumatisiert Kinder, vor allem die Sitzenbleiber. Es kündet von einem Makel. Es genügt schon, wenn sie als Kinder armer Eltern von vielen Möglichkeiten unserer Leistungsgesellschaft ausgeschlossen sind. Da muß nicht noch der Makel des Sitzenbleibens hinzukommen.

Ich hörte, daß einige sehr namhafte Politiker in ihrer Kindheit zu dieser Kategorie Schüler gehörten, denen so viele Male »mangelhaft« oder »ungenügend« bescheinigt wurde, daß sie das Klassenziel nicht erreichen konnten und sitzen blieben. Sie hatten dennoch Glück. Würden sie auch noch der gesellschaftlichen Unterschicht angehört haben, wäre für sie die Auswahl an Berufen ziemlich beschränkt gewesen. Weil aber die heutige politische Sitzenbleiber-Elite sicher nicht zu den Kindern gehörte, denen dieser Makel anhaftete, war ihnen der Weg in die politischen Spitzenämter möglich. Dieses wissend, erklärt sich die Qualität und Dimension politischer Entscheidungen, wird verständlicher, was uns bisher als mysteriös und unverständlich erschien. Vielleicht gehört ja auch das unantastbare Föderalismusdiktat im Bildungswesen dazu.

Aber nun soll es möglicherweise ein Sitzenbleiben-Verbot geben. Auf jeden Fall würde man der künftigen, hoffnungsvoll aufstrebenden, jetzt noch die Schulbänke drückenden, politischen Elite die Angst nehmen, mit diesem Makel ihre Karriere starten zu müssen. Damit wäre zwar der Datenschutz und auch ein bemerkenswertes Geheimnis bewahrt, den künftigen Politikern aber würden durch das Nicht-Sitzenbleiben ein oder mehrere wichtige Jahre für ihre menschliche Reifung fehlen. Und die späteren Generationen hätten dann auch keine plausible Erklärung für nicht funktionierende Lösungen anstehender Problemfelder.