Urlaubsgedanken
Osterferienzeit, auch Peer Steinbrück im Urlaub. Der ist ihm zu gönnen, eine Spitzenkandidatur ist stressig. Auf gedankliche Anregungen des Finanzexperten und Krisenmanagers müssen wir dennoch nicht verzichten, ein reichlicher Vorrat davon ist vorhanden. Wir zitieren daraus: »Wir müssen im Zweifel auf eine Urlaubsreise verzichten, um für später vorzusorgen.« Das »Wir« darf man nicht als »Ich« mißverstehen, Politiker beziehen sich selbst üblicherweise rhetorisch ein, wenn sie andere Menschen zu einem bestimmten Verhalten animieren wollen. Und Steinbrücks persönliche Altersvorsorge ist, so dürfen wir annehmen, nicht gefährdet. Aber wer soll nun auf den Ferientrip verzichten? Steinbrücks Parteivorsitzender hat sich ebenfalls zur Urlaubsfrage geäußert: »Urlaub nur noch für Reiche? Das ist nicht unsere Sache.« Er konkretisierte diesen Satz an einem Beispiel: Flüge nach Mallorca müsse auch der Malocher sich leisten können. Wie erklärt sich diese Differenz unter prominenten Sozialdemokraten? Man muß bei solchen Aussagen aufs Datum achten, auf den zeitgebundenen politischen Kontext. Das Steinbrück-Zitat stammt aus dem Sommer 2006. Da warb der sozialdemokratische Bundesfinanzminister unter Angela Merkel für die Fortsetzung der Agenda-Politik, für die Notwendigkeit eines Niedriglohnsektors und einer Privatisierung der Vorsorge, der Sozialstaat sollte weiter »verschlankt« werden. Das Gabriel-Zitat ist neuesten Datums, der Bundestagswahlkampf ist angelaufen, die Parteien wetteifern beim Verlangen nach Mindestlöhnen. Ob die Gabrielsche Mallorcathese der SPD aus dem Umfrageloch hinaushilft, ist allerdings fraglich. Die demoskopischen Steinbrück-Werte sind dürftig. »SPD-Basis wendet sich von Steinbrück ab und hofft auf Große Koalition« – meldete jüngst Focus. Für den Kanzlerkandidaten persönlich ist es nicht tragisch, wenn ihm der Einzug ins Kanzleramt versagt bleibt. Wir zitieren ihn: »Ich habe doch keine Lust, bis 70 in den Mühlen zu stecken. Um Himmels willen, es gibt noch so viel Dinge außerhalb der Politik.« (2008) Steinbrück ist Jahrgang 1947. Reisen zum Beispiel lassen sich weitaus angenehmer gestalten ohne die Kanzlerbürde. Es muß ja nicht Mallorca das Ziel sein, möglicherweise drängeln sich da Parteifreunde.
M. W.
Schönheitspolitik
Anzunehmen ist, daß nicht wenige LeserInnen der
taz aus der Generation und dem politischen Milieu kommen, wo einst die Ostermärsche viele TeilnehmerInnen fanden, als sie noch Massen von Menschen auf die Beine brachten. Das schaffen sie inzwischen nicht mehr, und es wäre nützlich, sich über die Gründe dafür Gedanken zu machen. Ein Thema für die Zeitung, deren Werbespruch lautet »Das große linke Nachrichten-Portal«? Eher nicht, dem Blatt genügte es in den vergangenen Jahren, diesen Rückgang zu vermelden. In diesem Jahr aber bot sich zu Ostern etwas richtig
Taziges an: »Pazifismus ist feige«, lautete die Überschrift. Den Text lieferte per Interview Philipp Ruch, ein medial talentierter Betreiber »politischer Schönheitskunst«. OstermarschiererInnen, sagt er, seien »unmoralisch«. Erstens weil sie nur demonstrieren und ihnen nichts Handfestes bei ihrem Protest gegen die Rüstungsindustrie einfalle; zweitens weil sie nicht bereit seien, zur Wahrung von Menschenrechten international Gewalt einzusetzen. Ruch beruft sich auf die grüne Politikerin Marieluise Beck, die habe doch schon ganz richtig proklamiert: »Auschwitz wurde von Soldaten befreit.« Ruch selbst macht derzeit von sich reden durch die Ankündigung, er wolle die Waffenfabrik Heckler&Koch mit Zement zuschütten. Demnach ist er ein Gegner der Militärindustrie. Oder doch nicht? Womit operieren die Truppen, von denen er sich »ethische« Kampfeinsätze erhofft? Und wie kommen die Entscheidungen zustande, wo und zu welchem Zweck soldatische »Befreier« eingesetzt werden? Offenbar hat sich Ruch die Lektüre der aktuellen militärpolitischen Grundsatzpapiere der NATO-Staaten erspart, auch die der Protokolle von »Sicherheitskonferenzen« und »wehrkundlichen« Tagungen, und so kann er sich nun als Verwirrungskünstler betätigen: Waffenproduzenten sind böse, Soldaten unter Menschenrechtsparole sind gut. Die
taz aber kann zufrieden sein. Denjenigen in ihrem Publikum, die immer noch halben Herzens an ihrer friedensbewegten Vergangenheit hängen, hat sie mit Ruchs Hilfe ein gutes Gewissen geliefert: Ostern den Märschen fernzubleiben war ganz ok. Da tummeln sich Moralverweigerer, Feiglinge. Solche Typen, die nicht einmal bereit sind, unserer Befreiungsarmee am Hindukusch einen menschenrechtlichen Segen zu erteilen.
Wie sich eine Verwirrung Ruchscher Art diskurspolitisch für mehr militärischen Interventionismus nutzen läßt, ist einem Grundsatzartikel abzulesen, den zu Ostern
Die Zeit brachte. »Profitieren statt intervenieren?« – so hieß die Frage dort, den Unmut über den Rüstungsexport der Bundesrepublik scheinbar aufgreifend. Und die Antwort: Die deutsche Politik müsse endlich von ihrem gelegentlichen Zögern bei Bundeswehreinsatz out of area ablassen. Also, läßt sich folgern: Militärisch intervenieren, immer feste druff, selbstverständlich wegen der Menschenrechte; dann bekommt auch die deutsche Rüstungswirtschaft ein besseres Image.
A. K.
Nachruf
Boris Beresowski wurde in seiner Londoner Exil-Wohnung tot aufgefunden. Weil der Mann ein einflußreicher Gegner von Wladimir Putin war, rätselt die westliche Welt, ob es sich hierbei um einen Mord handelt, und die Londoner Polizei stellt teure Untersuchungen an. Wie dem auch sei, an dieser Ungewißheit sind die Russen auf jeden Fall schuld. Würden sie, wie das ausgereifte Demokraten tun, wenn sie im fremden Land einen Gegner gezielt töten wollen, dazu eine Drohne schicken und mit deren Hilfe die Sache mit einer Rakete erledigen, gäbe das möglicherweise Kollateralschäden an Nachbarn beiderlei Geschlechts, aber man hätte am Tatort sofort viel kostengünstiger Klarheit, und die Befürchtung, es könne sich um einen natürlichen Tod handeln, käme gar nicht erst auf.
Günter Krone
Weltbühne – ein Agentenversteck
Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky seien radikalistisch auf die »Erniedrigung« Deutschlands bedacht – dieses Fahndungsbild hängten zur Zeit der Weimarer Republik nicht erst die aufkommenden Nazis aus, es gehörte zum Anklagematerial deutscher Bildungsbürger, die auf der ideologischen Jagd nach »Nestbeschmutzern« waren. Nach 1945 erfreute sich diese Charakteristik der
Weltbühne-Akteure fortdauernder Beliebtheit, nun in der Variante, durch eben diesen »Nationalnihilismus« hätten die
Weltbühne-Publizisten das Vertrauen in die Weimarer Demokratie zerstört.
Aber wie kamen sie zu diesem bösartigen Tun? Wer dies herausbekommen will, wird fündig im Buchangebot des Wiener Karolinger-Verlags, in einem Werk des
FAZ-Redakteurs Lorenz Jäger, der bei seiner Zeitung die »Geisteswissenschaften« betreut. »Hinter dem Großen Orient« heißt der Titel, Jäger beschreibt darin das Freimaurertum als historisches Herkunftsmilieu vielfältiger ideenpolitischer Verirrungen, als Tummelplatz von Frühkommunisten, Jakobinern, Atheisten, Anarchisten et cetera, eine Entdeckung, mit der sich seinerzeit schon Mathilde Ludendorff hervorgetan hatte. Als besonders interessant stellt er heraus, daß Tucholsky und Ossietzky Angehörige der Loge »Zur Aufgehenden Sonne« waren, einer »linksliberalen«, »internationalistisch« gesonnenen deutschen Freimaurergruppe, die der französischen Loge »Grand Orient« verbunden gewesen sei. Und so biete sich eine Erklärung für die »destruktive«, gegen Militarismus gerichtete Publizistik der
Weltbühne: Freimaurerische »Einflußagenten« seien dort als Herausgeber oder Redakteure tätig gewesen im Dienste französischer Außenpolitik, getarnt waren sie durch deutsche Staatsbürgerschaft. Tucholsky habe sogar, von ihm selbst in einem Brief bezeugt, einen Meisterpaß der Pariser Loge besessen.
Jäger schreibt über den
Weltbühne-Artikel vom März 1929, mit dem die illegale Aufrüstung der deutschen Reichswehr offengelegt wurde: »Der einzige Nutznießer der Enthüllung war Frankreich. Ossietzky wurde wegen Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse angeklagt und verurteilt. Nicht im Nationalsozialismus, sondern in der demokratischen Republik.«
Die historische Strafe bereitet dem
FAZ-Redakteur offenbar Behagen. Deutsche Wehrhaftigkeit hat auf Recht und Vertrag keine Rücksicht zu nehmen, wer das nicht einsieht, ist ein Vaterlandsverräter. Damals: ein Franzosenknecht. Nicht weiter der Rede wert, daß die beiden Logenbrüder von der Weltbühne nach 1933 ein elendes Ende fanden.
Marja Winken
Amtlich geklittert
Da dürfe »kein Schlußstrich gezogen werden«, verlangte Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag, anläßlich der Vorlage des regierungsamtlichen Berichts zur »Aufarbeitung der SED-Diktatur« (s. auch Ralph Hartmann in
Ossietzky 4/13). Der für »Kultur« zuständige Staatsminister Bernd Neumann betonte noch einmal die offizielle Sichtweise: »Die nationalsozialistische und kommunistische Diktatur auf deutschem Boden« sei das Thema. Womit die beiden Systeme per Grammatik politisch ineinsgesetzt sind. Kauder allerdings machte eine subtile Unterscheidung: Das »Dritte Reich« nannte er zurückhaltend einen »Unrechtsstaat«, die DDR ganz forsch eine »unmenschliche Diktatur«. Beide beklagten sich darüber, daß »Ostalgie« immer noch anzutreffen sei; auch müsse man erschreckende Unkenntnis deutscher Schüler über den SED-Staat konstatieren. In der parlamentarischen Aussprache über den Regierungsbericht waren neue Argumente nicht zu hören. Wie üblich wurde von den anderen Parteien die Gelegenheit genutzt, der Partei Die Linke eins auszuwischen, sie verweigere »Reue und Schuldbekenntnis«, monierte der grüne Redner. Und wie ebenfalls üblich beteuerte der Vertreter der Linkspartei, diese habe sich doch längst pflichtgemäß mit dem »Erbe« der SED »auseinandergesetzt«. Als greifbarer Gegenstand der Debatte blieb die Frage übrig, was demnächst administrativ aus der Stasiunterlagenbehörde werden soll. Das Fazit: Regierung und Parlament der Bundesrepublik betreiben die »Aufarbeitung« der ostdeutschen Geschichte nach 1945 weiterhin abfallpolitisch. Sie suchen sich aus den historischen Trümmern der DDR argumentativ das heraus, was ihnen im aktuellen Diskurs parteipolitisch nützlich erscheint.
Bei alldem wird konsequent verdrängt: Eine separate Geschichte des ostdeutschen Staates und politischen Systems gab es nicht. Es existierten teildeutsche Staaten, die in ihren Entstehungsgründen und in der Entwicklung ihrer inneren Verhältnisse funktional miteinander verbunden waren. Also, personalisierend ausgedrückt: Wer über Adenauer (und dessen Politik) nicht sprechen will, sollte über Ulbricht (und dessen Politik) schweigen. Die Nachkriegsgeschichte in Deutschland verlief in Abhängigkeit von den Besatzungsmächten. Dabei hatten politische Einflußgruppen, Parteien und Institutionen auf deutscher Seite einen bestimmten Spielraum für eigene Entscheidungen, im Westen Deutschlands war dieser um einiges größer als in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR. Für den Weg in die Teilstaatlichkeit entschieden sich zuerst die Machteliten in den westlichen Besatzungszonen. Vor allem wirtschaftliche Interessen waren hier wirksam. Die Einbindung Westdeutschlands in das westliche Blocksystem gab dem privaten großen Kapital Chancen, die es so bei einer gesamtdeutschen, weltpolitisch neutralen Lösung nicht bekommen hätte. Von daher war es kapitallogisch, auf das Konzept zu setzen: »besser das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb«. Die sowjetische Deutschlandpolitik war zunächst keineswegs auf eine ostdeutsche Staatsgründung ausgerichtet, möglicherweise lag eine »österreichische« Lösung für Gesamtdeutschland im Interesse der sowjetischen Außenpolitik. Als diese nicht mehr in der Diskussion war, hatte die Einfügung Ostdeutschlands in das eigene Gesellschaftsmodell ihre Logik für die Interessen der UdSSR. Und die ostdeutsche Bevölkerung hatte gesamtdeutsche Kriegsfolgekosten zu übernehmen. Diese reale ost-west-deutsche Nachkriegsgeschichte verträgt sich nicht mit der Legende, Diktatursucht und Willkür deutscher Kommunisten seien es gewesen, die zur Errichtung des »SED-Staates« und zu dessen Strukturen geführt hätten. Die Legende aber bringt Gewinner – auch im Geschichtsdiskurs – hervor. Sie entlastet von der Unbequemlichkeit, westdeutsche Vergangenheit »aufzuarbeiten«. Auch eine Art von Sparpolitik.
A. K.
Konflikte in vier Staaten
Jetzt hat sein Klassiker »Verlorene Prozesse« die notwendige Ergänzung bekommen. Friedrich Wolff, der nach dem Willen eines kleinkarierten Standesbeamten nicht den Vornamen Fritz bekommen durfte, wie er nach einem Bruder seiner Mutter eigentlich heißen sollte, hat endlich sein Leben in vier deutschen Staaten aufgeschrieben. Dem Autor ist ein sehr persönliches Buch gelungen, in dem die Zumutungen unterschiedlicher Staatsgewalten, aber auch die familiären Freuden und Leiden offenherzig geschildert werden. Es beginnt mit dem Vater, der als Jude seinen Beruf als Arzt nur noch eingeschränkt ausüben konnte und durch frühen Tod im Jahr 1935 vor Schlimmerem bewahrt blieb. Was Fritz Wolff, wie er unter Freunden nun doch heißt, aus Aufzeichnungen seines Vaters zitiert, kennzeichnet diesen als einen geistvollen, toleranten Mann, der sicher durch sein Vorbild dazu beigetragen hat, daß sein Sohn der hochgeachtete mutige Strafverteidiger in schwierigem politischen Umfeld geworden ist, als den man ihn in beiden deutschen Staaten kennenlernte. Auch der Mutter, die ihn, den als »Halbjuden« Gefährdeten, durch die Nazizeit begleitet hat, setzt er ein Denkmal. Und auch unter seinen Lehrern und Mitschülern gab es Menschen, die antifaschistisch eingestellt waren und ihm ohne den herrschenden Rassendünkel begegneten. Er konnte ihnen wohl besonders durch herausragende sportliche Leistungen imponieren.
Im Buch fehlt es nicht an humorvollen und treffsicheren Kommentaren zu Personen und ihren Taten. Ich habe in meinem Exemplar manchen Satz unterstrichen, der mir aus dem Herzen gesprochen ist. Wie zum Beispiel: »Für mich ist es ohnehin immer noch eine offene Frage, ob die Juristerei eine Wissenschaft ist.« Oder: »Es ärgert mich heute, wenn von den Opfern der DDR-Justiz gesprochen wird und die Opfer der westdeutschen Justiz keinerlei Erwähnung finden.« Und zu der nach dem 17. Juni 1953 von der Parteiführung veranlaßten Bildung von Kampfgruppen: »Ich war kein guter Soldat.« Die Uniform behagte Fritz Wolff gar nicht. Die Nazis hatten dem aus rassischen Gründen »Wehrunwürdigen« die Uniform und vielleicht den Heldentod erspart.
Fritz Wolff stand prominenten Kritikern der DDR-Realität nicht nur als Strafverteidiger zur Seite. Seiner Verbindung zu Rudolf Bahro ist zu verdanken, daß wir einen Essay kennenlernen, in dem dieser zu den prominentesten Opfern der politischen Justiz der DDR gehörende Honecker-Opponent die Legitimität der DDR und ihres Grenzregimes nachdrücklich verteidigte. Bahro hatte diesen Text im Juni 1992 an den Spiegel geschickt. Er blieb ungedruckt und wird nun in Wolffs Buch erstmalig veröffentlicht. Ein lesenswertes Dokument.
Der politische Mensch Fritz Wolff bleibt in seinem Buch auch dann sichtbar, wenn er mit großer Wärme über die Menschen schreibt, die sein privates Leben begleitet haben. Es gab Zeiten, in denen er glücklich war, aber immer wieder auch Konflikte mit den wechselnden Staatsgewalten, die man nicht ohne empörte Parteinahme lesen kann. Der Autor macht anschaulich, wie auch in seiner Familie gesicherte Arbeits- und Besitzverhältnisse durch die kapitalistische Machtergreifung zerschlagen wurden. Als Westbürger schämt man sich stellvertretend für politisch bornierte Abwickler und Ankläger, die den einst mit Krokodilstränen beweinten »Brüdern und Schwestern« von einem Tag zum anderen ein neues Rechtssystem aufzwangen, ihre Volkswirtschaft liquidierten, die Existenzen vieler Menschen vernichteten und sie bei Staatsnähe für kriminell erklärten. Aber das Rentnerdasein mit einer lieben Frau in einem schönen Haus am See läßt Fritz Wolff ruhig zurückblicken. Wenn er abschließend schreibt: »Ich bin zufrieden mit meinem Leben und setze weiter auf den Sozialismus«, dann bewundere ich diese Haltung eines Menschen, der nicht nur im forensischen Bereich so viele verlorene Prozesse erlebt hat.
Heinrich Hannover
Friedrich Wolff: »Ein Leben – Vier Mal Deutschland«, Weimar, NS-Zeit, DDR, BRD«, PapyRossa Verlag, 248 Seiten, 15 €
Walter Kaufmanns Lektüre
Wer sich daran stößt, daß einer vorgibt, links zu denken, dabei Porsche fährt, sich neben seinem Hamburger Domizil in Nizza und auf Sylt Ferienwohnungen leistet, er ein Dandy ist und zugleich mannigfaltiger Literat, ein Schwuler, der auch Frauen liebt, deren Zuneigung er zu genießen versteht, wer sich an all dem stößt, der schlage die Tagebücher des Fritz J. Raddatz gar nicht erst auf. Womit er sich, das sei gesagt, um eine weit gefächerte Lektüre sehr eigener Bekenntnisse brächte. Zwar würde ich nicht so weit wie Frank Schirrmacher gehen, der – laut Klappentext – vom »großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik« schreibt, doch gegen Elke Heidenreichs Worte »so klug und so komisch – aber auch so traurig und so gnadenlos bösartig« ist nichts einzuwenden. Klug – wer wird dem wortgewandten Intellektuellen FJR Klugheit absprechen; zwar weisen seine Tagebuchaufzeichnungen nicht viel Komisches auf, dafür eine Menge sarkastisch Bissiges; und was Traurigkeit angeht – bei allen Höhenflügen, all seinen Erfolgen ist FJR zugleich auch immer an erlittene Schmach erinnert, an Demütigungen, Neid und Undank. Gnadenlos bösartig zeigt er sich angesichts der krankhaften Geltungssucht eines Hans Mayer, der Kaltherzigkeit einer Gräfin Dönhoff, der Arroganz und des Geizes seines einstigen Chefs, dem reichen Verleger Bucerius, und anderswo auch.
In dem nahezu tausend Seiten starken Buch tut sich eine Welt von Malern auf, von Schriftstellern und reichen Frauen, die deren Nähe suchen, und er schreibt über sie alle spontan aus dem Augenblick heraus, bar jeder Vorsicht, ohne spätere Veröffentlichung im Sinn und so auch ohne Selbstzensur. Just darin liegt der Wert und der Reiz der Tagebücher, und daß im nachhinein nichts verschönt, nichts verfälscht worden ist. Von all seinen Bekenntnissen (und es gibt derer eine Menge) blieb in mir das über Jugendliebe und Altersliebe haften: »Wenn Liebe DAS ist«, schreibt der zu diesem Zeitpunkt nahezu siebzigjährige Fritz J. Raddatz, »... diese Raserei und gegen die Sterne bleckende Flamme: Dann ist’s bei mir lange her. Wenn aber Liebe das Gefühl von Beständigkeit ist, von Sich-aufeinander-Verlassen ... und von nicht mehr ohne den anderen leben wollen: Dann liebe ich Gerd. Das Streicheln nimmt ab, das Streicheln in Gedanken nimmt zu, es ist eine andere Zärtlichkeit, und ich weiß nicht, welche die
ehrlichere ist.«
Walter Kaufmann
Fritz J. Raddatz: »Tagebücher 1982–2001«, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 938 Seiten, 14,99 €
Gesäubertes Geschichtsbild
Steht es außer jedem Zweifel, daß der Doktortitel einer Wissenschaftsministerin sauber ist? Muß man darauf vertrauen, daß ein Historiker, der den berühmten Namen Mommsen trägt, immer redlich arbeitet und daß er als Mitglied der SPD niemals imstande wäre, die Nazis von der Schuld am Reichstagsbrand reinwaschen zu wollen?
Ossietzky hat in der Tradition der
Weltbühne immer darauf bestanden, die Lügen der Nazis abzuwehren, die zuerst die Kommunisten und dann, nachdem diese Lüge widerlegt war, den Holländer Marinus van der Lubbe als Alleintäter beschuldigten. Unzählige Indizien sprechen dafür, daß sich die Nazis mit dem Reichstagsbrand kurz nach der Einsetzung Adolf Hitlers ins Kanzleramt den Vorwand zur Terrorherrschaft verschaffen wollten. Wenige Stunden später gehörte Carl von Ossietzky zu den ersten Opfern. Er wurde bei Nacht festgenommen und in den folgenden Tagen und Wochen grausam mißhandelt.
Alexander Bahar und Wilfried Kugel (der darüber 2008 schon eine
Ossietzky-Serie geschrieben hat) verdienen Dank und Anerkennung für die Akribie, mit der sie an diesem Thema arbeiten. In ihrem Buch »Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation« zeigen sie, wie
Der Spiegel,
Die Welt und andere immer noch an den alten Lügen weiterstricken. Vermutlich werden die nationalistischen Kämpfer für ein gesäubertes Geschichtsbild eines Tages auch noch triumphierend herausfinden, daß 1939 polnische Kommunisten den Sender Gleiwitz zerstört haben. Und daß 1941 Stalin Hitler-Deutschland überfallen hat – so wie sich Deutschland 1999 einer Aggression der bösen Serben erwehren mußte.
Eckart Spoo
Alexander Bahar/Wilfried Kugel: »Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation«, PapyRossa Verlag, 360 Seiten, 17,90 €
Ein Stück unserer Jugend
Die kleine GBM-Galerie kann den Besucherstrom zur Eröffnung der Ausstellung »Jürgen Wittdorf. Zeugnisse aus sechs Jahrzehnten« kaum fassen. Gleich gegenüber dem Eingang hängen bekannte Holzschnitte; Erinnerungen werden wach. »Ein Stück unserer Jugend« hat der Laudator seine einleitenden Worte genannt. Der »Zyklus für die Jugend« zeigt junge Männer in Nietenhosen und Sambalatschen, mit der berühmten »Enten«-Frisur, Mädchen mit wippenden Petticoats und Pferdeschwanz. Eine Nachahmung des Westens war in den sechziger Jahren in der DDR nicht so gewünscht. Doch der Zyklus wurde sehr bekannt. Wem fallen da nicht die Holzschnitte »Noch kein Bartwuchs und schon Vater« oder »Junge Schweinezüchterin« ein? 1963 gab der Verlag Junge Welt diesen Zyklus als Mappe heraus. Oft hat der Künstler im Tierpark skizziert. Es entstand eine Folge »Tiere und Kinder«. Die Lithographie »Pavianwaise« rührt an. Ein kleiner Pavian klammert sich auf der Suche nach der Mutter an ein Häschen, das den Kleinen liebevoll gewähren läßt.
Jürgen Wittdorf, 1932 in Karlsruhe geboren, Student in Leipzig, Lehrer an der Volkshochschule und Zirkelleiter, Meisterschüler der Akademie der Künste der DDR bei Lea Grundig, ist in vielen Techniken zu Hause. Da sind neben den Holzschnitten Pastellkreiden zu sehen, Radierungen und Rötelzeichnungen ebenso wie kleine Keramiken. Seit 1999 hat er das Aquarell für sich entdeckt. Wittdorfs Arbeiten beweisen, daß Kunst von Können kommt. Verbunden mit einem menschlichen Anliegen, wird das für den Betrachter ein Glücksfall. Nicht zu vergessen sind die einfühlsamen Illustrationen zum Beispiel für die Kinderbücher »Die goldene Brücke. Märchen und Sagen aus dem Spreewald«, »Tiere im Zirkus« oder »Der Elefantentreiber«. Auch in den Schulbüchern des Verlages Volk und Wissen waren Wittdorfs Illustrationen zu bewundern. Expositionen im In- und Ausland machten den Künstler bekannt. Ein Besuch der Ausstellung lohnt sich.
Maria Michel
Bis 26. April, Weitlingstraße 89, Berlin, montags bis freitags von 10 bis 16 Uhr.
Wiedersehen mit Deborah
In seinem aufschlußreichen Lexikon »Schauspieler in der DDR« (Berlin 2009) berichtet Frank-Burkhard Habel: »Die Tochter der Schauspielerin Angela Brunner und des deutsch-australischen Schriftstellers Walter Kaufmann war schon als Kleinkind mit ihrer Mutter in ›Der Mann, der nach der Oma kam‹ zu sehen.« Das Drehbuch zu diesem Film (nach einer Erzählung von Renate Holland-Moritz) stammte von Maurycy Janowski, mir und dem Regisseur Roland Oehme. Nach Deborahs erfolgreichem Studium an der Staatlichen Schauspielschule spielte sie große Filmrollen und (neben ihrem Engagement am Berliner Ensemble) auch zahlreiche Fernsehrollen. Die Zeiten, da wir sie als Kleinkind auf den Armen der Mutti bewundern konnten, dürften ein für allemal vorüber sein.
Ein Wiedersehen mit Deborah Kaufmann hatten wir im Renaissance-Theater am 10. März bei der Premiere »Richtfest von Lutz Hübner, Mitarbeit: Sarah Nemitz« in der Regie von Torsten Fischer. Man sah ein seltsames Richtfest. Beziehungsweise man sah es nicht. Der »in Berlin beheimatete Lutz Hübner und seine Mitarbeiterin« wußten wohl nicht, daß ein Richtfest erst stattfindet, wenn vom neuen Haus der Rohbau und der Dachstuhl fertig sind. Auf der R.-T.-Bühne standen lediglich Plakatwände mit aufgeleinten Grundrissen, einige wackelnde Stühle sowie eine Handvoll Pullen mit Flensburger Pils sowie elf müde Darsteller auf der Szene.
»... auch für die Utopisten unter den Häuslebauern, die Eigenständigkeit gerade in der Gemeinschaft suchen ... Da sie einander zuvor bestenfalls flüchtig kannten«, haben diese Menschen »eine Alternative zu herkömmlichen Lebensentwürfen zu finden und zu realisieren.«
Unter den von Fischer bemühten Lebens-Entwerfern bewunderten wir die Anstrengungen von Peri Baumeister, Kerstin Schweers, Gitta Schweighöfer, Kristin Suckow, Rasmus Borkowski, Markus Gertken, Philipp A. Heitmann, László I. Kish, Ralph Morgenstern, Dimosthenis Papadopoulos. Und als glänzendes Spotlight in Attraktivität der Figur, Haltung und überzeugender Wirkung der Sprachkunst: Deborah Kaufmann.
Lothar Kusche
Zuschrift an die Lokalpresse
Liebe
Süddeutsche Zeitung, in Ihrer Ausgabe vom 27. März informierten Sie über die neue Straßenverkehrsordnung. Dafür danke ich Ihnen, und mein Erwin auch. Wie alle Kraftfahrer und -innen, Radfahrer und -innen und Fußgänger und -innen, kurzum alle Verkehrsteilnehmer und -innen, wissen, traten in der Nacht zum 1. April neue Verkehrsbestimmungen in Kraft. Die bisherige Diskriminierung von Frauen im Verkehr wird abgeschafft, indem bei der Formulierung der veränderten Regelungen die Geschlechtsspezifik außen vor bleibt. So heißt es jetzt geschlechtsneutral »Wer ein Fahrzeug führt« oder »Wer zu Fuß geht« oder »Fahrende von Rollstühlen«. Der gesamte Verkehr in der Bundesrepublik findet seit April behördlich ohne Geschlechtsmerkmale statt. Dennoch ist, wie die Journalistin Daniela Kuhr feststellte, die Regelung nicht konsequent zu Ende gedacht worden. So heißt es im § 36: »Die Zeichen und Weisungen der Polizeibeamten sind zu befolgen.« Gilt das nun auch für Weisungen von Beamtinnen? Oder haben sie nur das Recht, weibliche Verkehrsteilnehmer zur Rechenschaft zu ziehen? Vielleicht wird das vom Gesetzgeber beziehungsweise von der Gesetzgeberin durch Ausführungsbestimmungen noch länderspezifisch geregelt? Ich bitte um Aufklärung, da meine Kinder in unterschiedlichen Regionen leben, und wenn ich und mein Erwin sie besuchen, wollen wir doch nichts falsch machen! – Irmelin Pustekuchen (57), Verwaltungsangestellte, 09577 Lichtenwalde
Wolfgang Helfritsch