In einem Brief an General Leopold von Gerlach gesteht Bismarck am 11. Mai 1857, er, der Briefschreiber, und sein Freundeskreis seien von Gegnern wegen ihrer politischen Haltung verhöhnt worden, erst wegen »verräterischer Hinneigung zu Östreich«, sie wären »die Wiener in Berlin«; »später fand man, daß wir nach Juchten rochen, und nannte uns Spreekosaken«. (Juchten: einst nur in Rußland hergestelltes Leder, mit dem Geruch von Birkenteeröl.) Beide Vorwürfe seien aber gegenstandslos: »Ich habe damals auf die Frage, ob ich russisch oder westmächtlich sei, stets geantwortet, ich bin preußisch, und mein Ideal für auswärtige Politiker ist die Vorurteilsfreiheit, die Unabhängigkeit der Entschließung von den Eindrücken der Abneigung oder der Vorliebe für fremde Staaten und deren Regenten.«
Jemand, der mit Äußerungen wie diesen des Memoirenschreibers Bismarck vertraut ist, muß sich gegenwärtig höchst befremdet fühlen bei der Wahrnehmung aktueller Aussagen deutscher Politikerinnen, Politiker und Medien über Rußland, die russische Politik und russische Staatsmänner, vor allem Putin. Gerede, zumindest unbedacht und verständnislos, allzu oft vorurteilsvoll und aggressiv, immer einmal kriegstreiberisch und skrupellos verhetzend. Summa summarum zeigt sich eine zunehmende Rußlandfeindlichkeit, die geeignet ist, die – ohnehin sensiblen – deutsch-russischen Beziehungen aufs empfindlichste zu gefährden, und die offenbart, daß die Geschichte des Verhältnisses der Nachbarn Deutschland und Rußland entweder nicht zur Kenntnis genommen wurde oder, falls doch, daß die Lehren daraus leichtfertig oder verächtlich beiseite gekehrt werden. Damit verstoßen die Journalisten und Amtsträger diametral gegen ihre beruflichen Verpflichtungen beziehungsweise Eide, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.
Die Vorurteilsfreiheit, die Bismarck anmahnte, hinderte ihn keinesfalls, bei seiner politischen Tätigkeit das Hereinspielen von Emotionen zuzulassen, und emotionslos zu agieren war ihm nicht gegeben; aber Vorurteile und Emotionen liegen auf zwei verschiedenen Brettern. Der Verfasser der »Gedanken und Erinnerungen« arbeitete in seiner Autobiographie bei Besprechung russischer Themen durchaus mit Begriffen, die auf emotionale Motive deuten, darunter auf Kategorien wie Nähe und Dankbarkeit. Man liest, daß er nach Antritt seines Ministeramts sich zwar zunächst mehr der Innenpolitik zuzuwenden hatte, doch soweit die Außenpolitik seine Aufmerksamkeit erforderte, ihm »die Beziehungen zu Rußland dank meiner jüngsten Vergangenheit besonders nahe« lagen. Ernst Engelberg resümiert in seiner Bismarck-Biographie: »… die preußisch-russische Freundschaft setzte sich durch und kam nach dem Machtantritt Bismarcks in Berlin erst richtig zur Wirkung.« König Ludwig II. von Bayern hob 1877 lobend hervor: »Das Vertraun Rußlands auf die Zuverlässigkeit unsrer nachbarlichen Politik hat ersichtlich zugenommen …« Des Memoirenschreibers Bismarck Blick ging bis zum Zeitalter Napoleons zurück: »Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne Zweifel einen Anspruch auf preußische Dankbarkeit erworben …«, und er wußte von der langen, in seiner Jugend anhaltenden »Popularität« zu berichten, »mit der 1813 die ersten Kosaken bei uns empfangen worden waren«.
Anlaß zur Dankbarkeit auf preußischer Seite: 1812 schuf Rußland unter dem Feldherrn Kutusow – dessen Denkmal die ukrainischen »Rebellen«, wie kürzlich im Fernsehen veranschaulicht, gerade eben gestürzt haben – mit der Vernichtung der riesigen Invasionsarmee (knapp 600.000 Mann) des Franzosenkaisers die Voraussetzung, um auch das Deutsche Reich von der französischen Besatzung zu befreien. – Und auf russischer Seite: Während des Krimkriegs (1853–1856) hatte Preußen, anders als die Westmächte und Österreich, dem bedrängten russischen Reich gegenüber wohlwollende Neutralität bewahrt, so daß Bismarck später am preußischen Hofe bei Entwicklung seines politischen Programms darlegen konnte: »Wir hätten dort aus dem Krimkriege und den polnischen Verwicklungen her einen Saldo …«
Weitere Anlässe:
Der politische und militärische Erfolg des Reichskanzlers bei Verwirklichung seiner »Revolution von oben« kraft der drei »Einigungskriege« 1864/1866/1870 wäre ohne die freundschaftliche Beziehung Preußens zum zaristischen Rußland unsicher gewesen.
Während des Zweiten Weltkriegs waren es die militärischen Bemühungen der Sowjetunion an »der entscheidenden Front« (wie der Titel einer Reihe von TV-Dokumentationen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts lautete), ohne die der »Tag der Befreiung« (8. Mai 1945) kaum denkbar gewesen wäre, ebenso wenig wie schon die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Januar desselben Jahres.
Die Vereinigung der Stücke aus dem Erbe des Deutschen Reichs und die Abrundung Deutschlands im jetzigen Umfang hätten nicht gelingen können ohne Begünstigung durch die Sowjetunion, dann Rußland.