Die neue Große Koalition ist fest entschlossen, die Bundeswehr zukünftig häufiger in den Krieg zu schicken. Ein wichtiges Mittel gegen die intensiven Bemühungen, dies der Bevölkerung schmackhaft zu machen, ist, die verheerenden Folgen der letzten Kriege einer breiten Öffentlichkeit in ihrem ganzen Ausmaß vor Augen zu führen.
Wenn Bundespräsident Gauck und diverse Minister die angebliche »deutsche Zurückhaltung« geißeln, so können sie damit nur das Nein zum Libyen-Krieg meinen, der sich am 19. März zum dritten Mal jährte. Die NATO führte ihre Bombenkampagne gegen das ölreiche Land offiziell allein zum »Schutze der Zivilbevölkerung«. Die Angaben, wie viele Libyer und Libyerinnen diesen »Schutz« nicht überlebten, schwanken von 10.000 bis 50.000. Angesichts von 9.700 Angriffsflügen, rund 30.000 abgeworfenen Bomben und einem halben Jahr heftiger Bodenkämpfe dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher liegen. Obwohl der Krieg vom UN-Sicherheitsrat legitimiert und im Westen gern als Anwendung des neuen Konzepts der Schutzverantwortung »Responsibility to Protect« gewertet wurde, unterließen es die Vereinten Nationen seine Folgen genauer zu untersuchen.
Auch im gleichfalls unter UN-Mandat laufenden Afghanistankrieg wurde bisher keine ernsthafte Untersuchung über die Zahl der Opfer durchgeführt. Summiert man die Angaben der UN-Mission in Afghanistan, so liegt die Zahl der Ziviltoten für die bisherigen zwölf Jahre Krieg unter 20.000 – weit weniger als beispielsweise pro Kopf und Jahr in US-Großstädten wie Detroit oder Baltimore Gewalttaten zum Opfer fallen.
Der Krieg gegen den Irak, dessen Beginn sich am 20. März zum elften Mal jährte, stand länger im Fokus der Öffentlichkeit, und eine Reihe von Initiativen bemühte sich, die Zahl seiner Opfer zu erfassen. Repräsentative Umfragen, die Wissenschaftler auf eigene Initiative im besetzten Land durchführten, ergaben, daß bereits Mitte 2006 mehrere Hunderttausend Iraker dem Krieg zum Opfer gefallen waren. Obwohl nach denselben Methoden wie zum Beispiel in der sudanesischen Provinz Darfur durchgeführt, wo die Ergebnisse Basis von UN-Resolutionen gegen den Sudan wurden, wurden ihre Forschungsergebnisse in den westlichen Medien sofort als unglaubwürdig abgetan. Mit durchschlagendem Erfolg: In den Bilanzen zum zehnten Jahrestag des Krieges wurde die Zahl der Kriegstoten auf höchstens 110.000 beziffert. Laut Umfragen geht die Mehrheit der US-Amerikaner und Briten sogar davon aus, daß der Krieg ihres Landes höchstens 10.000 Menschenleben gekostet habe.
Um dem Ignorieren und Verharmlosen der Folgen der von westlichen Staaten geführten Kriege etwas entgegenzusetzen, initiierte die deutsche Sektion der IPPNW eine Studie über die Opferzahlen im sogenannten Krieg gegen den Terror. Sie wurde von Lühr Henken, Knut Mellenthin und mir verfaßt, 2012 als Broschüre veröffentlicht und letztes Jahr noch einmal aktualisiert. Sie zeigt, daß der Krieg in Afghanistan mit Sicherheit mehr als 100.000 Menschen tötete, und belegt, daß die Ergebnisse der auf Umfragen vor Ort beruhenden Mortalitätsstudien durchaus realistisch sind. Im Irak liegt die Zahl der bisherigen Opfer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Million.
Die von den Medien meist angegebene Zahl beruht auf der Arbeit des britischen »Iraq Body Count« (IBC). Dieses Projekt versucht die Zahl der Ziviltoten zu bestimmen, indem es alle Fälle, die in renommierten englischsprachigen Medien gemeldet oder anderweitig registriert wurden, sammelt. Bis 2013 wurden so rund 110.000 zivile Opfer erfaßt.
Die statistischen Erhebungen, die 2004 und 2006 in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurden, sowie die des britischen Meinungsforschungsinstituts »Opinion Research Business« (ORB) legten hingegen nahe, daß bereits 2007 eine Million Iraker Krieg und Besatzung zum Opfer gefallen waren. Obwohl renommierte Fachleute auf diesem Gebiet ihnen bescheinigten, nach gängigem wissenschaftlichen Standard verfahren zu sein, reichte vielen Medien allein die große Diskrepanz zwischen der Zahl der beobachteten und der durch Hochrechnung ermittelten Toten aus, um die Ergebnisse der Studien als spekulativ und völlig übertrieben abzutun.
Ein wesentlicher Grund für diese Diskrepanz liegt schon in der Zählweise. Indem sie die Sterblichkeit vor und nach Kriegsbeginn vergleichen, versuchen Mortalitätsstudien die Gesamtzahl der Menschen zu erfassen, die infolge eines Krieges starben. Initiativen wie IBC hingegen zählen als Kriegsopfer nur Zivilisten, die durch unmittelbar kriegsbedingte Gewalt getötet wurden. Damit fallen nicht nur Kombattanten aus der Statistik, sondern auch alle, die an indirekten Kriegsfolgen, wie mangelnder Gesundheitsversorgung starben. Dies sind jedoch oft mehr, als direkt getötet werden. Ohne genaue Untersuchungen vor Ort, läßt sich zudem weder der Status eines Toten noch die Todesursache zuverlässig feststellen. Die Opfer der NATO-Truppen zum Beispiel werden in deren Pressemitteilungen, auf die sich wiederum die Meldungen westlicher Medien meist stützen, in der Regel alle zu Kombattanten.
In Kriegszeiten kann nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Opfer durch passive Beobachtung erfaßt werden. Mit Stichproben in der über Internet zugänglichen Datenbank des IBCs belegen wir dies in der IPPNW-Broschüre auch für den Irak. Selbst wochenlange Offensiven der US-Armee, mit massiven Luft- und Artillerieangriffen auf ganze Stadtviertel, hinterließen in der Datenbank oft nicht die geringste Spur, häufig fand sich auch in den Fällen, in denen glaubwürdige Berichte einheimischer Zeugen über Dutzende Tote vorliegen, kein Eintrag.
Im Oktober 2013 wurden im Fachjournal PLOS Medicine die Ergebnisse einer neuen Mortalitätsstudie veröffentlicht, die durch ein wesentlich konservativeres Vorgehen möglichen Kritiker von Anfang an den Wind aus den Segeln nehmen will. Ihre Autoren schätzen die Zahl der Todesfälle im Irak, die bis Juli 2011 direkt oder indirekt auf den Krieg und die Besatzung zurückzuführen sind, auf eine halbe Million. Trotz der Diskrepanz zu den Schätzungen der oben genannten früheren Studien, stützt sie sie mehr als daß sie sie widerlegt.
Zum einen liegt ihre Hochrechnung um ein Mehrfaches über der Zahl, die Medien üblicherweise vermelden. Entsprechend gering war deren Echo. Zum anderen halten die beteiligten Wissenschaftler selbst ihr Ergebnis für eine Unterschätzung. Ein Problem ist die lange Zeit, die seit den Hochzeiten des Krieges vergangen ist, ein noch gravierenderes, die mehr als drei Millionen Flüchtlinge, die in die Studie nicht adäquat einbezogen werden konnten – und damit gerade die Familien, die besonders stark vom Krieg betroffen waren. Auch Familien, die vollständig ausgelöscht sind oder sich nach dem Tod mehrerer Mitglieder aufgelöst haben, fielen aus der Statistik. Wären die Toten von zwanzig solcher Familien – das entspricht einem Prozent der befragten Familien – mit eingeflossen, so hätte das Ergebnis leicht um 50 Prozent höher ausfallen können.
Die neue Studie bestätigt die Notwendigkeit statistischer Erhebungen. Auch wenn sie mit erheblichen Ungenauigkeiten behaftet sind, können nur durch Umfragen vor Ort die Größenordnungen der Opferzahlen realistisch geschätzt werden. Nur so können zudem auch Informationen über die Täter ermittelt werden. Da in den Medien vor allem über die Bomben- und Selbstmordanschläge auf zivile Ziele berichtet wird, erscheinen diese zum Beispiel in Statistiken, die auf gemeldeten Fällen beruhen, als hauptsächliche Todesursache. Frühere Umfragen wie auch die neue stimmen hingegen überein, daß weit mehr Menschen durch Kleinfeuerwaffen, Luft- und Artillerieangriffe getötet wurden. Allein die Luftangriffe der Besatzungstruppen werden für ein Siebtel aller Kriegstoten verantwortlich gemacht.
Man kann selbstverständlich die Erkenntnisse aus dem Irak nicht eins zu eins auf den Krieg in Afghanistan übertragen. Sie legen jedoch nahe, daß auch hier die Gesamtzahl der Opfer ein Vielfaches über der gemeldeten Zahl liegt und vermutlich 200.000 übersteigt – eine vernichtende Bilanz für einen NATO-Einsatz, der als »Internationale Sicherheits- und Unterstützungstruppe« firmiert.
Eine genauere Schätzung kann auch hier nur eine statistische Erhebung bringen. Friedens- und Menschrechtsgruppen sollten daher verstärkt von der UNO und der eigenen Regierung die Durchführung solcher Untersuchungen fordern – in Afghanistan, in Libyen und an allen anderen Orten, wo die Bundeswehr und ihre Verbündeten im Einsatz sind.
»Body Count – Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror«, IPPNW, als PDF-Dokument zu finden unter dem Menüpunkt »Frieden« auf: www.ippnw.de. Weitere Infos auf dem Blog des Autors: http://jghd.twoday.net/