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Titel814

Gestohlene Jugend (1)  (Heinrich Hannover)

Mein Vater hat das Datum sorgfältig weiß auf schwarz im Album notiert, es war der 16. August 1931, an dem jenes Familienfoto entstand, das in meinem Arbeitszimmer an der Wand hängt und mich täglich an eine von Hitler-Jugend und Schule noch unbeschwerte Kindheit erinnert. Im besonnten Garten meines Elternhauses im damals noch nicht vom Krieg zerstörten pommerschen Anklam sitzen wir auf Gartenmöbeln um einen Tisch, mein Vater, der den Selbstauslöser des Fotoapparats betätigt hatte, erhöht auf der Lehne der Bank neben meiner Mutter sitzend, die Großeltern Bley, zu Besuch aus Festenberg in Schlesien angereist, und ich, der Fünfjährige, an die Großmutter Hannover aus Güstrow gekuschelt, die seit 1928 verwitwet und häufig in unserem Hause zu Gast war.

Da ist ein Augenblick festgehalten, in dem für mich die Welt noch heil war. Und es war auch tatsächlich das Furchtbare noch nicht geschehen, das danach kommen sollte. Daß es sich längst angebahnt hatte und daß schon viel Furchtbares geschehen war, wußte ich nicht, die einzigen Feinde, von denen man mir erzählt und vor denen ich Angst hatte, waren die Kommunisten. Aber auch vor denen glaubte ich sicher zu sein, wenn abends die hölzernen Rollos vor den Fenstern zur Straße heruntergelassen wurden und tagsüber der Garten durch Mauern und die Ziegelwände der Nachbarhäuser geschützt war. Und wie sollten sie in mein im Obergeschoß des Hauses gelegenes Zimmer kommen.

Aber wie sich zeigen sollte, traute ich ihnen auch das zu. Einmal wachte ich nachts auf und glaubte, an den Wänden meines Zimmers Plakate zu sehen. Ich rannte schreiend ins Schlafzimmer meiner Eltern und rief: »Die Kommunisten haben mein ganzes Zimmer voll Plakate geklebt.« Mein Vater stand auf, nahm mich an die Hand und kam mit in mein Zimmer. Als er Licht machte, erkannte ich, daß die vermeintlichen Plakate vom Licht der Straßenlaternen erzeugt worden waren.

Wie stark die mir anerzogene Angst vor Kommunisten gewesen sein muß, belegt noch eine weitere Kindheitserinnerung, die auch etwa aus der Zeit stammen muß, in der das friedliche Familienfoto im Garten entstanden ist. Meine Mutter zeigte mir vom Fenster meines Zimmers aus einen Mann, der auf der anderen Straßenseite stand und den Vorbeigehenden Zeitungen, nämlich das Anklamer Kommunistenblättchen Der Pulverturm, zum Kauf anbot, das nach einem mittelalterlichen Anklamer Bauwerk benannt war, aber der Name sollte selbstverständlich doppelsinnig verstanden werden. »Das ist Tiegs, der Anklamer Kommunistenführer«, sagte meine Mutter. Da kam bei mir Angst auf, und ich erinnere mich sehr deutlich, wie ich dachte: »Gottseidank, daß unser Haus feste Türen hat.« Inzwischen weiß ich, daß Tiegs Sohn eines Arztes und selbst promovierter, wegen seiner KPD-Mitgliedschaft arbeitsloser Jurist war, der damals schon todkrank gewesen sein muß, denn er ist bald darauf an Lungentuberkulose gestorben. Es muß ihm sehr wichtig gewesen sein, seine Zeitgenossen zu warnen, was sie von den Nazis zu erwarten hatten. Sicher hat auch in dem von ihm vertriebenen Blatt die zukunftsträchtige Wahrheit gestanden »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg«, die ich später als Strafverteidiger in Kommunistenprozessen auf alten, in den Akten überlieferten kommunistischen Flugblättern fand.

Meine Angst vor Kommunisten erledigte sich durch Hitlers sogenannte Machtergreifung, denn auch wir Kinder erfuhren, daß Kommunisten nunmehr eingesperrt wurden. Daß sie auch zu Tausenden ermordet wurden, erfuhren wir nicht. Ich war 1932 eingeschult worden und erlebte die mit Hitlers »Macht-ergreifung« am 30. Januar 1933 beginnende »neue Zeit« in einer Umgebung, die uns die Herrschaft der Nazis als segensreich erscheinen lassen sollte. Wir lernten in der Schule das Lied »Ich bin Adolf Hitlers kleiner Soldat« und konnten auch der Schülerzeitung Hilf mit entnehmen, wer die Guten und wer die Bösen waren. Tief berührt war ich durch Buch und Film über den Hitlerjungen Quex, der sich gegen seinen kommunistischen Vater durchsetzte, in die Hitler-Jugend eintrat und von einem Kommunisten erschossen wurde. Der Hitlerjunge Quex war ein Vorbild für unreife Kinder, die aus einem Lied von Baldur von Schirach die Parole kannten, daß die Fahne mehr als der Tod sei.

Auch die in der Volksschule (der heutigen Grundschule) herrschende Prügelpädagogik, die damals in vielen Familien als selbstverständliches Erziehungsprinzip galt, also eigentlich nicht neu war, paßte zum Gewaltcharakter des Systems. Die Prügelstrafen in den vier Volksschuljahren habe ich in finsterer Erinnerung, obwohl ich selbst davon verschont blieb. Aber es gab Klassenkameraden, an denen bestimmte Lehrer immer wieder aus nichtigen Gründen ihre sadistischen Bedürfnisse austobten. Wer Eugen Kogons Buch »Der SS-Staat« oder andere KZ-Literatur gelesen hat, weiß, wie sich der in der Schule gelernte Sadismus in Brutalitäten gegen wehrlose Gefangene fortgesetzt hat.

Auf dem Gymnasium hatten wir einen Klassenlehrer, der Kreispropagandaleiter der NSDAP war und seine Auffassungen im Unterricht und in seinen Aufsatzthemen unterzubringen wußte. Wenn er uns zum Beispiel das Aufsatzthema »Der Führer spricht« stellte, erwartete er Lobeshymnen auf einen Führer, der inzwischen als größter Kriegsverbrecher aller Zeiten in die Geschichte eingegangen ist. Aber es gab auch Lehrer, an die ich mit großer Hochachtung zurückdenke (s. Ossietzky 22/13).
Daß mir seit Beginn des »Dritten Reiches« die Jugend gestohlen wurde, war mir, dem in einem deutschnational eingestellten Elternhaus Aufgewachsenen, nicht sogleich bewußt. Auch Gespräche und Erlebnisse mit Freunden hatten zu dem Irrtum beigetragen, daß die Nazis eine gute Sache vertraten. Die Uniform der Hitler-Jugend mit Braunhemd und Fahrtenmesser hatte denn auch schon für den Achtjährigen große Attraktivität, und so folgte ich dem Beispiel meines gleichaltrigen Freundes Uwe, dessen Vater Sturmbannführer in der SA war, und wurde Mitglied des Deutschen Jungvolks, der Kinderorganisation der Hitler-Jugend. Die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Ein System von Befehl und Gehorsam, Marschieren und Exerzieren war nicht meine Sache.

In der Folgezeit drückte ich mich so oft wie möglich vor dem sogenannten Dienst und wurde nie über den Rang eines »Rottenführers« hinaus befördert (eine Rotte bildeten die drei Jungen, die im Glied hintereinander standen). Ich hatte auch nie den Ehrgeiz, mehr zu werden. Als ich zwangsläufig in die Hitler-Jugend (HJ), die Organisation der Vierzehn- bis Achtzehnjährigen übernommen wurde, wählte ich die Motor-HJ, was immerhin die Attraktion bot, ab und zu das Motorradfahren üben zu können. Aber ansonsten war ich auch hier ungenügend eifrig und blieb rangloses, meistens fehlendes Mitglied.

Die Bemühungen der HJ, des Reichsarbeitsdienstes und der Wehrmacht, aus mir einen dressierten Totschläger zu machen, waren vergeblich. Die kriegerischen Zielsetzungen dieser Organisationen und meine individuellen Interessen waren so gegensätzlich, daß es wohl nur ein Irrtum meiner Vorgesetzten sein konnte, aus mir gegen Ende des Krieges noch einen Unteroffizier zu machen.

Meine Welt waren Musik, Malerei und Literatur, die mich frühzeitig zu eigener Kreativität anregten. Da entstand eine Fülle von Zeichnungen und Aquarellen, von Geschichten, Gedichten, kindlich unfertigen Romanen und Operntexten und kleinen am Klavier erfundenen Kompositionen, und es entwickelte sich eine Liebe zur klassischen Musik, die meine Mutter einmal zu der Äußerung veranlaßte: »Deine Frau wird dich eines Tages fragen: Wen liebst du eigentlich mehr, mich oder Mozart?« Eine Liebe, die mit der »Kleinen Nachtmusik« aus Vaters Plattenschrank begann und sich bis heute erhalten und weiterentwickelt hat. Gern hätte ich in Mozarts Zeit gelebt und wäre einer der Zuhörer bei der Uraufführung des »Don Giovanni« in Prag gewesen. Ich hätte gern mitgejubelt. Und ich hätte Mozart bessere Ärzte gewünscht. Noch heute werde ich traurig bei dem Gedanken, wie viele Noten unkomponiert geblieben sind.

Meine Eltern waren besorgt, ob ich dem Dienst in der HJ nicht mit genügendem Eifer nachkam. »Junge, das ist deine Zukunft«, sagte mein Vater, der seinerseits gleich zu Beginn der Nazizeit in die NSDAP und, dem Beispiel vieler Arztkollegen folgend, in die SS eingetreten war, die damals im Vergleich zur SA als die edlere Organisation galt. Er war kein fanatischer Nazi und ließ oft eine ironische Distanz zu Hitlers Anhängern erkennen, hielt es aber wohl für opportun, sich anzupassen – vielleicht nicht zuletzt im Blick auf die Zukunft seines Sohnes.

Daß sein Opportunismus nicht nur ihm und seiner Familie, sondern auch anderen Menschen genützt hat, habe ich oft genug erlebt. Nur ein Beispiel: Als der Ehemann unserer langjährigen Putzfrau in den Verdacht geriet, an einer Aktion kommunistischer Arbeiter in der Anklamer Zuckerfabrik mitgewirkt zu haben, die einem Hitlerbild die Augen ausgestochen hatten, setzte sich mein Vater erfolgreich dafür ein, daß der Mann weder bestraft noch ins Konzentrationslager eingeliefert wurde. Da zahlte sich nicht nur das große Ansehen aus, das mein Vater wegen seiner beruflichen Fähigkeit genoß, sondern sicher auch sein Rückhalt in Partei und SS. Und für mich ist es eines der Indizien dafür, daß mein Vater seine politische Unabhängigkeit und Menschlichkeit trotz formaler Mitgliedschaft in Naziorganisationen bewahrt hatte. Aber er ließ sich täuschen, daß die Nazis Sozialisten seien und daß ihnen die Zukunft gehöre. Hitlers Buch »Mein Kampf«, in dem der Krieg und die Eroberung von sogenanntem Lebensraum im Osten angekündigt war, hat er nicht gelesen. Daß die seit Generationen üblichen Torheiten wie Antikommunismus und Antisemitismus in Massenmord enden könnten, hat er sicher nicht für möglich gehalten.

Und wir Jungen wußten es auch nicht besser und folgten verehrten Vorbildern. Auch ich sah kein Problem darin, alle Bedingungen für den von mir damals angestrebten Forstberuf zu erfüllen, zu denen auch die Mitgliedschaft in der NSDAP gehörte. Ich habe erlebt, daß ein Staatsanwalt mir als Strafverteidiger das Recht absprechen wollte, gegen einen an faschistischen Massenmorden beteiligten medizinischen Sachverständigen einen Ablehnungsantrag zu stellen; Begründung: Ich sei ja als 17jähriger selbst ein Nazi gewesen. Später bedauerte ich das Versäumnis, diese Unverschämtheit mit Ohrfeigen zu beantworten.

Fortsetzung folgt.