Angriffsministerin
»Mehr Präsenz der NATO« in Osteuropa fordert »die Dame aus Hannover«, wie der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sie nannte. Neulich schon hatte die Bundesministerin »für Verteidigung« eine Ausweitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr verlangt. Um eine »Expansion« handele es sich nicht, sagt sie, wenn das nordatlantische Militärbündnis noch weiter nach Osten vordringe; der »westliche Wertekanon« breite sich eben ganz natürlich aus. Wie er dies, das erwähnte Ursula von der Leyen nicht, ja schon vom Hindukusch bis in die libysche Wüste getan hat.
Bemerkenswert ist, wie die fürs Militär zuständige Ministerin in der Außenpolitik ihrer Kanzlerin und dem Kollegen Steinmeier den Rang abzulaufen sucht, durch forsche Auftritte.
M. W.
Umgang mit Oligarchen
In NATO-Ländern sperren die Regierungen einigen Großvermögenden aus der Ukraine und aus Rußland Konten. Das trifft solche Eigentümer, die der westlichen Ostpolitik im Wege stehen, allerdings ist die Auswahl dabei eher zufällig. Und es soll der Eindruck vermieden werden, ein Transfer oligarchischen Kapitals aus diesen Ländern in Richtung EU oder USA sei dort nicht willkommen, denn das Transfervolumen ist immens – allein aus Rußland sind laut Goldman Sachs seit Beginn dieses Jahres etwa 50 Milliarden Dollar westwärts gewandert. Besonders beliebt ist dabei als Ziel der Finanzstandort London. Manchmal siedeln sich auch die schwerreichen Geldinhaber gleich dort an. Dieses Kapital, aus dem Zugriff auf Gas und Öl privatkapitalistisch angeeignet, ist so den Möglichkeiten produktiver Investitionen im Ursprungsland entzogen, im Westen sind an der Börse höhere Renditen zu erzielen. Der russische Präsident, in den Medien hierzulande ständig als »Diktator« dargestellt, hat nur wenig Möglichkeiten, gegen solche räuberischen »Fluchten« anzugehen. Und so haben östliche Oli-garchen ihren Nutzen – für die westliche Finanzwelt.
P. S.
Die Guardia Civil feiert
Am 23. Februar 1981 stürmte der Oberstleutnant der Guardia Civil Antonio Tejero Molina mit einer Pistole das spanische Parlament. Sechzehn Stunden hielt der Putschist mit Getreuen der Guardia Civil die Abgeordneten als Geiseln. Tejero wurde zu dreißig Jahren Haft verurteilt und verbüßte davon die Hälfte der Strafe. Heute lebt er zurückgezogen in Madrid und Málaga.
Am 23. Februar 2014 veranstaltete sein Sohn Antonio Tejero Díez – auch er ist Oberstleutnant der Guardia Civil – zu Ehren seines Vaters und des 23-F-Putsches ein Paella-Essen. Auch Mitverschwörer von damals erschienen. Man traf sich nicht in einem Restaurant, sondern in der Kantine, in der Tejero Jr. das Kommando hat. Serviert wurde von seinen Untergebenen.
Als nach einem Monat das »Ehren-Essen« bekannt wurde, verfügte der spanische Innenminister Jorge Fernández Díaz die sofortige Entlassung des Tejero-Sohnes. Er habe versäumt, seine Vorgesetzten um Erlaubnis für die Veranstaltung zu bitten. Der beteuerte, das Essen sei eine Veranstaltung unter Freunden gewesen und keine Hommage auf seinen Vater.
Mit einer Ausnahme gingen alle Tejero-Söhne zur Guardia Civil. Ramón Tejero wurde Priester und übt Solidarität mit seinem abgesetzten Bruder. »Es ist eine Schande«, so der katholische Geistliche, »daß man heute ETA-Terroristen auf der Straße applaudiert und Personen, die verurteilt wurden und ihre Strafe abgesessen haben, nicht einmal privat miteinander essen läßt.«
Karl-H. Walloch
Der Kunde ist der Markt
Unlängst hat sich
Facebook, das weltgrößte soziale Netzwerk mit mehr als 1,2 Milliarden Nutzern, den Kurzmitteilungsdienst
WhatsApp für 19 Milliarden Dollar einverleibt. Sicher ist schon jetzt, daß derlei Zukäufe zu surreal anmutenden Kaufsummen keine Einzelfälle bleiben werden. Worin besteht der Wert von Cyberspace-Firmen mit gerade einmal 50 Mitarbeitern wie im Fall von
WhatsApp, deren Geschäftsmodell auf nichts als Bits & Bytes basiert ist?
Der US-amerikanische Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin hat in seinem im Jahre 2000 erschienenen Buch »Access. Das Verschwinden des Eigentums« eine Antwort auf die Frage nach dem »Wert des Immateriellen« gegeben. Rifkin beschreibt eine Transformation kapitalistischer Verwertung im digitalen Zeitalter, die in ihrer Dimension und Tiefe derjenigen in nichts nachsteht, die Karl Polanyi für den Übergang vom Feudalismus zur industriellen Produktion analysiert hat. An die Stelle des Eigentums an Sachkapital, so Rifkin, trete in der beschleunigt sich durchsetzenden vernetzten Wirtschaft »geistiges Kapital«: Konzepte, Ideen und Vorstellungen. Die profitbringende Verwertung des Zugangs (»Access«) zu ihnen sei die »treibende Kraft« des neuen Kapitalismus.
WhatsApp liegt ganz auf der Linie des neuen Typs von Dienstleistungsunternehmen. Rifkin beschreibt das Modell am Beispiel der Marketingfirma Medco, die sich eine Monopolstellung bei der Kontrolle über Konsumenten pharmazeutischer Produkte erworben hat: »Praktisch ohne Eigentum liegt das Hauptvermögen im Zugang zu Konsumenten und der Fähigkeit, langfristige kommerzielle Beziehungen zu Endverbrauchern aufzubauen. Dies reicht als Erfolgsfaktor vollkommen in einer Wirtschaft der Netzwerke, in der die Marketingperspektive Vorrang vor der Produktion hat.«
Ziel der Strategie des »Lifetime Value« ist die lebenslange kommerzielle Ausbeutung auch noch der intimsten Gedanken, denn: »Der Kunde ist der Markt.« Wer die Herrschaft über den Zugang zu den Wünschen, Erlebnissen, sogar den Gendaten der Konsumenten hält, wird gegen konkurrierende Anbieter künftig im Vorteil sein. Von daher rühren die überragende Bedeutung digital gespeicherter Kundendaten und deren vielfältige Verknüpfung. Eine neue Stufe kapitalistischer Ökonomie ist erreicht, mit der Tendenz: Individuelle Beziehungen, Eigenschaften und Neigungen werden vollends zur Ware.
Wie lange die Gesellschaft das aushält, ist nicht nur Rifkins Frage.
Carsten Schmitt
Beschränkter Rundfunk
Die Presseschau im Rundfunk ist eine nützliche Sache. Sie ermöglicht den Hörerinnen und Hörern, Kommentare zu wichtigen aktuellen Themen kennenzulernen, die ihnen unbekannt bleiben würden, wenn sie nur die Zeitung(en) läsen, die sie abonniert haben. Als mir auffiel, daß der Nachrichtensender
NDR Info, den ich regelmäßig höre, häufig Artikel aus der
FAZ und der
Welt und auch aus liberaleren Blättern wie
SZ,
FR und
taz sowie aus Regionalzeitungen wie
Lüneburger Landeszeitung,
Emder Zeitung oder
Delmenhorster Kreisblatt zitiert, aber niemals aus linkeren, namentlich nicht aus der
jungen Welt, schickte ich eine E-Mail an den Sender:
NDR Info erwecke durch seine Auswahl den Eindruck, als ob das journalistische Spektrum bei der
SZ oder der
taz ende. »Ich bin der Meinung, daß es zu Ihrem öffentlich-rechtlichen Auftrag gehört, auch Zeitungen zu berücksichtigen, die sich außerhalb dieses Mainstreams bewegen.« Da ich keine Antwort erhielt, hakte ich mit einer zweiten Mail nach, wiederum ohne Reaktion. Daraufhin griff ich zum Telefon und hatte das Glück, mit einer pflichtbewußten Rundfunkangestellten verbunden zu werden. Sie konnte sich nicht erklären, was mit meinen beiden E-Mails geschehen sei; sie waren nicht auffindbar. Sie versprach mir, sich um die Sache zu kümmern, und das tat sie dann auch. Auf ihren Rat hin schickte ich die beiden Mails zusammen mit einem minimalen Anschreiben (»Sehr geehrte Damen und Herren, / 3. Versuch, / Mit freundlichen Grüßen«) noch einmal an
NDR Info.
Bereits am nächsten Tag kam schriftliche Antwort von einem Herrn aus der Nachrichtenredaktion, der sich zunächst mit einem »Versehen« dafür entschuldigte, daß er meine erste E-Mail erst mit einmonatiger Verspätung erhalten habe. Er versicherte mir, daß er sie nun gern beantworten wolle. Er freue sich, daß ich regelmäßig die Pressestimmen auf
NDR Info höre. Übliche Floskeln, bis er zum Thema kam. Als erstes Auswahlkriterium nannte er den regionalen Bezug der Blätter, die in der Presseschau berücksichtigt werden. Ein zweites Kriterium formulierte er folgendermaßen: »Auch große, meinungsbildende überregionale Zeitungen finden regelmäßig Beachtung.« Und ein drittes: Über Ausnahmen von der Regel werde »jeweils im Einzelfall entschieden«. »Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen«, schrieb der Redakteur zum Schluß seines Briefes.
Die Hoffnung erfüllte sich in einem von ihm sicher nicht beabsichtigten Sinn. Mir wurde weitergeholfen, indem aus meinen Mutmaßungen Sicherheiten wurden: Man hatte nichts verschlampt, sondern man hatte einen lästigen Frager ins Leere laufen lassen wollen. Es gab und gibt kein rationales Argument dafür, daß
NDR Info gerade so profiliert meinungsbildende Blätter wie die
jW aus der Presseschau fernhält.
So wundert es auch nicht, daß ich seit dem Briefwechsel, der im vorigen Jahr stattgefunden hat, bis zum heutigen Tag noch immer keinen Kommentar der
jungen Welt in der Presseschau gehört habe. Und es liegt auf einer Linie, wenn im Gegensatz zu anderen Zeitschriften
Ossietzky keine Erwähnung findet. Beispielsweise.
Lothar Zieske
Emil Carlebach würde 100
Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora hat die diesjährige Befreiungsfeier am 13. April unter dem Motto »Antifaschistischer Widerstand im Lager« gestellt. Einer der Häftlinge, derer gedacht werden soll, ist der 2001 gestorbene Emil Carlebach, der im Juli 100 Jahre alt würde. Er war fast die gesamte Zeit von 1933 bis 1945 inhaftiert, zumeist im KZ Buchenwald bis zur Selbstbefreiung der Häftlinge. Im »Schwur von Buchenwald«, den er damals gemeinsam mit seinen Kameraden ablegte, heißt es: »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« In diesem Sinne arbeitete er dann als Mitautor der hessischen Verfassung, als Frankfurter Stadtverordneter und hessischer Landtagsabgeordneter und als jüngster, tatkräftigster Lizenzträger der
Frankfurter Rundschau, bis ihm 1947 im beginnenden Kalten Krieg die US-amerikanische Besatzungsmacht die Lizenz entzog. Denn nach wie vor war er, was er in der Solidaritätsbewegung für Sacco und Vanzetti geworden und in den zwölf braunen Jahren geblieben war: Kommunist. Das KPD-Verbot 1956 verbannte ihn wieder in die Illegalität. Die DDR gewährte ihm Asyl. 1968, als im Zeichen der Entspannungspolitik die DKP gegründet werden durfte, kehrte er zurück und konnte sich wieder öffentlich betätigen: als Journalist und Buchautor (besonders zu empfehlen: »Hitler war kein Betriebsunfall«) und als überzeugender Versammlungsredner. Zeitweilig leitete er
die tat, die Zeitung der Nazi-Verfolgten und Widerstandskämpfer. Daneben schrieb er gern regelmäßig für
Die Weltbühne und später für
Ossietzky.
Ich lernte ihn 1970 kennen, als er sich in der Deutschen Journalisten-Union engagierte, zu deren Vorsitzendem ich damals gerade gewählt worden war. Als ein Beisitzer-Platz im Vorstand frei wurde, hatte Carlebach entsprechend einem Delegiertenvotum nachrücken sollen. Der Vorstand der IG Druck und Papier – der Gewerkschaft, der die DJU angehörte – war entsetzt: ein Kommunist! Unmöglich! Die Delegierten mußten eigens zu einer außerordentlichen Bundeskonferenz anreisen. Aber sie widerriefen ihr Votum nicht, sondern bekräftigten es mit erhöhter Stimmenzahl – eine Demonstration gegen den Antikommunismus, der zur bundesdeutschen Staatsdoktrin geworden war. Und eine Demonstration für das Prinzip der Einheitsgewerkschaft, auf das Carlebach pochte: So wie Antifaschisten, um den Schwur von Buchenwald zu erfüllen, sich nicht auseinanderdividieren lassen dürften, so müßten alle Lohnabhängigen gemeinsam – ohne parteipolitische Dominanz oder Diskriminierung – für ihre gemeinsamen Interessen kämpfen. Ja, kämpfen ...
Eckart Spoo
Wolfgang Beutin wird 80
Am Germanischen Seminar, wie es sich an der Universität Hamburg benannte (also nicht etwa am Germanistischen Seminar), lehrten in der Nachkriegszeit Professoren, denen ihr Germanenstolz nicht abhanden gekommen war. Krasser Außenseiter war Hans Wolffheim, der seine Studenten für deutsch-jüdische und antifaschistische Literatur zu interessieren verstand. An diesem Seminar studierte Wolfgang Beutin, und er blieb dort als Wissenschaftlicher Assistent und später als Dozent. Um seine Festanstellung mußte er hart kämpfen, auch vor Gericht. Seinen Anspruch, beamteter Professor zu werden, konnte er erst nach fünf Prozessen durchsetzen – just zu dem Zeitpunkt, als er 1999 das Pensionsalter erreichte. Ihm war angelastet worden, seine Arbeiten bewegten sich »im Grunde im parawissenschaftlichen Bereich«. Tatsächlich setzte er sich unter anderem mit marxistischer und psychoanalytischer Literaturtheorie auseinander. Unter der Herrschaft der bundesdeutschen Berufsverbote machte er sich damit verdächtig. Beutin hat diese Erfahrungen in einem Roman verarbeitet: »Das Hamburger Totengericht«, erschienen 2011. Seine zahlreichen literaturwissenschaftlichen und sprachkritischen Veröffentlichungen, an denen häufig seine Frau Heidi beteiligt war, befassen sich mit Hildegard von Bingen, Martin Luther, Gotthold Ephraim Lessing, Willibald Alexis, Fritz Reuter, Hans Wolffheim, Günter Grass und vielen anderen Autoren. Daneben entstanden immer wieder auch belletristische Werke: Romane, Hör- und Fernsehspiele, Aphorismen. Ein Hauptthema blieb das Weiterwirken des deutschen Faschismus – der Vergangenheit, unter der die Häupter der Hamburger Nachkriegsgermanistik nie zu leiden hatten.
Glückwunsch dem fleißigen Autor zum 80. am 2. April.
E. S.
Hans Natonek – fast vergessen
Der Leipziger Lehmstedt Verlag hat mit zwei Neuerscheinungen einen längst vergessenen Schriftsteller wieder ins Bewußtsein gerückt: Hans Natonek (1892–1963) war einer der bekanntesten Journalisten der Weimarer Republik, unter anderem von 1917 bis 1933 Redakteur und Feuilletonchef der
Leipziger Zeitung und der
Neuen Leipziger Zeitung. Auch in anderen renommierten Zeitschriften wie der
Weltbühne oder dem
Berliner Tageblatt publizierte er regelmäßig. In mehr als 2000 Artikeln hat Natonek dabei ein vielschichtiges Bild des politischen und kulturellen Lebens der Weimarer Republik gezeichnet. Darüber hinaus veröffentlichte er einige Romane.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde Natonek aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht nur aus der Redaktion der
NLZ entlassen, sondern auch mit Berufsverbot belegt. 1934 emigrierte der Schriftsteller zunächst nach Prag, später nach Paris und dann 1940/41 über Marseille und Lissabon in die USA, wo er 1963 in Tucson, Arizona, starb.
Bereits 2006 hatte der Lehmstedt Verlag unter dem Titel »Im Geräusch der Zeit« Natoneks gesammelte Publizistik der Weimarer Republik herausgebracht. Nun folgt mit »Letzter Tag in Europa« der zweite Band, in dem der Emigrant Natonek zu Wort kommt. Reichlich hundert Texte versammelt die Auswahl (1933–1963), die sich vor allem auf politisch aktuelle Äußerungen aus dieser Zeit beschränkt. Novellen, Kurzgeschichten und Glossen hat Natonek in der Emigration ebenfalls geschrieben, sie waren aber oft dem literarischen Geschmack des damaligen Lesepublikums geschuldet. Deshalb wurden aus dieser Kategorie nur die anspruchsvollsten Texte ausgewählt.
Mit einer für ihn typischen Mischung aus satirischem Spott, kritischer Schärfe, politischer Attacke und doch einfühlsamem Betrachten hat Natonek seine Zeit analysiert. Die Wiederentdeckung dieser Fundgrube bester und unterhaltsamer Publizistik ist das große Verdienst der Leipziger Autorin Steffi Böttger. Zu dieser Edition wollte die Herausgeberin ein kurzes Vorwort schreiben, doch dann ergab sich die Notwendigkeit, das reichhaltige Material, das sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte, zu einer Biographie zu erweitern. Diese außergewöhnliche Lebensrekonstruktion »Für immer fremd« verfolgt in zwölf Kapiteln Natoneks Leben von der Kindheit und Schulzeit in Prag bis zu seinen letzten Lebensjahren in Arizona. Faktenreich beschreibt Böttger die einzelnen Lebensstationen, wobei sie bestimmte Aspekte besonders beleuchtet, so die »Tragödie der Familie«, als Natoneks Sohn aus erster Ehe, Wolfgang, in der Sowjetischen Besatzungszone verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, während der Vater aus der Ferne für die Freilassung seines Sohnes nur wenig tun konnte.
Neben den neuen Erkenntnissen, die Böttger zu Tage gefördert hat und die nachhaltig beeindrucken, ist es auch ihre Fähigkeit, das Faktenmaterial auf knapp zweihundert Seiten zu konzentrieren. Noch mehr erstaunt es aber, wie viel sich über einen Menschen erfahren läßt, der jahrzehntelang als vergessener, ja verschwundener Schriftsteller galt. Mit der Biographie, den beiden Publizistikbänden und dem 2008 erschienenen Briefwechsel (1946–1962) zwischen Hans Natonek und seinem Sohn wird nun ein Autor aus dem Dunkel geholt, der schon mit seiner Emigration in Vergessenheit geriet. Damit ist uns Hans Natonek nicht mehr »für immer fremd«.
Manfred Orlick
Hans Natonek: »Letzter Tag in Europa«, hg. von Steffi Böttger, Lehmstedt Verlag, 372 S., 24,90 €; Steffi Böttger: »Für immer fremd – Das Leben des jüdischen Schriftstellers Hans Natonek«, Lehmstedt Verlag, 246 S., 19,90 €
Neues aus der Staatsgalerie
Wie der Öffentliche Dienst, seine Kultur und seine Kunst weiterentwickelt werden, kann man an der Staatsgalerie in Stuttgart beobachten. Deren neue Direktorin Christiane Lange und ihr treu ergebener kaufmännischer Geschäftsführer und Personalchef Dirk Rieker sind über Stuttgart hinaus bekannt geworden, indem sie den Aufsichten wie den Besuchern die Stühle weggenommen haben mit der schönen Begründung, sie störten die Ästhetik (s.
Ossietzky 21/13). Solche Maßnahmen dienten angeblich der Wiederherstellung verlorenen Glanzes und mangelnder Pracht.
Die treuen Staats- und Kunstdiener, denen man die Sitzgelegenheiten unterm Hintern weggezogen hatte, und die neuen, für noch weniger Geld eingestellten Kollegen für die Sonderausstellungen verfaßten einen hausintern verbreiteten Offenen Brief, in dem sie den Wunsch nach respektvollem Umgang und Miteinanderreden äußerten. Lange harrten sie einer Antwort, bis sich die Direktorin schließlich zu einer Versammlung bereit fand, die sie dazu nutzte, alle Vorwürfe, Einwände und Bitten abzufertigen. Die Aufsichten erfuhren bei dieser Gelegenheit, daß ihnen die Stühle deshalb weggenommen worden waren, weil es KollegInnen gab, die sitzen geblieben waren, wenn die Direktorin an ihnen vorbeigeschritten war. Manche hatten die Professorin wohl einfach übersehen; andere mögen gedacht haben: Wenn ich von der Eintretenden nicht gegrüßt werde, warum soll ich dann grüßen?
Professorin Lange kennt das Leben der Aufsichten, hat sie doch während ihres Studiums selber als eine solche gearbeitet, aber immer stehend! Die Aufsichten erfuhren, daß sie heute nicht mehr wirklich wissen, was sich gehört. Ihnen fehlt es nämlich an Verantwortung, die allein bei der Direktorin liegt.
Was ist Verantwortung? Die Direktorin erklärte es: Als es nach einer Kunstnacht für junge Leute am nächsten Morgen ganz schlimm aussah, habe sie mit dem Geschäftsführer einen Tisch voller Gläser aus dem Blickfeld der Besucher geräumt. Sie packt eben immer selber mit an, während sich bei den Aufsichten wohl niemand verantwortlich fühlt. Kein Wunder, daß der Personalchef daraufhin nicht länger seine Meinung zurückhielt, die Aufsichten verdienten zu viel. Auf Mitsprache-Wünsche reagierte er mit einem Vergleich: Man muß sich ein Museum wie ein U-Boot vorstellen: Wenn der Kapitän den Befehl gibt zu tauchen und dann kommt jemand und will das Fenster öffnen – das gehe doch nicht.
Die Aufsichten wollten mit der Direktorin reden. Jetzt wissen sie, wie einseitig solche Gespräche ablaufen. Zum Schluß bekamen sie von ihr noch den freundlichen Hinweis: Wer diese Arbeit nicht mehr machen könne oder wolle, suche sich doch bitte eine andere. Leider sagte da niemand: Bitte nach Ihnen!
Rosa Wacholder
Die Kraft in mir
Vorwiegend mit Landschaften, aber auch mit Akten und Stilleben in Öl, Aquarell und Mischtechnik stellt sich Thomas Kahlau, Mitglied des Verbandes der Mund- und Fußmalenden Künstler (VDMFK), seit Ende Februar in Berlin vor. Eine kalte Sonne fällt durch einen winterlichen Birkenwald. Das Gemälde »Allee in der Wintersonne« gehört zu seinen besten Bildern. Auch die Herbstbilder, in warmen Farben gehalten, beeindrucken. Gelb sei seine Lieblingsfarbe, gesteht der Künstler. Um Probleme in der Partnerschaft geht es im Bild »Wortlos«.
Trotz seines Badeunfalls ist es Kahlau gelungen – seit seinem 15. Lebensjahr ist er vom Hals abwärts gelähmt – seinen Platz im Leben zu finden. »Ich blinzle durch die Blätter des Baumes hinauf in die Sonne und spüre eine Kraft in mir, die ich vorher nicht gespürt habe. Es ist die Kraft eines neuen Lebens – eines anderen Lebens.« Das schreibt er in seinem Buch »Die Kraft in mir«, das in aktualisierter Neuauflage in der Donnersmarck-Stiftung erschien. Aufopferungsvoll pflegen ihn die Eltern. Im Unterricht zu Hause lernt er durch Reproduktionen die alten Meister kennen, interessiert sich für die Grundlagen der Malerei und Grafik. Er beginnt zu zeichnen mit Hilfe eines Mundstücks, an dem der Pinsel oder Stift befestigt ist Der Maler und Gebrauchsgrafiker Herbert Sander berät ihn, macht ihm Mut. Eine erste Ausstellung inszeniert der Kunstwissenschaftler Thomas Kumlehn im März 1989 im damaligen Kulturhaus »Hans Marchwitza« (heute Potsdam-Museum im Alten Rathaus). Die Diplomfotografin Monika Schulz-Fieguth zeigt in einer Fotodokumentation, wie schwer für Thomas Kahlau der Weg war, selbständig zu werden, nicht zu verzweifeln. In dem Film »Den Wind auf der Haut spüren« hat die DEFA-Dokumentarfilmerin Gitta Nickel sein Leben mit der Behinderung dargestellt und eindringlich gezeigt, wie er die Kraft aufbringt, Schwierigkeiten zu meistern, die sich immer wieder auftun. Sein Onkel, der Lyriker Heinz Kahlau, rät ihm symbolisch: »Laufen hast du wieder gelernt. Jetzt lerne fliegen.« Der VDMFK ermöglicht ihm, durch den Verkauf von Postkarten und Kalendern selbständig zu sein. Reisen, für ihn sehr beschwerlich, führen ihn ins Ausland – nach Wien, Sydney, Budapest, Prag, Lissabon und Shanghai. Es entstehen Freundschaften.
Voller Bewunderung stehen die Gäste, die zur Eröffnung der Ausstellung gekommen sind, vor Kahlaus Bildern, kommen mit ihm ins Gespräch. Er antwortet freundlich und selbstbewußt. Mitgefühl ja; Mitleid braucht er nicht. Mit Achtung lese ich sein Credo: »Ich bin immer noch da und habe die Absicht, noch eine Weile zu bleiben … Das Leben ist spannend.«
Maria Michel
Bis zum 2. Mai in der Galerie der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Ein Karneval en miniature
Als der Ziehsohn des schwulen Nachtclubbesitzers George und seines Lebensgefährten Albin heiraten will, geraten die drei in ernsthafte Schwierigkeiten. Albin, der allabendlich als Zaza auf der Bühne glänzt und auch daheim als Dame, Diva und Mutter seine Frau steht, soll vor den zukünftigen Schwiegereltern verheimlicht werden … Wie aber präsentiert man auf die Schnelle die leibliche, lang verschollene Mutter des jungen Mannes? Da erbietet sich Albin, für die Mutter einzuspringen – was für Komik sorgt. Jedoch nicht für mehr.
Wären da nicht die zündenden Songs (unter anderem »I am what I am«) sowie die Schar tanzender, singender Transvestiten, junge Männer von verblüffender Weiblichkeit, blieben dem Zuschauer nur die vom Nachtclubbesitzer (Peter Rühring), seinem Ziehsohn (Sebastian Stert) und dessen zukünftigen Schwiegereltern (Romanus Fuhrmann und Jaqueline Macaulay) laut und ziemlich vordergründig über die Rampe gebrachten Darstellungen familiärer Zwänge. Auch Musicals sollte es weder an einem plausiblen Plot noch an glaubhaften Personen mangeln – eine solche verkörperte Hannes Fischer als Lebensgefährtin des Nachtclubbesitzers und als Drag-Queen. Und das mit Bravour. Er war auch urkomisch in der Rolle des Onkels und der verschollenen Mutter.
Bei all den Lach- und Klatschsalven, die immer wieder den Rundbau der Berliner Bar jeder Vernunft füllten, es fehlte dem Stück (oder war es die Inszenierung?) jener Grad Realitätsnähe, der halbwegs glaubhaft machen könnte, daß sich ein ultrakonservativer Politiker und seine hochnäsige Frau mir nichts, dir nichts in ein tolerantes Paar verwandeln, das sich mit der Verbindung ihrer Tochter zu just diesem jungen Mann nicht bloß abfindet, sondern fröhlichen Muts einverstanden zeigt. Hätte die Inszenierung auch nur anklingen lassen, wie sehr bis heute Schwule ins Abseits gedrängt sind und sich mit dem Outen schwertun, es wäre zu mehr als nur einem Gaudium gekommen, einem Karneval en miniature.
Walter Kaufmann
Bar jeder Vernunft: »La Cage aux Folles – Ein Käfig voller Narren«, Musical von Jean Poiret, bis 31. Mai
Zuschrift an die Lokalpresse
Wie ick jelesen habe, soll de Stadtautobahn nu doch bis zur Frankfurter Allee weiterjebaut werden, übern Treptower Hafen und die Rummelsburjer Bucht drüber weg oder drunterdurch, un detselbe denn nochmal übern oder untern Bahnhof Ostkreuz durch – wie soll denn det jeh‘n? Mein lieber Herr Jesangverein, und wo soll det Jeld dafür herkomm‘? Wo doch jetzt schon allet in die satten Renten und in die mickrijen Diäten der Abjeordneten jesteckt werden muß! Und der Fluchhafen wird ja ooch ejal teurer, und der jeheime Palast, und wat weeß ick noch allet! Wer soll denn det bezahl‘n? Ick finde, da mißte nochmal drieber nachjedacht wer‘n! Oder is vielleicht vorjesehn, die Stadtautobahn erstmal als Start- und Landerampe für die vielen Fliejer zu nehmen, die ja in Schönefeld in‘n nächsten 20 Jahr‘n doch nich zu Potte kommen wer‘n? Und denn hab ick jehört, et soll eene Volksbefragung jeben, ob der Wowereit weiter Rejierender blei‘m kann. Da sare ick mir: Bloß nich dran rühren, sonst wird der Mehdorn vielleicht ooch noch Chef vom Roten Rathaus! – Kalle Kulicke (72), ehrenamtlicher Rentner, 13587 Berlin-Hakenfelde
Wolfgang Helfritsch