Am 1. März erschreckte mich Spiegel online mit dem Titel »Völkermord in Indonesien: Eine Million Tote – keine Gerechtigkeit«.
Hatte ich jemals etwas davon gehört? Oder hatte ich es einfach vergessen? Dabei schätzen Menschenrechtsorganisationen die Zahl der Toten sogar auf zwei bis drei Millionen. Und der britische Autor und Historiker Tariq Ali sagt 2003 in seinem Buch »Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung«, daß die indonesischen Massaker, gemessen an der Zahl der Toten zu einem der schlimmsten Völkermorde des 20. Jahrhunderts gehören. Warum aber finde ich erst jetzt nach 50 Jahren einen Artikel darüber?
Ich recherchiere bei Wikipedia, um mehr über diese ehemalige niederländische Kolonie zu erfahren, die 1949 selbständig wurde, der weltgrößte Inselstaat ist und mit 240 Millionen Einwohnern auf Platz vier der bevölkerungsreichsten Staaten der Welt rangiert. Erster frei gewählter Präsident war Sukarno, der eine Zeitlang die antikolonialen Bewegungen der dritten Welt anführte und genau wie die indonesische kommunistische Partei Boden- und Eigentumsreformen durchführen wollte. Das beunruhigte nicht nur die indonesische Oberklasse, sondern auch ausländische Interessenten, denen an der Ausbeutung der Reichtümer des Landes lag. Folgerichtig wurde Sukarno von dem pro-westlichen Vizechef der Armee Haji Mohamed Suharto aus dem Amt gedrängt.
Suharto hatte 1965 die Morde an sechs Generälen und einem Leutnant benutzt, um in einer beispiellosen Hetzjagd Kommunisten, Intellektuelle, Studenten, Künstler, Gewerkschafter und Angehörige der chinesischen Minderheit als »Staatsfeinde« umbringen zu lassen. Heute, nach immerhin 50 Jahren, sind diese Verbrechen weder aufgeklärt noch gesühnt. Überlebende und Angehörige haben bisher keine Gerechtigkeit erfahren, dagegen werden die Täter des Völkermords immer noch als Helden gefeiert.
»Hinter Suharto standen die USA«, lese ich bei Wikipedia. Und so sah der Westen weg, »auch aus finanziellen Gründen. Dank neuer Investitionsgesetze konnten nach der Machtübernahme Suhartos bald westliche Unternehmen die Rohstoffe des Landes mit höchsten Profiten ausbeuten.« (Spiegel online, 1.3.2015). So nahm schon einen Monat nach der Machtübernahme Suhartos ungeachtet des Massakers das US-Bergbauunternehmen Freeport Sulphur mit Firmensitz in New Orleans wieder Kontakte mit der indonesischen Führung auf und erhielt 1967 als erstes ausländisches Unternehmen die Genehmigung, auf einem Gebiet von 30 Quadratkilometern nach Bodenschätzen zu suchen. 1981 wurde ein Exklusivvertrag über 30 Jahre geschlossen, der weder Umweltschutzauflagen noch Entschädigungen der Ureinwohner enthielt. Das war eine wichtige Voraussetzung, um weltweit am kostengünstigsten Kupfererz fördern zu können. 1991 verlängerte die indonesische Regierung den Vertrag um weitere 50 Jahre und weitete das Konzessionsgebiet auf 25.000 Quadratkilometer aus. Freeport engagierte sich, sicherlich wegen dieser vorzüglichen Bedingungen, von Anfang an in den USA als Lobbygruppe für die Regierung in Jakarta.
Allerdings konnte das nicht die negativen Schlagzeilen verhindern, in die das Unternehmen 2003 geriet. Da gab es nicht nur Menschenrechtsverletzungen um die Grasberg-Mine, das weltgrößte Goldbergwerk, es gab auch jahrelange Schutzgeldzahlungen von mehreren Millionen US-Dollar an Offiziere von Militär und Polizei, die die Vertreibung und Tötung vieler tausend Angehöriger der Papua zu verantworten hatten. Ebenso erregten die massiven Umweltschäden die Aufmerksamkeit internationaler Umweltverbände. Freeport hatte, vertrauend auf die guten Beziehungen zur indonesischen Regierung, generell die indonesischen Umweltschutzgesetze ignoriert. So gelangten täglich 238.000 Tonnen giftigen Abraums in die Flüsse Aghawagon und Otomona oder wurden in Seen verklappt, die direkt neben dem Lorentz-Nationalpark liegen. Journalisten und unabhängigen Beobachtern wird der Zutritt zur Mine verwehrt, durchgeführte Umweltuntersuchungen werden nicht veröffentlicht, unabhängige Messungen nicht zugelassen.
Zu den Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens, die all dies mit zu verantworten haben, gehören und gehörten ehemalige namhafte US-Politiker, ehemalige hohe US-Militärs und Mitglieder der Rockefeller-Familie. Auch Henry Kissinger, ehemaliger US-Außenminister und US-Sicherheitsberater, war von 1995 bis 2001 Aufsichtsratsmitglied, zugleich aber auch in den Jahren 2000/01 politischer Berater des indonesischen Präsidenten Abdurrahman Wahid.
Diese unglaubliche, von der Weltöffentlichkeit so demonstrativ kaum zur Kenntnis genommene Geschichte erregt gerade jetzt und angesichts der Ereignisse in der Ukraine meine Aufmerksamkeit. Denn auch hier bemüht sich die westliche Schutzmacht USA sehr, ihre geopolitischen und ökonomischen Interessen durchzusetzen. Schon nimmt der Sohn des US-Vizepräsidenten Biden eine der Schaltstellen des ukrainischen Gasproduzenten Burisma ein, Natalia Jaresko, US-Amerikanerin mit ukrainischen Wurzeln, die vor kurzem als Mitglied im US-Diplomatenkorps ein von der US-Regierung finanziertes Investitionsprojekt in der Ukraine leitete, ist nun neue Finanzministerin der Ukraine und wurde deshalb im Schnellverfahren eingebürgert Wichtige Schlüsselbereiche befinden sich bereits in US-amerikanischen Händen. Auch der jetzige Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk ist der Wunschpartner der USA. Seine Stiftung Open Ukraine Foundation wird sowohl von George Soros‘ Renaissance Foundation finanziert als auch von der Rockefeller Foundation, vom US-Außenministerium und der NATO. Es scheint also alles bestens geregelt. Doch offensichtlich läßt sich die Ukraine nicht ganz so problemlos vom Westen einverleiben. In einem Teil des Landes gibt es Widerstände. Unsere Medien sind voll davon, auch von vorschnellen Schuldzuweisungen. Selbstverständlich richten die sich nicht gegen US-amerikanisches Begehren, denn das umfangreiche, weltweite Engagement der führenden Großmacht USA, auch das militärische, gilt ausschließlich der Verteidigung der westlichen Werte. Dabei geht es immer um den Kampf für Demokratie und Freiheit, wozu natürlich der freie, ungehinderte Zugang zu Märkten und Ressourcen gehört.
Nun liegt Indonesien weit weg. Was dort passierte und passiert, auch die millionenfachen Morde, fand nur ein äußerst geringes Medienecho. Dabei haben die politischen Drahtzieher von derlei Entwicklungen längst in anderen Teilen der Welt für schlimme Verwerfungen gesorgt. Im Moment erleben wir gerade die versuchte Amerikanisierung der Ukraine. Und ganz aktuell steht die EU in den unter großem Druck der US-amerikanischen Administration geführten Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter größter Geheimhaltung stattfinden. Wirkliche Informationen sind spärlich. Was allerdings dennoch zu hören ist, erzeugt allerschlimmste Befürchtungen. So ist anzunehmen, daß die oben geschilderten wirtschaftlichen Verhältnisse in Indonesien, die von den großen multinationalen Konzernen unter dem Aspekt maximaler Gewinnerzeugung bestimmt werden, morgen schon ganz normale europäische Realität werden könnten. Wenn die gewinnminimierenden, aber für unsere Lebensqualität notwendigen Standards, besonders beim Verbraucher- oder Umweltschutz, von den großen Konzernen einfach ausgehebelt und ignoriert werden können, gibt es für uns alle hier kein Entrinnen. Dann sind wir und kommende Generationen tatsächlich und in jeder Beziehung nur so viel wert, wie wir bei der Reichtumsgewinnung nützlich sind.