Noch im Dezember 1989 sprachen sich bei einer repräsentativen Umfrage immerhin 71 Prozent der DDR-Bürger für die Idee des Sozialismus und 73 Prozent für eine unabhängige DDR aus. Nur 39 Prozent hielten das Wirtschaftssystem der alten Bundesrepublik für erstrebenswert.
Übernahme einer Parteienlandschaft
Der schnell einsetzende Umschwung in der öffentlichen Meinung hatte nicht nur seine Ursache im Versagen der in PDS umbenannten SED. Ein noch erbärmlicheres Schauspiel lieferten die bisher mit ihr verbündeten Parteien. Bei Wahlen in der DDR wurde zuvor für oder gegen eine durch Proporz gebildete Einheitsliste gestimmt. Am 4. Dezember 1989 erklärten die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Liberaldemokratische Partei Deutschlands (LDPD) ihren Austritt aus diesem Demokratischen Block der Parteien und Massenorganisationen; einen Tag später folgte die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD). Sämtliche ehemalige Blockparteien wetteiferten nunmehr in Anbiederung an die bundesdeutsche Parteienlandschaft.
Außerdem bildeten sich in rasantem Tempo neue Parteien. Eine Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SDP), nach eigener Aussage in der Arbeiterbewegung wurzelnd, wurde von einer Handvoll evangelischer Theologen in einem Pfarrhaus gegründet. Der Demokratische Aufbruch (DA) trat an, um die Selbstbestimmung der Gesellschaft in der DDR zu verwirklichen und landete folgerichtig in den Armen der CDU. Die bayrische CSU wollte ebenfalls mitspielen und beförderte den Zusammenschluß rechter Splittergruppen zur Deutsch Sozia-len Union (DSU). Diese hinterließ in den Folgemonaten, bis ihr der Geldhahn wieder zugedreht wurde, eine Schleimspur von dumpfstem Rechtspopulismus besonders im Süden der DDR.
Bezeichnenderweise ließ fast keines der damals vorgestellten Parteiprogramme auch nur andeutungsweise etwas von künftigen sozialen Verwerfungen verlauten. Die Marktwirtschaft einführen wollten alle, aber sie sollte »in sozialer Verantwortung« verwirklicht werden. Ausgerechnet die Sozialdemokraten erteilten Ideen von einer »sozialistischen Marktwirtschaft« aber eine klare Absage. Und die von einer Handvoll Möchtegern-Yuppies frischgegründete F.D.P. verkündete, für ein »Konglomerat aus Sozialismus und Marktwirtschaft« gäbe es weltweit »kein funktionierendes Vorbild«. Lediglich die VL warnte vor »konzeptlosen Anleihen aus dem Arsenal marktwirtschaftlicher Regulative« und einem drohenden »Ausverkauf an den Kapitalismus«. Finanzstarke westliche Partner waren so natürlich nicht zu gewinnen.
Exportierte Westwahlen
Die planmäßig für den Mai 1990 vorgesehenen Wahlen wurden Ende Januar auf den 18. März vorgezogen. Ihr Ergebnis schien anfangs durchaus noch ungewiß. Noch im Dezember konnten nur 48 Prozent der potentiellen Wähler angeben, wem sie ihre Stimme geben wollten. Um das Votum der unentschlossenen 52 Prozent entbrannte ein heftiger Kampf.
Ebenfalls Ende Januar hatte die Volkskammer ein neues Wahlgesetz verabschiedet, in dem politischen Parteien und Vereinigungen die Annahme materieller und finanzieller Unterstützung aus dem Ausland nicht mehr untersagt war. Die Einmischung westdeutscher Parteien in den DDR-Wahlkampf war damit legalisiert. Gregor Gysi protestierte zwar lautstark dagegen – seine Partei hatte jedoch nicht gegen diese Gesetzesänderung gestimmt.
Als Folge des schnell eskalierenden Wahlkampfes verwandelten sich die meisten DDR-Parteien in bloße Aushängeschilder ihrer finanziell potenten und erfahrenen westdeutschen Partner. Ein nicht enden wollender Strom von Spenden ergoß sich von West nach Ost, begleitet von »ausgeliehenem« Personal. Der stellvertretende Geschäftsführer der West-SPD ließ damals im Stern verlauten: »Mancher SPD-Kreisverband drüben ist jetzt besser ausgerüstet als ein Unterbezirk bei uns.«
Der bundesdeutsche Autor Michael Schneider meinte in seinem Buch »Die abgetriebene Revolution«, daß das Tempo der deutschen Vereinigung von den westdeutschen Eliten wohl bewußt beschleunigt wurde, um die ostdeutsche Bevölkerung jeder Möglichkeit zu berauben, eigene Forderungen in den Prozeß einzubringen. Nach Schneider wurden damals mindestens 40 Millionen DM für den parteipolitischen Werbefeldzug in der DDR ausgegeben, davon ein beträchtlicher Teil aus öffentlichen Mitteln. Nicht mitgerechnet sind die zahlreichen Sachspenden sowie die Gestellung von Personal für die jeweiligen Schwesterparteien. Allein 200.000 DM habe den bundesdeutschen Steuerzahler eine PR-Aktion von Helmut Kohl gekostet, Schallplatten mit seinen Reden unter das Ost-Volk zu verteilen. In Erfurt seien auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes acht Omnibusse mit hessischen CDU-Wahlkämpfern angereist, die in einer einzigen Nacht 80.000 Plakate verklebten. Ich erlebte damals persönlich, wie Rollkommandos der Berliner Jungen Union über die durchlässige Noch-Grenze kamen, Straßenzüge volltapezierten und linke Plakate herunterrissen.
Die heilige demokratische Kuh von freier Selbstbestimmung durch Wahlen erwies sich einmal mehr als Mogelpackung. Selbst der Bürgerrechtler Jens Reich, gewiß kein Sozialist, meinte 20 Jahre später in einem Interview im Focus: »Das Bonner Nilpferd ist mit einer Massivität gekommen, daß man einfach hilflos war. Im Wahlkampf ist einfach der gesamte Apparatismus des Westens in den Osten gebracht worden. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das waren in die DDR exportierte Westwahlen.«
Das Fazit
Die Wahlbeteiligung lag bei 93,4 Prozent. Entgegen den Voraussagen der Meinungsforscher setzte sich die von der West-CDU gesponserte »Allianz für Deutschland« (bestehend aus der Ost-CDU, dem DA und der DSU) mit 48 Prozent der Stimmen klar durch. Die SDP wurde mit 21,9 Prozent zweitstärkste Kraft. Die PDS, auf die sich fast alle anderen Parteien eingeschossen hatten, erreichte immerhin 16,3 Prozent. Der FDP-nahe Bund Freier Demokraten (bestehend aus der ehemaligen Blockpartei LDPD, einer Neuen Forumpartei und der F.D.P.) landete bei 5,3 Prozent. Die neugegründete grüne Partei der DDR und der Unabhängige Frauenverband kamen gemeinsam auf zwei Prozent, das Bündnis 90 (bestehend Neuem Forum, Initiative Frieden und Menschenrechte und Demokratie Jetzt) auf 2,9 Prozent.
Da das Wahlrecht der DDR keine Fünf-Prozent-Klausel kannte, kamen noch einzelne Mandate auf die ehemaligen Blockparteien DBD und NDPD sowie den Demokratischen Frauenbund (DFD). Diese schlossen sich jedoch bald den Fraktionen der größeren Parteien an.
Ein Desaster war die Volkskammerwahl für die radikale Linke. Die VL, damals von Teilen der West-Linken als Hoffnungsträger gehandelt, kam im Bündnis mit der marxistischen Partei Die Nelken auf ganze 0,16 Prozent der Stimmen und errang damit ein Abgeordnetenmandat. Ein Wahlbündnis Alternative Jugendliste (AJL) verfehlte den Einzug in die Volkskammer um ganz wenige Stimmen. Die im Januar 1990 in der DDR neu gegründete KPD erhielt nur knapp 9000 Stimmen; mehrere andere linke Splittergruppen scheiterten ebenfalls.
Das Wahlergebnis schockte nicht nur die marxistische Linke. Auch sozialdemokratische Politiker und linksliberale Intellektuelle zeigten sich entsetzt über das absurde Wahlverhalten des DDR-Volkes. Der SPD-Politiker Otto Schily verkündete damals, die Leute hätten »Banane« gewählt – der Spottname »Bananenwahl« hält sich bis heute. Oskar Lafontaine, damals noch SPD, machte für das Wahlverhalten »Kohl und Kohle« verantwortlich. Der Schriftsteller Christoph Hein hatte schon im Vorfeld geäußert, die Selbstbehauptung der DDR sei »verludert und vertan worden«.
Entscheidend für das Ergebnis war wohl auch die beispiellose Banalität der Parolen, mit denen die Allianz-Parteien ihren Wahlkampf führten: »Ja! Besser leben!« Im Gegensatz zu den Warnungen der Linken vor den Zumutungen einer kapitalistischen Zukunft wurde diesen Losungen geglaubt, weil die Leute sie glauben wollten. Der Spruch »Helmut, nimm uns bei der Hand, führ uns ins Wirtschaftswunderland« war bei den letzten Montagsdemonstrationen immer wieder zu vernehmen. Daß die CDU weder willens noch überhaupt in der Lage war, ihr Versprechen von »blühenden Landschaften« zu halten, wurde nicht wahrgenommen.
Das Kabinett Lothar de Maizière (DDR-CDU) wurde zeitweilig von allen bürgerlichen Parteien einschließlich der SPD getragen, verfügte demzufolge über eine satte Zweidrittelmehrheit und konnte alle für die Abwicklung der DDR notwendigen Verfassungsänderungen durchwinken. In der oppositionellen Ecke blieben von Anfang bis Ende die PDS-Fraktion, die 20 Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen sowie der fraktionslose VL-Abgeordnete.
Die Minister der letzten DDR-Regierung waren einflußlose Marionetten – alle maßgeblichen Beschlüsse wurden von westdeutschen Beratern getroffen. Schon am Tag nach der Wahl forderte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie die Abschaffung des Gewerkschaftsgesetzes. Der Deutsche Industrie- und Handelstag präsentierte einen Forderungskatalog, der unter anderem Steuersenkungen, Privatisierung der Staatsbetriebe und Freigabe der Preise beinhaltete. Was in den Folgemonaten dann über die verendende DDR kam, war eine rabiat ohne Rücksicht auf soziale Konsequenzen betriebene marktradikale Schocktherapie, an deren Folgen der Osten Deutschlands bis heute laboriert.
Als desaströs erwies sich die Zerschlagung der DDR-Wirtschaft langfristig auch für die westdeutsche Bevölkerung. Spezialisierte sich doch damals eine Schicht neoliberal geprägter Manager und Unternehmensberater darauf, durch Privatisierung öffentlichen Eigentums Riesenvermögen zu machen – nach dem Osten wurde dann zunehmend auch der Westen ihre Beute.
Der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel glossierte den Vorgang in einem seiner bissigsten Songs: »Es fiel so viel: die Scham fiel und die Mauer fiel,/ Gen Westen zog die Karawane./ Jeder Gewinner in diesem Spiel/ Bekam zum Schluß eine Banane.«