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Titel815

Lotta Blokkers poetische Kraft  (Peter Arlt)

Geradezu berauschend ist die sinnliche Erfahrung der differenzierten Realität der Körper, die Lotta Blokker scharf wahrnimmt und in ihren Plastiken so verblüffend genau wiedergibt, daß darüber im Buch zur Ausstellung (24,95 €) steht: »Sie wirken so echt«; man muß die »Figuren berühren, um sich zu vergewissern, daß sie nicht wirklich leben«. Das erinnert daran, daß jemand wegen des Realismus der Marmor-Skulptur »Die Nacht« von Michelangelo glaubte, diese aufwecken zu können. Darauf Michelangelo für seine Figur: »Lieb ist mir der Schlaf, noch lieber: Stein sein. Und ich preise / solange Schmach und Schande nicht vergehen, / dies als mein Glück: nicht hören und nicht sehen. / Drum wecke mich nicht auf, ach, rede leise.« (Fritz Erpel) Ähnlich könnten Lotta Blokkers Figuren antworten.


Früh ist die niederländische Bildhauerin Lotta Blokker, 1980 in Amsterdam geboren, zur Kunst aufgebrochen. Auf einer Klassenfahrt nach Paris bestimmten die Werke Auguste Rodins ihre Lebensbahn: »Das muß es sein!« Mit 19 Jahren begann sie in Italien an der amerikanischen Florence Academy of Art zu studieren, wo viel Wert auf Handwerk gelegt wird, und sie die Tradition, vor allem Donatellos, beeindruckte. Wegen ihres herausragenden Talentes unterrichtete sie dort bald als Dozentin. Als einer der ersten Kunstwissenschaftler entdeckte sie Gerd Lindner, Direktor des Panorama Museums, denn mit dem realistischen Menschenbild ihrer Plastiken steht die Intention seines Museums in Bad Frankenhausen bildhaft vor Augen. Vier Plastiken wurden erworben und 2010 auf dem Vorplatz des Museums aufgestellt. Darunter »Levity«, die realistische, manieristische Allegorie der Leichtigkeit; ein Gleichgewichtskünstler steht auf den Kanten der Außenriste der über Kreuz gestellten Beine vornübergebeugt und hält mit gespreizten Fingern Balance.


Lotta Blokker schuf alle Figuren, Paare und Köpfe, 25 aus den Jahren 2003 bis 2014 sind zu sehen, aus dem Material Bronze, das auch ohne taktilen Sinn nicht mit dem fleischlichen Leib des Menschen zu verwechseln ist. Doch die Suggestion ist stark. Der Blick der Bildhauerin kriecht die Körper entlang und in sie hinein. Blokker formt, was sie sieht, sogleich mit Tonmasse zur Plastik. Es verblüfft nicht allein die Fähigkeit, das Gesehene kreatürlich direkt eins zu eins zu fassen und die fleischlichen Massen erst zu kubischen Tonmassen umzusetzen und diese dann nach und nach zur naturalistischen Figur umzuwandeln. So bei »Secret«, dem nackten Liebespaar, wo ausgebettetes Fett der Hals- und Schlüsselbeingrube hinunter zum fülligen, amorphen Brustdrüsenfett schwappt, sich dann in Wellen des Bauch-, Hüft- und Oberschenkelfetts ergießt und darunter ausklingt. Auf begnadete Weise gewinnt das Liebespaar einen verschmelzenden Zusammenhalt, der gegenüber dem vorbildgebenden »Kuß« von Rodin und der erotisch anmutenden Liebe seines klassisch schönen Paares tiefer berührt.


Blokkers Plastiken verbleiben nicht in drei Dimensionen. Beim Ineinander-Übergehen von Körperdarstellung und Kunst zeigt sich, wie die Bildhauerin beispielsweise die Verhärtungen, Rinnen wie Furchen der Haut einmal als Krankheitszeichen, doch ebenso zur künstlerischen Dichte der plastischen Form nutzt. Diese »imitatio« ist keine minderwertige Nachahmung der Natur und Nachbildung künstlerischer Tradition; diese »mimesis« ist nicht mit vulgärmaterialistischer Kunsttheorie zu diskreditieren. Denn über die Gleichgestaltigkeit dringt die Künstlerin zur vierten Dimension empor; ihr Werk ist auf dauerhafte und grundlegende Eigenschaften und Neigungen der menschlichen Seele gerichtet.


Es ist fast unbegreiflich, wie es Lotta Blokker gelingt, in den fleischlichen, nicht durch Schönheit bestechenden Massen die auratische Strahlung zu entdecken und mit poetischer Kraft – ob bei schönen jungen Menschen, älteren oder alten, in der Nähe von Krankheit und Tod, in der Schlaflosigkeit früher Morgenstunde – tief berührende Sinnbilder von Betrübnis und Furcht, Abgesperrtsein und Bedrängnis, Nachdenken und Melancholie, Innigkeit, sehnsüchtiger Erinnerung und Liebe zu gewinnen. Manchen mögen die Szenen zu rührend sein. Und vielleicht fließt der sentimentale amerikanische Einfluß zuweilen über, doch Blokker gewinnt in ihrer Empathie die Herzen der Menschen. Es ist mir nicht in Erinnerung, so etwas über einen Künstler gesagt zu haben. Von der ersten Station der vielbesuchten Ausstellung im holländischen Zwolle wird berichtet, daß viele ältere Besucher bei den Paraphrasen des christlichen Motives der Pietà, der »Silhouette III« in Tränen ausbrachen oder bei »Pas de deux«, wo eine demente alte Frau mit ausgebreiteten Armen in leichter tänzerischer Bewegung das Kleid schwingt – in Bronze (!), in ihrer Vorstellung vom Partner geführt wird; Erinnerungen steigen herauf. Nackte Paare kommen wie in Ballettposen dicht zueinander, umfassen sich zärtlich, tragen den anderen auf dem Rücken (»Atlas«), angeschmiegt schützen sie sich und blicken geschlossenen Auges in die eigene Innenwelt und in die Gemeinsamkeit bei der »Hommage to Käthe Kollwitz«. Lotta Blokker bewundert die kinderschützenden Mütter der deutschen Bildhauerin, deshalb wird anschließend die dritte Version der Ausstellung unter dem Titel »Im Dialog mit Käthe Kollwitz« in Berlin gezeigt.

»Lotta Blokker. The Hour of the Wolf«, bis 14. Juni im Panorama Museum, Bad Frankenhausen, Di bis So 10 bis 18 Uhr; »Im Dialog mit Käthe Kollwitz«, 23. Juni bis 1. November im Käthe-Kollwitz-Museum, Berlin, täglich 11 bis 18 Uhr