Soll der Ausgrenzung von Flüchtlingen und einkommensarmen Menschen widerstanden werden, muss annehmbarer Wohnraum für alle bereitgestellt werden. Oder droht die Blechkisten-Architektur in Zukunft neben den Geflüchteten auch Studierenden, »Hartz IV«-Beziehern und verarmten alten Menschen? Welche Vorstellungen kursieren zurzeit in der Politik, bei Lobbyverbänden und Architekten? Bei der Bewertung des Diskurses und von Programmatik und Praxis aktueller Wohnungspolitik sind zwei Aspekte zentral: ausreichende Wohnversorgung für alle und bedürfnisgerechtes Wohnen.
Nach Angaben des kürzlich veröffentlichten Wohnungsmarktberichts der Investitionsbank Berlin (IBB) verzeichnet Berlin einen jährlichen Zuwachs von etwa 40.000 Menschen zuzüglich den zehntausenden Flüchtlingen, die auch in diesem Jahr erwartet werden. Der Senat steht also vor einem massiven Versorgungsproblem. Für 2015 gehen Schätzungen von 12.000 bis 15.000 fertiggestellten Wohnungen aus. Nach Expertenmeinung ist jedoch allein zur Erhaltung des Bestands ein jährlicher Neubau von etwa 19.000 Wohnungen erforderlich. Der jährliche Zuzug erfordert weitere 15.000. Insgesamt müssten also um die 34.000 Einheiten pro Jahr zusätzlich bereitstehen – die Versorgung der Flüchtlinge nicht einberechnet.
Die Berliner Regierung reagiert, indem sie das Wohnen auf dem Niveau eines Substandards für alle einkommensschwachen Gruppen fördert. Mitte März stellte sie ihren »Masterplan Integration und Sicherheit« vor, in dem fixiert wird, was zuvor schon öffentlich diskutiert wurde. Geplant ist, an 60 Standorten sogenannte Modulare Unterkünfte für Flüchtlinge (MUFs) in Leichtbauweise einzurichten, mit mindestens 24.000 zusätzlichen Plätzen und einer »Lebenszeit« von etwa 80 Jahren. Daneben werden für etwa 15.000 Menschen Containerdörfer mit einer Nutzungsdauer von bis zu drei Jahren aufgestellt. Die MUFs erlauben dabei mehrere Gebrauchsvarianten: eine dauerhafte Unterbringung für Flüchtlinge, Studierende oder wohnungslose Familien. Damit ist das eigentliche Problem vorgegeben. Immer mehr Menschen sollen in Zeiten knapper Kassen ihr Leben zukünftig an der Schwelle von bloßer Unterbringung zu »richtigem« Wohnen verbringen.
Viele Architekten lieben es, mit begrenzten Budgets kreativ umzugehen und alternative Wege bei der Unterbringung geflüchteter Menschen vorzuschlagen. So legte Anfang Januar das Netzwerk Architekten für Architekten zusammen mit dem Flüchtlingsrat Berlin und anderen Gruppen einen »Stufenplan« vor. Die Betroffenen sollen möglichst schnell in normalen Mietwohnungen untergebracht werden, die vor allem durch Aufstockungen, Umnutzungen und Nachverdichtungsmaßnahmen entstehen können. Die Bundesarchitektenkammer betont in einem aktuellen Positionspapier ebenfalls, dass die Städte dichter und kompakter werden müssen. Auch Architekturprofessor und Buchautor Jörg Friedrich setzt auf Wohnkonzepte auf kleinstem städtischen Raum, auf eine Nutzung von Baulücken und Flachdächern, sogar Schrebergarten-Siedlungen. Dass die allseits geschätzten »Architekturen des Ankommens« billig sein müssen, wird in der Architektenszene unhinterfragt akzeptiert. Die Idee von Verdichtung und Flächenreduzierung wird bisweilen nicht zufällig verbunden mit einer ausgeprägten Skepsis gegenüber einem sozial inspirierten Neubau mit Normalstandard.
Dietmar Eberle etwa, ein renommierter ökologisch denkender Architekturprofessor in Zürich, ist dafür, massenhaft günstigen Wohnraum unterhalb der Preisschwelle eines vollwertigen Neubaus zu planen. Städtisches Wohnen für alle bleibt für ihn nur bezahlbar, wenn die Ansprüche abnehmen. Die Wohnflächen müssten sinken – die entstehende Verdichtung führe zwangsläufig zur gewünschten sozialen Durchmischung. Nicht mehr als ein Viertel des Einkommens solle für die Wohnung ausgegeben werden müssen, so dass kleinere Wohnflächen die Regel würden.
Nach Auffassung von Peter Cachola Schmal, Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt, müssen im Wohnungsbau endlich einfachere Qualitätsmaßstäbe gesetzt werden, um die Preise nicht in die Höhe zu treiben. Schlichtbauten lehnt er darum nicht per se ab, wie er Ende letzten Jahres der Frankfurter Rundschau verriet. Der Vertreter des Instituts, das sich selbst als »nationales Zentrum für Architekturdebatten« versteht, will ein Motto eines internationalen Kongresses für Moderne Architektur aus dem Jahr 1929 wieder aufgreifen und proklamiert einmal mehr »Die Wohnung für das Existenzminimum«. Damals bestand die zentrale Aufgabe darin, schnell akzeptable Wohnungen für die proletarisierten Massen bereitzustellen. Walter Gropius und Co setzten auf eine technische Lösung des Problems – so wie viele ihrer KollegInnen heute angesichts der hohen Flüchtlingszahlen auch. Sie entwarfen kostengünstige Kleinstwohnungen, die in standardisierter Form und als Massenproduktion errichtet werden sollten. Die Minimalwohnung entsprach aus dieser Sicht den Bedürfnissen einer Industriebevölkerung, die möglichst gesund leben, dafür aber nur wenig Raum benötigen sollte. Die Architekturavantgarde ließ sich bei der Planung ihres räumlich reduzierten Wohnungsbaus sogar von Schiffskabinen und Eisenbahnwagen inspirieren (versenkbare Betten, ausklappbare Tische und so weiter).
Damals noch als Fortschritt gegenüber den aus dem 19. Jahrhundert überkommenen elenden Wohnverhältnissen gedacht, wenden sich viele Vordenker der Architektenzunft heute gegen angeblich überzogene Erwartungen auch finanzschwacher Menschen. Sie testen aus, was alles mit Containern oder Holzbaumodulen machbar ist. Sie entwerfen Mischkonzepte für Geflüchtete, Alleinerziehende und Wohnungslose und bewerben ihre Ideen mit der Aussicht auf eine stärkere »gesellschaftliche Teilhabe« am Raum der Stadt (»Durchmischung«). Große Visionen treffen auf kleine Baukosten, die Ergebnisse sind Provisorien, die sich verstetigen, also nicht so schnell wieder abgebaut werden. Und die langfristig die neue Norm bilden. Auch auf der Architekturbiennale in Venedig ab Ende Mai wird der neue Minimalstandard des Wohnens im Rahmen des deutschen Beitrags unter dem Motto »Making Heimat« gelobt werden. »Dieser Deutsche Pavillon ist der politischste, den es bei einer Architekturbiennale gab«, schreibt der Freitag in seiner Ausgabe am 17. März. Nicht unbedingt ein gutes Signal für Freunde eines menschenwürdigen Wohnens trotz Dauerkrise. Wie wäre es dagegen mit einem sozialen Wohnungsbau, der marktfern und vollständig auf den Einsatz öffentlicher Gelder für die Errichtung neuer und guter Wohnungen setzt, wo die Mieten politisch festgelegt werden und bei dem die staatliche Intervention privaten Eigentümern nicht die Taschen füllt? Ideen dazu gibt es. Einfach mal im Netz suchen: »Für einen neuen kommunalen Wohnungsbau!«