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Titel816

Den Heldentod gestorben  (Eckart Spoo)

»Den schönsten Tod in dieser Welt / stirbt wer als Held / getreu für gute Sache fällt«, steht am Friedländer Tor in Neubrandenburg auf einer Bronzeplatte zu Ehren des Kapitäns Pflug. Der hier mit einem Teil der schwedischen Besatzung am 9. März 1631 bei der Erstürmung der Stadt durch Tillys Truppen den »Heldentod« gestorben sei.

Solche dummdreisten Sprüche erinnern mich immer an einen Tag im Jahre 1942: Meine Mutter weckte mich aus dem Mittagsschlaf, der mir für die Stunde vor dem Essen verordnet war, weil meine älteren Geschwister meistens später aus der Schule kamen als ich aus dem Kindergarten. An diesem Tag weckte sie mich noch später als sonst. In der Regel half sie oder das »Dienstmädchen« mir beim Anziehen, vor allem beim Zuknöpfen des Leibchens und Befestigen der langen Strümpfe. Diesmal nicht. Mutter sah sehr ernst aus. Sie sagte, ich sei ja jetzt ein großer Junge, der sich selber anziehen könne. Die vier Großen säßen schon alle am Tisch. Vorhin sei die Nachricht gekommen, dass Vater in Russland »den Heldentod gestorben« sei. Mehr sagte sie nicht. Ich war aufgeregt und eilte mich, ihr ins Esszimmer zu folgen, damit mir keine Einzelheit entging.


Doch in dem langen Raum mit den schweren Eichenmöbeln, von dessen Stirnwand Friedrich der Zweite von Preußen, Otto von Bismarck und zwischen ihnen Adolf Hitler uns bei allen Mahlzeiten finster und entschlossen zusahen, war es ungewöhnlich still. Ich saß gegenüber meinen beiden Brüdern. Gebeugt blickten sie auf die Teller, Eintopf löffelnd. Niemand sagte etwas. Ich verstand das nicht: Vater war den Heldentod gestorben, unser Vater war ein Held. Ich war stolz, aber Volker und Armin schwiegen. Wussten sie etwa noch nicht, was geschehen war? Ich fragte: »Habt Ihr gehört …?« Ihre abweisenden Blicke ließen mich sofort verstummen.


Bei der Trauerfeier wurde ich getröstet. Die holzgetäfelte Aula des Humanistischen Gymnasiums war mit Hakenkreuzfahnen geschmückt. Alle Redner bestätigten mir, dass mein Vater als Held unseres Volkes und Vaterlandes zu verehren sei. Viele festlich gekleidete Menschen traten dann vor dem Ausgang zu uns, legten den Arm auf meine Schulter, Frauen streichelten mich, den jüngsten Sohn des Helden.


Vater, den ich kaum kannte – er hatte sich schon Anfang 1939 freiwillig zu den Kriegsvorbereitungen gemeldet –, starb in Russland an einem Bauchschuss. Ich lernte später, mir seinen »Heldentod« in allen Einzelheiten vorzustellen: wie das Gedärm aus dem Körper quoll, wie er schrie, wie niemand mehr auf den Kompanieführer hörte …


Und jetzt verkündet die Stadt Neubrandenburg ihren Einwohnern und Touristen, den Studierenden ihrer Hochschule und den dort stationierten Soldatinnen und Soldaten, »den schönsten Tod in dieser Welt« sterbe, »wer als Held getreu für gute Sache fällt«. Als gute Sache – damals im 30-jährigen Krieg – soll offenbar für immer die schwedische Besatzung gelten, als schlechte Sache die der kaiserlichen Truppen, denen sich jedoch nur ein Teil der Schweden entgegenstellte. Ich wüsste nicht, wie ich da zwischen gut und schlecht unterscheiden könnte.


Die »gute Sache«, der mein Vater bis zu seinem Ende getreu blieb, war eine verbrecherische. Gegen Juden, Slawen, Roma, Kommunisten, Pazifisten, gegen die Menschheit richtete sich der Krieg, an dem er sich als Offizier beteiligte – überzeugt, dass er das Recht habe, sie zu vernichten. Ich brauchte manche Jahre, um in einsamer Auseinandersetzung mit dem toten Vater zu erkennen, dass sich sein Krieg gegen meinesgleichen richtete, also gegen mich. Mein Vater = mein potentieller Mörder.


Ein Passant in Neubrandenburg, der beobachtete, was wir von der Tafel am Friedländer Tor abschrieben, trat heran, las den Spruch über den »schönsten Tod«, schüttelte sich und sagte: »Ich würde lieber überleben.« Ja, bitte. Und die Stadt Neubrandenburg, die im Zweiten Weltkrieg schwere Zerstörungen erlitt, soll bitte Antifaschisten, Kriegsdienstverweigerer, Deserteure ehren.