Ja oder Nein. Morgen, am 16. April, sind die Bürger der Türkei dazu angehalten, über ein Paket umfassender Verfassungsänderungen abzustimmen. Wer die Entwicklung des Landes in den letzten Jahren verfolgt und sich die vorgeschlagenen Änderungen Paragraf für Paragraf angeschaut hat, weiß, dass es hier um nichts anderes geht als um die verfassungsrechtliche Verankerung einer de facto schon fast vollständig bestehenden Präsidialdiktatur.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan sieht sich zu diesem Schritt gezwungen, da sein Thron seit Jahren wackelt. Mit dem Gezi-Aufstand 2013 gingen Millionen Menschen gegen die zunehmend autoritäre Herrschaft der AKP auf die Straße. Ab Ende 2013 lieferte sich die AKP einen Krieg im Staate mit ihrem einstigen Hauptverbündeten, der Gemeinschaft des Predigers Fethullah Gülen. Die schwindende Legitimation führte zu einem herben Schlag bei der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015: Die pro-kurdische, linke HDP rutschte mit unerwarteten 13,1 Prozent ins Parlament, die AKP verlor hingegen knapp zehn Prozent an Stimmen und sackte auf 40 Prozent ab. Die Tendenz war klar: Sollte sich der Trend fortsetzen, wäre die AKP nicht mehr lange an der Macht geblieben und in der Türkei hätte ein linker, liberaler Diskurs vorgeherrscht.
Erdoğan und die AKP zogen die Notbremse: Da sie sich nicht mehr Legitimation per Zustimmung erheischen konnten, verlegten sie sich auf Gewalt und Zwang. Und zwar nicht nur, um Opposition zu unterdrücken, sondern um eine andere Form der Zustimmung hervorzubringen: Der AKP gelang es, durch die Eskalation des barbarisch geführten Krieges in mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten der Türkei den Großteil der Rechten und der Faschisten, aber auch des Militärs hinter sich zu versammeln.
Schnell stellte sich das zentrale Problem ein, das sich bei Faschisierungsprozessen immer einstellt: Cliquenkrieg um die absolute Macht. Teile des wiedererstarkten Militärs versuchten, am 16. Juni 2016 gegen das Regime zu putschen. Das schlug zwar fehl, weil sie aufgeflogen waren. Aber viele Militärs und das Ausland hatten über Stunden hinweg gewartet, wer obsiegen würde. Sie waren und sind bereit, der AKP in dem Moment mit aller Wucht in den Rücken zu fallen, wo sie stürzt.
Kriselnder Faschisierungsprozess
Die AKP konterte mit einem Prozess rasender Faschisierung. Die islamisch-konservative Regierung Erdoğans suspendierte bis heute über 130.000 Staatsbedienstete und schloss hunderte Medien, Tausende AkademikerInnen verloren ihre Jobs. Die Regierung in Ankara ließ fast alle kurdischen Zivilverwaltungen durch koloniale Zwangsverwalter ersetzen. Und im Vorlauf zum Referendum wurde alles als terroristisch kriminalisiert, was sich gegen die diktatorialen Absichten Erdoğans stellte. Zusätzlich marschierte die Türkei in Nordsyrien ein, um die Verbindung der beiden Kantone Kobanê und Afrîn zu verhindern und nach innen das Image der mächtigen Führung zu wahren.
Die verfassungsrechtliche Verankerung und Absicherung der de facto schon existierenden Präsidialdiktatur soll nun die Krönung dieses Faschisierungsprozesses sein und endlich die Hegemoniekrise beenden. Es ist aufgrund der Kräfteverhältnisse aber unwahrscheinlich, dass das gelingt. Bei aller Repression und Gewalt – der derzeitige Faschisierungsprozess ist ein strukturell schwacher. Das hat mehrere Gründe.
Das Regime vermag nicht, die kurdische Arbeiterpartei PKK zu besiegen. Trotz des barbarischen Krieges in den Jahren 2015/16, der mehr als ein Dutzend kurdische Städte in Schutt und Asche legte, kann nicht davon gesprochen werden, dass der PKK gravierende Verluste beigebracht worden wären. Bewirkt wurde jedoch, dass die kurdische Bevölkerung noch weiter vom Staat abgerückt ist. Das Einsetzen kolonialer Zwangsverwalter wird nicht das Ansehen des Staates, dafür aber die ökonomischen und politischen Kosten für das Regime erhöhen. Gleichzeitig setzen PKK und PKK-nahe Organisationen ihre militärischen Aktivitäten in Form von Guerilla-Aktionen und Bombenanschlägen unvermindert fort.
Die fortgesetzte Herausforderung des Regimes seitens der PKK bewirkt eine strukturelle Instabilität der derzeitigen Staatskoalition. In den Medien mag es so erscheinen, als ob Erdoğan den Staat und die gesamte Gesellschaft dominiert. Der Sachlage entspricht das nicht. Die AKP ist durchaus auf andere, relativ selbständige politische Akteure angewiesen, will sie an der Macht bleiben. Sie braucht die faschistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP), um das nationalistische Lager für sich zu mobilisieren und die Leerstellen im Militär auszufüllen. Aus selbigem Grund und um die Wiederannäherung an Syrien und Russland zu ermöglichen, braucht die AKP auch die Unterstützung der national-sozialistischen Vaterlandspartei (VP), die zum Großteil aus hochrangigen Ex-Militärs und -Geheimdienstlern mit vorzüglichen Verbindungen nach Russland und Syrien besteht. Nicht zuletzt braucht sie die Unterstützung der weiterhin NATO-nahen Militärführung im Krieg gegen die kurdische Bewegung, aber auch, um sich einen weiteren Militärputsch vom Hals zu halten.
Das Problem der AKP: All die genannten Gruppierungen sind der AKP gegenüber, aber auch wechselseitig feindlich eingestellt. Sie befinden sich derzeit bloß im Zweckbündnis um die Macht. Wie die Putschisten vom 15. Juni 2016 werden sie die absolute Macht jeweils für sich selbst beanspruchen, wenn sie der Meinung sind, die Kräfteverhältnisse seien günstig genug für eine Machtübernahme. Das wird vor allem dann der Fall sein, wenn Erdoğan und die AKP nicht mehr überzeugend mit Gegnern oder Krisen umgehen können.
Zum Beispiel wenn sich die außenpolitischen Krisen derart häufen, dass das internationale Renommee der Türkei vollends schwindet. Die Nordsyrieninvasion stellt sich als kostspielig heraus und brachte bisher nicht die erhofften Vorteile. Gegenüber dem Irak hat man nur Drohgebärden auffahren können. Weder in der Mossul-Operation noch anderweitig kann die Türkei derzeit effektiv mitmischen. Und mit der EU hat man sich‘s wegen der Nazi-Vergleiche fast vollständig verdorben. Das kann sich die Türkei aber nicht leisten: 80 Prozent des Auslandsdirektinvestitionsbestands in der Türkei kommen aus Europa, die meisten Importe und Exporte kommen aus beziehungsweise gehen nach Europa.
Und weil das so ist und sich die verschärfende Instabilität negativ auf das ausländische Kapital auswirkt, beschwert sich auch das türkische Kapital. Während die AKP-nahen Unternehmen massiv auf sich stetig verteuernde Devisen angewiesen sind, sind die Großkonglomerate, die die Kommandohöhen der Wirtschaft besetzen, auf ausländische Investitionen angewiesen. Zwar ist die türkische Großbourgeoisie aus historischen Gründen zu rückgratlos, um eine Alternative zur AKP zu forcieren. Sie ist aber mittlerweile derart unzufrieden mit dem sich selbst völlig überschätzenden Kurs von Erdoğan, dass sie nur darauf wartet, dass ihr eine Alternative in den Schoß springt.
Widerstandsdynamiken
Der Regierung in Ankara ist es bisher nicht gelungen, allen Widerstand auszulöschen. Aber kein faschistisches Regime kann einigermaßen stabil sein, ohne jede Opposition zerschlagen zu haben, ohne die Straßen mit massenhafter Militanz zu dominieren. Trotz zahlreicher Versuche fehlt der AKP immer noch eine faschistische Straßenorganisation im Stile einer SA. Andererseits sind die Potentiale des Gezi-Aufstands noch nicht verschüttet. Das zeigt die derzeitige Nein-Kampagne: Eine Social-Media-Welle zum Nein hat eingesetzt. In den meisten Städten der Türkei sind sogenannte Nein-Komitees entstanden, in denen sich organisierte linke Opposition und nicht-organisierte DemokratInnen und Oppositionelle begegnen, um gemeinsam den Kampf gegen die Diktatur zu führen.
Und weil es an allen Enden und Ecken kriselt, wird auch eine Wahlmanipulation der AKP nicht helfen. Dennoch sind die Mobilisierungen im Vorlauf zum Referendum und das Referendum selbst wichtig. Kommt ein Ja dabei heraus, ist es wahrscheinlich, dass zunächst eine Demoralisierung der Massen stattfindet. Erdoğan wird sich dann noch weiter in seine Hybris hineinsteigern, und es wird zu erwarten sein, dass es unter den reaktionären Cliquen im Staat oder zwischen dem türkischen Regime und anderen Staaten aus den oben beschriebenen Gründen kracht. Dann dürfte es noch ungemütlicher werden.
Bei einem Nein wird die Sache anders aussehen. Erdoğan wird vermutlich nach seinem Motto aus dem Jahre 2015 – »entweder ich oder Krieg, Bomben, Repression« – agieren wollen. Aber seine Machtbasis wird sich verengen. Viele AKP- und MHP-WählerInnen werden gegen ihn gestimmt haben, die Opposition in beiden Parteien stärker werden. Gleichzeitig werden der linke Flügel der Republikanischen Volkspartei CHP und die pro-kurdische HDP einen Aufschwung erleben. Vor allem wird bei einem Nein-Sieg jede mögliche bürgerliche Alternative den Werktätigen gegenüber demokratische Konzessionen machen müssen. Endet die derzeitige Gewaltherrschaft, werden die zurzeit unterdrückten demokratischen Massenkämpfe mit voller Wucht zurückkommen. Je besser der Organisationsgrad der entsprechenden Kräfte während und nach dem Referendum ist, desto mehr demokratische Konzessionen wird man der Bourgeoisie abringen können.