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Titel817

Gleiche Rechte für alle, die hier leben  (Ulla Jelpke)

1,4 Millionen in Deutschland lebende türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind bei Wahlen in der Türkei wahlberechtigt. Sie könnten das Zünglein an der Waage beim Verfassungsreferendum über die Einführung einer Präsidialdiktatur in der Türkei sein. Denn alle Meinungsumfragen sagen ein knappes Ergebnis voraus. Entsprechend bemüht sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan um die Stimmen der türkeistämmigen Wahlberechtigten in Deutschland. Diese haben schon – soweit sie überhaupt zur Abstimmung gingen – bei der Parlamentswahl im November 2015 mit fast 60 Prozent mehrheitlich für die religiös-nationalistische Regierungspartei AKP gestimmt. Allerdings beteiligten sich bei jener Wahl gerade einmal 40 Prozent der hier lebenden Wahlberechtigten. Ob das umständliche Wahlprozedere mit Registrierung und zum Teil langen Anfahrtswegen zu den Konsulaten die Mehrheit der Deutschtürken abgeschreckt hat oder aber diese sich eben doch in Deutschland und nicht in der Türkei zuhause fühlte, sei dahingestellt.

 

Für Erdoğan ist es jedenfalls entscheidend, möglichst viele Abstimmungsberechtigte aus Deutschland für eine Ja-Stimme an die Urnen zu bekommen. Dafür wird die von der AKP in der Türkei betriebene Polarisierung auf Deutschland übertragen. Wer gegen das Präsidialsystem ist, unterstütze Putschisten und Terroristen, heißt es. Auch in Deutschland herrscht unter türkeistämmigen Bürgern vielfach ein Klima der Angst. Für die Einschüchterung von Kritikern Erdoğans sorgt in Deutschland ein Netz aus hunderten von Agenten und bis zu 6000 Spitzeln, die sich unter anderem in den Moscheen des Islamverbandes DITIB, in Reisebüros und türkischen Banken finden. Dazu kommen die Schlägertrupps der faschistischen Grauen Wölfe und vom türkischen Geheimdienst unterwanderte Rocker der Osmanen Germania.

 

Die Folge dieser von außen betriebenen Polarisierung ist eine Spaltung innerhalb der türkeistämmigen Migration. Verwandte und alte Freunde sprechen nicht mehr miteinander, in Betrieben kommt es zu Konflikten. Bewusst schürt Erdoğan zudem den Konflikt mit der Bundesregierung, der er trotz PKK-Verbots in Deutschland Terrorunterstützung und nach Raumkündigungen für wahlkämpfende AKP-Minister »Nazi-Methoden« vorwarf. Dahinter steckt das Kalkül, so die nationalistischen Gefühle der Türken zu befeuern, um die Stimmen der Nationalisten beim Referendum zu bekommen.

 

Die wüsten Beschimpfungen Erdoğans gegen Deutschland und die Bundesregierung, unverhohlene Terrordrohungen gegen Europäer und Aufmärsche nationalistischer Türken in Deutschland spielen dabei zugleich fremden- und islamfeindlichen Kräften von AfD über Pegida bis zum rechten Rand der Unionsparteien in die Hände. Gestärkt werden damit diejenigen, die ihrerseits die Rechte von Migranten weiter einschränken wollen. Das ist durchaus beabsichtigt. Denn hinter Erdoğans Provokationen steckt die durchsichtige Strategie, so eine antitürkische Stimmung in Europa zu schüren und vorhandene islamfeindliche Ressentiments weiter anzuheizen, um einen Spaltkeil zwischen die häufig muslimischen türkeistämmigen Migranten und die Mehrheitsgesellschaft zu treiben. Im Zuge dieser Polarisierung stellt sich Erdoğan als der Verteidiger der Ehre der Türken und Retter der Muslime dar. Deutsche und türkische Nationalisten werfen sich dabei gegenseitig die Bälle zu – zu Lasten der türkeistämmigen Bürger. Erdoğan ist so Teil der internationalen rechtspopulistischen Bewegung.

 

Die Geistesverwandtschaft rechter Hetzer aus Deutschland und der Türkei äußert sich nicht nur in ihrer Ablehnung von allem »Fremden«, in ihrem Frauenbild oder ihrer Stellung zu den Rechten von Homosexuellen. Ausgerechnet die selbsternannten Kämpfer gegen die »Islamisierung des christlichen Abendlandes« sind sich mit dem islamistischen Diktator Erdoğan auch einig, wenn es gegen die freie Presse geht. So applaudierten AfD-Funktionäre hämisch zur Inhaftierung des Welt-Journalisten Deniz Yücel, Pegida-Frontmann Lutz Bachmann wünscht diesem gar die Hinrichtung in der Türkei. AfD und Pegida hatten dem Deutschtürken Yücel einen satirischen Beitrag über das angebliche Aussterben der Deutschen vor einigen Jahren in der taz nicht verziehen.

 

»Wer als Deutschtürke in der Bundesrepublik Rechte einfordert, sollte sich bitte auch in der Türkei dafür einsetzen. Sonst stärkt man die Rechtspopulisten in Deutschland«, meint zurecht der Abgeordnete der links-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und Staatsrechtler Mithat Sancar aus Mardin im ARD-Interview. »Der Kampf gegen die AfD hier muss einhergehen mit dem Kampf gegen Erdoğans Politik in der Türkei. Viele Deutschtürken haben das leider noch nicht gemerkt.«

 

Dass in Deutschland nicht der Faschismus herrscht, wie Erdoğan mit seinen Nazi-Vorwürfen an die Adresse der Bundesregierung suggeriert, dürfte den meisten hier lebenden türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürgern durchaus bewusst sein. Gleichwohl treffen Erdoğans Worte auf eine tatsächliche Diskriminierungserfahrung vieler Deutschtürken, die sich auch nach Jahrzehnten oder gar in vierter Generation in Deutschland noch als Bürger zweiter Klasse empfinden. Verwunderlich ist dies nicht, solange ein türkischer Name weiterhin zu Problemen bei der Wohnungs-, Ausbildungsplatz- und Arbeitssuche führen kann, sich Anschläge auf Moscheen häufen und trotz Millionen hier lebender Muslime regelmäßig die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland in Frage gestellt wird.

 

Ein konsequentes strafrechtliches Vorgehen gegen Erdoğans Spitzelnetzwerk in Deutschland ist unabdingbar, um die Millionen in Deutschland lebenden türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürger vom Würgegriff aus Ankara zu befreiten. Doch Repression gegen türkische Agenten kann nur die eine Seite sein. Um die Avancen des Möchtegern-Sultans ins Leere laufen zu lassen, sind vor allem politische Maßnahmen für eine echte Integration notwendig. Die richtige Antwort auf Erdoğans Griff nach den Türkeistämmigen müsste lauten: Gleiche und demokratische Rechte einschließlich des Wahlrechts für alle Menschen ungeachtet ihres Passes, wenn sie hier bei uns ihren dauernden Lebensmittelpunkt haben.