Mit der Göttinger Erklärung wandte sich eine Gruppe von 18 hochangesehenen Atomforschern aus der Bundesrepublik Deutschland (darunter die Nobelpreisträger Otto Hahn, Max Born und Werner Heisenberg) am 12. April 1957 gegen die damals namentlich von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß angestrebte Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen (unterstützte aber aktiv die sogenannte zivile Nutzung). Unmittelbarer Anlass war eine Äußerung Adenauers vor der Presse am 5. April 1957, in der er taktische Atomwaffen lediglich eine »Weiterentwicklung der Artillerie« nannte und forderte, auch die Bundeswehr müsse mit diesen »beinahe normalen Waffen« ausgerüstet werden.
In dem Manifest heißt es unter anderem: »Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.
Erstens: Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als ›taktisch‹ bezeichnet man sie, um auszudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als ›klein‹ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten ›strategischen‹ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben …
Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.«
Die Wissenschaftler erklärten, sich an der Entwicklung derartiger Waffen nicht zu beteiligen. Heute würde von Verweigerung oder zivilem Ungehorsam gesprochen. Die Erklärung fand einen großen öffentlichen Widerhall: Die Bundesregierung reagierte scharf ablehnend, der damalige Verteidigungsminister bezeichnete die Unterzeichner als Vaterlandsverräter. Die Opposition und viele gesellschaftliche Gruppierungen, unter anderem die beiden großen Volkskirchen und die Gewerkschaften, griffen die Erklärung auf und unterstützten sie. Mit ihrer Unterstützung entwickelte sich eine breite Friedensbewegung gegen die Atomwaffen. Die Erklärung war eine Sensation, engagierten sich doch führende deutsche Wissenschaftler erstmals nach 1945 regierungskritisch.
Die Absicht der Bundesregierung scheiterte, Deutschland blieb ohne Atomwaffen (aber mit nuklearer Teilhabe) und musste 1973 den Atomwaffensperrvertrag (mit Vorbehalt) unterzeichnen.
Der Griff zur deutschen und europäischen Bombe wird nach Brexit und Trump heute wieder verstärkt diskutiert. Reagiert die Wissenschaft erneut couragiert?
Der Wortlaut der Göttinger Erklärung ist zu finden via: https://www.uni-goettingen.de/de/die-göttinger-erklärung-1957/54319.html