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Titel818

Geschichtsschreibung hinterfragen  (Stephanie Odenwald)

War Gutenberg eine Johanna oder ein Johannes oder beides? Es wird Zeit, Geschichtsschreibung feministisch zu hinterfragen.

 

Männer machten Geschichte in den frühen vergangenen Jahrhunderten. Als große Erfinder, Maler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Regenten, Politiker, Philosophen. Die Geschichtsbücher sind voll davon. Anerkannte Erfinderinnen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Philosophinnen waren lange Zeit die große Ausnahme. Doch allmählich werden sie wieder ausgegraben. Vor einigen Jahrhunderten wurden Frauen, die sich zum Beispiel in der Heilkunst auskannten, sogar als Hexen verurteilt und verbrannt.

 

Inzwischen spielen Frauen einerseits eine große öffentliche Rolle in der Kunst und Wissenschaft, in der Politik und Wirtschaft, andererseits sind sie in Beruf, Zusammenleben sowie in der Politik nach wie vor Benachteiligungen ausgesetzt. Rebellion ist angesagt, um das 21. Jahrhundert endlich zum Jahrhundert einer realen Gleichberechtigung werden zu lassen. Dazu gehört auch die Fragestellung: Wie viele höchst kreative, erfinderische und vieles bewirkende Frauen der Vergangenheit sind immer noch unbekannt oder sogar hinter Männernamen versteckt? Stellen wir uns vor: Was hätte ein Mädchen in den Zeiten einer absoluten Männerherrschaft besseres tun können, als sich als Junge oder Mann auszugeben? Eine Jeanne d´Arc hat sich als Mann verkleidet, um das französische Befreiungsheer anzuführen. Ein Mädchen namens Johanna gab sich als Junge aus, um in einer Klosterschule lernen zu können, ging als heilkundiger Mönch nach Rom und wurde zum Papst gewählt, so in dem Roman »Die Päpstin«. Nur ein Roman? Dazu kommt: Heute wissen wir, dass die Geschlechter nicht immer eindeutig sind. Jahrhundertelang ein Tabu, an dem inzwischen gerüttelt wird. Schon 1928 hat Virginia Woolf in »Orlando« eine Romanfigur geschaffen, die sich von einem Geschlecht ins andere wandelt. Virginia Woolf stellte die eindeutige Geschlechterzuteilung und die damit verbundenen Rollen in Frage. Sie ermutigt uns zum Zweifel: Wieso wird umstandslos angenommen, dass der Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Bleilettern ein Mann war, nämlich Johannes Gutenberg? Woher weiß man das?

 

Das meiste, was über Gutenberg geschrieben wird, ist eine Fiktion. Wie er auf den Bildern aussieht, ist ein Produkt der Phantasie, denn zu seinen Lebzeiten, um 1400 bis 1468 wird angenommen, ist kein einziges Bild von ihm gemacht worden. Ein stattlicher bärtiger, edel gekleideter Mann blickt uns vom Porträt aus dem 16. Jahrhundert entgegen. Dieses Bild taucht immer wieder auf, siehe Gutenberg auf Briefmarken, im Film et cetera. Doch vielleicht hatte er gar keinen Bart! Vielleicht war er gar kein Mann! Noch nicht einmal eine Eintragung im Geburtsregister der Stadt Mainz ist nachweisbar, wo die Familie Gensfleisch, sein eigentlicher Familienname, mit ihren Kindern lebte. Die Wirren dieser Zeit vertrieben die Familie dann zeitweise nach Eltville. Gutenberg hielt sich später bis zu einem Jahrzehnt in Straßburg auf und betrieb dort eine Werkstatt. Über eine Heirat ist nichts bekannt, auch nicht dass er Kinder hatte. Eine Eintragung über seinen Tod und die Bestattung ist nicht auffindbar. Die Quellen über sein Leben und Wirken sind Gerichtsakten aus Straßburg und Mainz, Steuerlisten und selbstverständlich seine Druckwerke wie die Bibel mit 42 Zeilen pro Seite.

 

Der auf der Frankfurter Buchmesse 2017 gezeigte dokudramatische Film über Gutenberg (eine Koproduktion von ARTE, ZDF, SWR und ORF) zeigt natürlich einen Mann. Unhinterfragt. Die im Film befragten Expertinnen und Experten äußern sich zu den Fragen der Erfindung des Buchdrucks. Wie hat Gutenberg die beweglichen Lettern erfunden und wie hergestellt? Wie kann seine Tätigkeit heute rekonstruiert werden? Alles wichtige Themen. Schließlich hat die Erfindung dieser Form des Buchdrucks dazu beigetragen, die Welt zu verändern. Gutenberg wurde zum »Mann des Jahrtausends« gekürt (laut amerikanischem A&E Network, 1999). Eine ketzerische Frage fehlt: Können wir uns Gutenberg als Johanna vorstellen? Johanna Gutenberg, »die Frau des Jahrtausends«!

 

Das Drehbuch dazu könnte auch realistisch sein: Die Mainzer Familie Gensfleisch, später wurde »von Gutenberg« zugefügt, gehörte zu den Patriziern und Kaufleuten. Als drittes Kind wird ein Knabe erhofft. Als ein Mädchen geboren wird, sind die Eltern verzweifelt. Wer wird ihr Geschäft weiterführen, ihren Familiennamen? Sie beschließen, das Kind Johann zu nennen und es wie einen Jungen großzuziehen. Alle werden auf dieses Geheimnis eingeschworen. Die kleine Johanna wächst als Johann auf, ein wissbegieriges Kind, das auf die Mainzer Lateinschule geht und danach wahrscheinlich eine Goldschmiedelehre absolviert. Für Frauen damals nicht erlaubt. Die männliche Verkleidung bringt viele Einschränkungen mit sich. Sich verlieben und gar heiraten, geht nicht. Dann würde alles auffliegen. Liebe und Sex bleiben Geheimsache. Johanna, die als Johannes lebt, widmet sich der Aneignung von Wissen und handwerklichen Fähigkeiten. Sie ist wie viele in ihrer Zeit hungrig nach Büchern. Sie trifft in Straßburg Reisende, die von der damaligen Handelsroute nach Asien, der Seidenstraße, erzählen. Und als sie hört, dass im weit entfernten China und Korea Bücher nicht mehr nur mühevoll abgeschrieben, sondern in Druckverfahren vervielfältigt werden, beschäftigt das ihr Denken ohne Unterlass. Sie tüftelt und tüftelt, wie sich druckbare Buchstaben und daraus ein ganzes Buch herstellen lassen. Und zurück in Mainz findet sie den Dreh endlich heraus. Damit ist der Anfang für alles weitere gemacht.

 

 

Dr. Stephanie Odenwald ist Berufsschullehrerin und Soziologin, war acht Jahre im Bundesvorstand der GEW, wirkt bei der Zeitschrift Sozialismus mit und lebt in Berlin.