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Titel818

Lulas Verhaftung  (Wolf Gauer)

Seit dem 7. April und somit nach 37 Jahren hat Brasilien wieder einen politischen Gefangenen: Luiz Ignácio Lula da Silva, Präsident Brasiliens von 2003 bis 2011 und Kandidat der Arbeiterpartei (PT) für die Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober. Die Vermittlungsorganisationen des Weltsozialforums haben eine dringende Bitte um weltweite Solidarität mit Brasilien veröffentlicht (siehe unten). Einige Bemerkungen zum Verständnis der darin geschilderten Lage seien vorausgeschickt.

 

1852 ironisierte Karl Marx Hegels Annahme, dass sich große geschichtliche Ereignisse wiederholen. Wenn überhaupt, meinte er, dann zuerst als Tragödie und danach als lumpige Farce. Mit Recht: Der unmaskierte brasilianische Militärputsch von 1964 und die folgenden 20 bleiernen Jahre waren eine Tragödie, der parlamentarische Staatsstreich von 2016 gegen die legal gewählte Präsidentin Dilma Rousseff (PT) die lumpige Farce. Gekaufte Hinterbänkler entmachteten die Präsidentin in einem grotesken und weltweit verspotteten Abstimmungsritual mitten in ihrer zweiten Amtsperiode. Rousseffs formaldemokratische Beseitigung war zugleich die Generalprobe zu einer legalistischen Verfolgung Lulas, die sich nach Meinung von Sachverständigen auf konstruierte oder zurechtgebogene Fakten stützt und auf die vorgebliche »Überzeugtheit« williger und zu diesem Zweck berufener oder zugewiesener Träger der Richter-Robe. »Ditatura da toga« (die Diktatur des Richter-Robe) ist inzwischen ein geflügeltes Wort in Brasilien.

 

Lulas eigentliches Vergehen ist nicht die weiterhin unbewiesene Annahme einer Eigentumswohnung, sondern dass er und seine entmachtete Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011-2016) der brasilianischen Demokratie zu einer völlig neuen, sozialorientierten Sinngebung verholfen haben. Mit Lula begann die Umverteilung des brasilianischen Reichtums in weniger als zehn Jahren. Laut UN-Belegen wurden 36 Millionen Brasilianer von der Armut befreit, die Kindersterblichkeit um 45 Prozent und die Unterernährung um 82 Prozent vermindert. Es entstanden 18 weitere öffentliche Hochschulen. (Die Weltbank empfiehlt und der gegenwärtige US-hörige Präsident Michel Temer denkt schon an die Schließung der kostenfreien, öffentlichen Universitäten).

 

Und vollends unverzeihlich: Lula beendete die Endlosverschuldung beim US-gesteuerten Weltwährungsfonds und verlegte die traditionelle vertikale Denkausrichtung des Landes, den Blick zum US-Norden, in die horizontale Achse: Fühlung mit Ost und West, mit Afrika, dem die Hälfte der 208 Millionen Brasilianer entstammen und – zum Ärger der USA – mit Indien, China und Russland. Brasilien wurde Mitbegründer des BRICS-Staatenbundes und dessen unabhängiger Finanz- und Entwicklungsorganisationen.

 

Einer wie Lula musste weg, einer der seine zweite Amtszeit 2011 mit einer Zustimmungsrate von 87 Prozent beendete und nun mit einer Wahlvoraussage von 35 Prozent weit vor den Mitbewerbern der kommenden Wahlen liegt. Lula ist damit kein brasilianisches Problem, sondern ein ungelöster Fall im globalen Krieg von Reich gegen Arm. Er ist Zielscheibe der für den desinformierten Laien unsichtbaren »hybriden« (gemischten, nicht unbedingt militärischen) Strategie, die von den globalen »Ein-Prozent« weltweit verfolgt wird – selbstverständlich unter Führung der USA.

 

Der Hybridkrieg verbindet politischen Druck mit Gleichschaltung der Kommunikationsmittel und der medialen Meinungsmache, mit Ausforschung über soziale Netze, mit massiver finanzieller, technischer und psychologischer Einflussnahme auf Wahlen und Verwaltungsprozesse.

Entscheidungsträger werden »gekauft«, trainiert und zur Ausformung eines fremdbestimmten »tiefen Staats« angeleitet. Präsident Temer beispielsweise, nunmehr Verschleuderer des brasilianischen Volkseigentums, war laut Wikileaks anfangs Informant der US-Botschaft. Richter Sérgio Moro, der Lulas Verhaftung zustande brachte, wurde wiederholt in den USA geschult. Senator Roberto Requião teilte seinem Gremium am 6. April mit, dass Moros Haftbefehl »haargenau die Vorgaben des US-Justizministeriums erfüllt« habe »und nicht die legalen brasilianischen Verfahrensregeln« (Brasil247, 8.4.18).

 

Mit Lula da Silva wurde die Konvergenzfigur der sozial fortschrittlichen Kräfte Brasiliens aus dem Weg geräumt. Der Gouverneur des Staats Maranhão Flávio Dino (PCdoB) sagt eine Verschärfung und Polarisierung des politischen Konflikts voraus. Angesichts der 35 Prozent, die Lula wählen wollten, kündigen sich eine reaktionäre Gegenbewegung und fortschreitender Abbau der demokratischen und sozialen Rechte an.

 

Brasilien fürchtet für Lula. Sein Wahlkampfbus ist am 27. März beschossen worden. Ein Mitschnitt aus der Funkverbindung des Militärflugzeugs PR-AAC, das den Gefangenen ins Gefängnis von Curitiba im Staat Paraná überführte, erübrigt jeden Kommentar: »... aber schmeiß den Dreck doch aus dem Fenster« (Jornal do Brasil, 8.4.18). Eine Verlegung in eine militärische Institution wird überlegt. Mahnwachen und Pilgerfahrten zu Brasiliens Mandela sind nicht willkommen. Luiz Ignácio Lula da Silva wurde inzwischen von den Friedensnobelpreisträgern Mohamed El-Baradei und Adolfo Perez Esquivel für die gleiche Ehrung vorgeschlagen.

 

Aufruf der Vermittlungsorganisationen des Weltsozialforums zur Solidarität mit dem brasilianischen Volk

Wir, die Organisationen, die am Vermittlungsprozess des Weltsozialforums vom 13. bis 17. März 2018 in Salvador [Brasilien, W. G.] beteiligt waren, bezeugen 80.000 Stimmen aus der enormen Vielfalt der weltweiten sozialen Auseinandersetzungen und sind Teil derselben. Sie belegen, dass die Realität der Unterdrückung bekämpft und verändert werden kann. »Widerstand ist Kreativität, Widerstehen ist Verändern« war das Motto des WSF 2018.

 

Brasilien war der Ort des Treffens von 2018. Es ist die Wiege des Weltsozialforums, zutiefst verbunden mit dem Kampf um Demokratie auf diesem Kontinent. Es erlebt heute den schwersten Angriff auf das demokratische Bemühen seit dem Staatsstreich gegen die Präsidentin Dilma Rousseff [2016, W. G.] mittels einer völlig ungerechtfertigten Amtsenthebung.

 

Die nunmehr von eindeutig politisch positionierten Gerichtshöfen herbeigeführte Verhaftung des Altpräsidenten Lula zwingt die demokratischen Stimmen zu dringendem Widerstand gegen diese Institutionen. Wegen Missbrauchs statt Förderung des Rechts gegenüber Leitfiguren der Bevölkerung.

 

Medien und Militärs haben das Oberste Gericht zu einer verfassungsfeindlichen Entscheidung erpresst, die nicht der eigentlichen Überzeugung seiner Richter entsprach. Zugleich wurden an die Militärdiktatur [1964-1985, W. G.] gemahnende Ängste heraufbeschworen. Die unterzeichneten Vermittlungsorganisationen des WSF 2018 rufen alle brasilianischen und internationalen Teilnehmerverbände, die weltweite Zivilbevölkerung und ihre kämpferischen Gliederungen dazu auf, den Staatsstreich zu denunzieren, der mit der Verhaftung des Altpräsidenten Lula seinen Höhepunkt erreicht hat.

 

Die dramatische Phase, die Brasilien durchlebt, benötigt die Einigkeit aller, die für eine gerechtere und demokratische Welt eintreten.

 

[...] Widerstand ist Kreativität. Widerstehen ist Verändern.

 

Brasilien, 5. April 2018

Die Organisationen der Vermittlungsgruppe des WSF 2018

(Übersetzung des portugiesischen Originaltexts: W. G.)