Drei Versprechungen hatten die führenden Brexiteers bis zum 29. März 2019 unbedingt einlösen wollen: keine Zahlungen mehr an die EU, keine Unterwerfung mehr unter EU-Recht und -Rechtsprechung, stattdessen Eindämmung der Zuwanderung. April, April, lautete der hämische Kommentar am Ersten des Monats, weil der Brexit ausgefallen war, und »Verrat« zehn Tage später, als Premierministerin May beim EU-Sondergipfel die Verschiebung des Brexit-Termins bis zum 31. Oktober 2019 ausgehandelt hatte. Welche Folgen ihr vom Tory-Abgeordneten Sir William Nigel Paul Cash als »unterwürfige Kapitulation« bezeichnetes Verhandlungsergebnis haben wird, bleibt abzuwarten. (Cash machte sich frühzeitig einen Namen als »Maastricht-Rebell«; 1991 veröffentlichte er das Buch »Against a Federal Europe: The Battle for Britain«.) Bei den neu ausgestellten britischen Reisepässen ist der Brexit freilich schon vollzogen. Seit dem 30. März fehlt auf ihnen die Bezeichnung »European Union«.
Die in den vergangenen Monaten immer tiefer gewordene Spaltung der konservativen Partei wird sie zwangsläufig über kurz oder lang zerreißen. Auch die sich – nein, nicht blind, sondern stoisch – an die Macht klammernde Theresa May dürfte dem wachsenden Druck der von ihrem Widersacher Jacob Rees-Mogg angeführten European Research Group, in der die harten Brexiteers versammelt sind, wohl nicht mehr lange standhalten. Schon weil die EU das mit der britischen Regierung ausgehandelte Austrittsabkommen, das bereits dreimal vom Unterhaus abgelehnt wurde, nicht wieder aufschnüren will, muss der Druck auf Theresa May nachgerade täglich steigen, denn wie sie es ohne die Stimmen der oppositionellen Labour Party bis Ende Oktober vom Parlament abgesegnet bekommen will, weiß niemand. Oppositionschef Jeremy Corbyn erweckt trotz der inzwischen erfolgten Gespräche mit May jedenfalls nicht den Eindruck, er werde mit ausreichend vielen anderen Labour-Abgeordneten dem Abkommen beim vierten Anlauf zustimmen. Ganz im Gegenteil. Er hofft nach wie vor auf Neuwahlen und bezeichnet die Terminverschiebung als »Meilenstein des falschen Handelns der Regierung im ganzen Brexit-Prozess« (BBC, 11.4.2019). In der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November werden jedenfalls vielerorts ausgehöhlte Kürbislaternen als typisches Symbol für Halloween leuchten – fehlt nur noch, dass der bereits zweimal drohend an die Wand gemalte ungeordnete Austritt dann mangels politischer Einsicht erfolgt. Die Brexit-versessene Daily Mail titelte vorausschauend: »May’s Halloween Horror«.
Übrigens braucht das Austrittsabkommen auch die Zustimmung des EU-Parlaments, und das wiederum hat diesen Abstimmungsschritt noch gar nicht vollzogen. Womöglich wird es ihn noch vor dem 22. Mai durchführen, denn am 23. Mai beginnt die Wahl zum Europäischen Parlament, und die könnte durchaus für so manche Überraschung gut sein. Das Vereinigte Königreich, das bis zum endgültigen Austritt – wenn er denn überhaupt kommt – »konstruktiv« und »verantwortungsvoll« in der EU mitarbeiten soll, hat im Augenblick drei Verhaltensmöglichkeiten. Bis zum endgültigen Abschluss eines Austrittsabkommens kann es erstens den Brexit stoppen, indem es den am 29. März 2017 eingereichten Antrag zum Austritt aus der EU zurückzieht. Eine – einstimmige – Zustimmung der anderen 27 EU-Mitgliedstaaten ist dafür nicht erforderlich. Es kann zweitens mit dem bis zum 22. Mai im Parlament wundersam abgesegneten Austrittsabkommen den Brexit haarscharf vor dem Beginn der EU-Wahlen vollziehen oder drittens bis Halloween eine, wie EU-Ratschef Tusk merkwürdig schwammig hofft, »gute Lösung finden«. In mindestens einem dieser drei Fälle wird das Vereinigte Königreich an der Wahl zum EU-Parlament teilnehmen – sie wird gegenwärtig auch vorbereitet – und dann dort 73 Sitze einnehmen. Da nun die gute oder knappe Hälfte der wahlberechtigten Briten alles andere als der Union gewogen ist, scheint die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass sie genau die Volksvertreter wählt, die dem europäischen Gedanken möglichst fern stehen. Die Kandidaten von Ukip und der Brexit Party ereifern sich bereits gezielt über den »Betrug am Wähler« und Nigel Farage trumpfte mit der Tirade auf: »Wir sind Löwen, geführt von Eseln« (Guardian, 12.4.2019). Nun müssen die britischen Mandatsträger das Parlament zwar am Tag des Brexits – also eventuell am 31. Oktober – wieder verlassen. Bis dahin haben sie jedoch zum Beispiel über den EU-Kommissionspräsidenten und die Kommission mitbestimmt und sind womöglich das Zünglein an der Waage bei der Entstehung der stärksten Parteienfamilie gewesen.
Apropos Europäisches Parlament. Wir können es zwar wählen, aber da es nicht über die Regierung entscheidet, wählen wir beim Urnengang weder eine Macht ab, noch eine neue – und damit eine entschieden sozialere – Politik ins Amt. Denn eine europäische Regierung gibt es ja nicht. Der Europäische Rat wiederum, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, ist sich in diversen Fragen und nicht zuletzt in Sachen Brexit offenbar alles andere als unionsförderlich einig. Aus ihm können wir bei der Wahl im Mai nicht einmal die Mitglieder abwählen, die – wie etwa Viktor Orbán (Ungarn) – die Demokratie mit Füßen treten oder die – wie etwa Mateusz Morawiecki (Polen) – ein föderales Europa strikt ablehnen. Stärkt die Brexit-Hängepartie den unionseuropäischen Zusammenhalt und die Demokratie? Ich habe da so meine Zweifel.
Vor dreihundert Jahren, im Mai 1719, war von EU-Parlamentswahlen noch längst keine Rede. Aber von einem Buch. Damals veröffentlichte Daniel Defoe (1660–1731) seinen ersten und bald darauf weltberühmten Roman »The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe«. Seinen ersten literarischen Erfolg hatte der Autor, der sich zuvor recht erfolglos als Kaufmann versucht hatte, 1701 mit dem satirischen Gedicht »The True-Born Englishman« (Der waschechte Engländer) gefeiert, in dem er für Toleranz gegenüber den vielen Zuwanderern eintrat. 1709, also vor dreihundertzehn Jahren, verfasste Defoe zusätzlich den – anonym publizierten – Traktat »A Brief History of the Poor Palatine Refugees« (Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge). Zum Hintergrund: Nach dem harten Winter 1708/09 entschieden sich immer mehr auswanderungswillige Menschen in West- und Südwestdeutschland, den – falschen – Versprechungen von Zeitgenossen zu glauben, die britische Krone würde sie dabei unterstützen, über den Atlantik in die englischen Kolonien in Nordamerika zu gelangen. Um die 13.000 von ihnen strömten bis 1711 aus der Pfalz auf die britische Insel, um eine Überfahrt und eine Ansiedlungserlaubnis in der Neuen Welt zu ergattern. Die sogenannten Palatines waren in England alles andere als willkommen. Sie wurden in der Nähe Londons provisorisch untergebracht und nur äußerst notdürftig versorgt. Immerhin betrachteten die damals regierenden Whigs die Zuwanderung durchaus als akzeptabel, während die Tories sie ablehnten. (Im traditionellen Zweiparteiensystem traten damals die eher tolerant gesinnten Whigs für die Macht des Parlamentes, die strikt konservativen Tories für die Rechte der angestammten Monarchie ein.)
Weil nun die – heutzutage im Lager der Brexiteers erneut unüberhörbaren – Rufe nach Zuwanderungs-Obergrenzen und -Kontingenten immer massiver erschallten, verschaffte sich der mit den Whigs sympathisierende Daniel Defoe Zugang zu offiziellen Dokumenten und führte Interviews, um der fremdenfeindlichen Hetze argumentativ gegensteuern zu können: »Einige werden behaupten, die Verköstigung und künftige Versorgung der Pfälzer, in ihrem gegenwärtigen elenden Zustand, bis sie so untergebracht werden können, um durch Fleiß und ehrliche Arbeit für sich selbst aufzukommen, sei nicht nur ein großer Akt christlicher Nächstenliebe, sondern eine Ehre und ein beträchtlicher Gewinn für die gesamte britische Nation, da sie deren Macht und Herrlichkeit vergrößert, den Handel fördert und den Reichtum des Königreiches mehrt«, formuliert Defoe, um dann fortzufahren: »Während andere gegen diese Meinung heftig wettern und sagen, zu diesem Zeitpunkt eine solche Menge von Ausländern hereinbringen heiße die Lebensmittel noch mehr verteuern; unsere einheimischen Handwerker und Arbeitsleute brotlos machen und die Zahl unserer eigenen Armen erhöhen, die bereits zu viele sind und der Nation allzusehr zur Last fallen.« (Daniel Defoe: »Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge …«, aus dem Englischen von Heide Lipecky, dtv, München 2017)
Die die Personenfreizügigkeit der EU strikt ablehnenden Brexiteers sollten rot vor Scham werden. Und Daniel Defoe lesen, der seine Landsleute wunderbar treffend als »rhapsody of nations« bezeichnete und die Auffassung vertrat, das Land hätte schon immer aus den vielen Zuwanderern Vorteile gezogen. Dessen Forderung, die Pfälzer in England willkommen zu heißen und anzusiedeln, erfüllte sich übrigens nicht. Die meisten von ihnen wurden – soweit sie die englischen Lager überlebt hatten – nach Nordamerika verfrachtet.