Stierkämpfer und Ex-Generale
Ein historisches Desaster droht dem jungen Vorsitzenden der Partido Popular (PP), Pablo Casado, obwohl er die Partei komplett erneuert hat. Seit er sich auf dem Sonderparteitag im Juli 2018 gegen die ehemalige Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría durchsetzen konnte, wurden alle Vertrauten seines Vorgängers Mariano Rajoy aus der Parteispitze entfernt. Bei der vorgezogenen Wahl zum spanischen Parlament am 28. April stellen sich in der Mehrheit neue Köpfe zur Wahl. Die Umfragen bescheinigen dennoch Casado kein gutes Ergebnis. Durch die konkurrierende rechtsliberale Partei Ciudadanos und die neue ultrarechte Partei VOX käme die PP nur auf 86 der 350 Parlamentssitze. Das wären 51 Parlamentssitze weniger als bei der letzten Wahl im Dezember 2016 – das schlechteste Ergebnis der PP in der Geschichte. Casado hat für die Wahl die Tradition des Stierkampfes wiederentdeckt. Im Jahr 2013 hatte die Rajoy-Regierung den Stierkampf zum spanischen Kulturgut erklärt. Die Katalanen vertraten eine andere Sicht und bauten die Stierkampfarena in Barcelona zu einer Shoppingmall um. Casado will nun den Abwärtstrend der PP mit den Toreros Miguel Abellán und Salvador Vega stoppen und schickt sie als Kandidaten ins Rennen.
Auch der Vorsitzende der VOX-Partei Santiago Abascal hat zwei Toreros als Kandidaten für seine Partei zur Wahl aufgestellt. Keine Hemmungen hat er, dass Reserveoffiziere für Rechtspopulisten jetzt Stimmen aus den Kasernen und der Guardia Civil bringen sollen. Ausgewählt hat Abascal zwei ehemalige Generäle, die 2004 im Irak-Krieg mit dabei waren. Die spanische Armee ist darüber nicht glücklich, musste sie doch mehr als 40 Jahre um ihre gesellschaftliche Akzeptanz ringen. Auf den Demos der VOX-Partei in Barcelona tauchten Fahnen der ehemaligen Fremdenlegion auf und Plakate, auf denen man Frauen, die in Spanien für Gleichberechtigung kämpfen, als »Feministische Nazis« bezeichnete. Die PP hat derweil für die Wahl in der Enklave Melilla den ehemaligen Kommandanten der Guardia Civil als Kandidaten aufgestellt. Wir werden sehen, ob Stierkämpfer und Ex-Generale bei den Wählern ankommen.
Karl-H. Walloch
Fanclub
Wen manche bewundern, ist nicht zu erklären, es sei denn, dass sie Esel wären.
Günter Krone
Digital ist manchmal fatal
Wenn man früher einen wütenden Brief an jemanden schicken wollte, der einen geärgert hatte, ließ man das Geschriebene oft über Nacht liegen. Der Weg zum nächsten Postkasten wäre am Abend zu weit gewesen, oder man hatte gerade keine Briefmarke zur Hand. Am nächsten Morgen war dann der Zorn schon halb verraucht, oder es kamen einem Bedenken ob der unkalkulierbaren Folgen. Also beließ man es beim Entwurf. Das war gut so, denn der Zweck war bereits erfüllt. Man hatte sich abreagiert, und der Weg zu einer Klärung der Sache war nicht verbaut.
Heute schreibt man keine Briefe mehr, sondern E-Mails. Das schnelle Medium verleitet zu schnellen Reaktionen. Hinter seinem Laptop verschanzt kann man leicht virtuelle Pfeile auf diejenigen abschießen, die einen geärgert oder verletzt haben. Eine Bedenkzeit gibt es dabei nicht. Wer speichert schon seine Mail unter Entwürfe ab, wenn er gerade im Flow des Formulierens ist und der Ärger oder die Verletzung so tief sitzen, dass sie nach rascher oder endlicher Satisfaktion verlangen. Ein Mausklick und die Sache ist scheinbar erledigt.
Beim Mailen kann man sich einigermaßen sicher sein, dass der Adressat erreicht wird. Bei Briefpost ist es nie ganz klar, ob sie ankam, ob sie überhaupt geöffnet und gelesen wurde. Manche Briefe werden verlegt oder landen einfach im Papierkorb. Aber eine Mail nicht zu öffnen, wenn der Absender bekannt ist, würde schon einen heroischen Kampf gegen die eigene Neugier erfordern. Eben weil es nur eines Mausklicks bedarf. Schon deshalb ist es äußerst attraktiv, virtuelle Pfeile abzuschießen. Sie treffen ihr Ziel.
Dann aber geht es los. Ob er auf diese Mail antworten soll und wenn ja, wie, fragt sich der Angeschriebene. Soll er Verständnis zeigen für den Ärger und die Verletztheit des anderen? Soll er gar eine Schuld oder Mitschuld einräumen? Oder ärgert er sich seinerseits über Vorwürfe, die ihm falsch, ungerecht oder maßlos übertrieben vorkommen? Hinter seinem Laptop verschanzt denkt er fieberhaft darüber nach: Verteidigung, Begütigung oder Gegenangriff? Der Griff in die Tasten liegt nahe. Zumal allgemein erwartet wird, dass auf Mails schnell geantwortet wird.
Das Unheil nimmt seinen Lauf. Die gegenseitigen Missverständnisse und Verletztheiten schaukeln sich hoch, wenn das Ganze nicht unterbrochen und der Versuch einer Aussprache »face to face« oder wenigstens per Telefon gemacht wird.
Besonders unproduktiv sind meist auch Versuche, per Rundmail Diskussionen zu führen. Obwohl gerade das als vom Medium ermöglichtes demokratisches und transparentes Verfahren gilt. Weil alle anscheinend alles mitbekommen und zu allem Stellung nehmen können. Das führt aber häufig dazu, dass kleine Meinungsverschiedenheiten aufgebauscht oder Formulierungen auf die Goldwaage gelegt werden, weil man sich profilieren möchte, was bei räumlicher Trennung einfacher ist als in einer offenen Debatte mit bestimmten Regeln und einer Diskussionsleitung. Die Sache, um die es geht, gerät dann in den Hintergrund.
Die digitale Kommunikation hat viele Vorteile mit sich gebracht. Um Probleme und Konflikte zu lösen, erscheint sie ungeeignet. Da kann nur die gute alte analoge Kommunikation weiterhelfen.
Reiner Diederich
Unsere Zustände
Wer Böses im Sinn hat, dem ist nicht mit Gutem beizukommen.
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Wenn ich abends den Fernseher einschalte und von den Grausamkeiten dieser Welt erfahre, stört mich einer mit »Wir kaufen dein Auto Punkt de«. Ich habe aber keines. Schicke ich mich an, die Grausamkeiten in Richtung Bett zu verlassen, ruft mir eine fidele Stimme hinterher: »Seitenbacher Müüüsli!« Gute Nacht, Deutschland.
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Der Gebrauch der Smartphones wird immer häufiger als Daddeln bezeichnet. Das ist eine erschreckende Vorstellung: Unsere Gesellschaft, die langsam verdaddelt.
Wolfgang Eckert
Hauptfigur: Das Gedächtnis
Ob es nun der auf dem Waschzettel versprochene »Metaroman« ist oder nicht – dieses Buch Maria Stepanovas ist etwas ganz Besonderes. Nicht deswegen, weil das Gedächtnis zum Protagonisten eines Romans gemacht wird, sondern weil die Autorin, unaufdringlich zwar, aber doch mit Nachdruck, Lehrstunden in »Erinnerungskunde« erteilt. Ist solche Nachhilfe nötig in Zeiten des ständigen Fotografierens, der Selfies, des Internets, das nichts »vergisst«? Ja. Gerade in unserer bilderüberfluteten Gegenwart, in der Vergangenheit schnell versinkt. In einer fast grotesken Episode erzählt Stepanova, wie ein Bekannter sie zu einer Fahrt nach Saratow animiert, sie dort das Haus ihres Urgroßvaters »untrüglich« erkennt. Nach ein paar Tagen ruft der Bekannte an und sagt verschämt, er habe sich in der Adresse geirrt, die Straße sei zwar richtig, die Hausnummer aber falsch gewesen. Die Autorin resümiert: »Und das ist in etwa alles, was ich über Erinnerung weiß.«
In der Hausnummer kann man sich irren, doch sind Briefe, Bücher, Fotos, Porzellanfigürchen, viele Relikte der Vergangenheit möglicherweise zuverlässiger. Die große, hier in der Übersetzung von Olga Radetzkaja vorliegende Schreibkunst Stepanovas erweist sich daran, dass sie anhand der »Gegenstände«, die zu Erklärungen, Bildbeschreibungen, Exkursen, philosophischen Traktaten, Zitaten zwingen, einen Raum des Gedächtnisses erschafft, den der Leser unbedingt betreten will, weil er etwas erfährt, auch über sich.
In den Gedächtnishallen der Autorin aber bleibt er nicht allein, sondern wird an die Hand genommen, weil er Vertrautes liest, das als »Allzu-Menschliches« oft schnell abgewertet ist. Doch das ist das Leben – das die meisten leben wollen, zumal in Zeiten, die seit mehr als hundert Jahren von Gewalt beherrscht sind: »Bei allen anderen bestand die Familie aus Protagonisten der Geschichte, bei mir nur aus ihren Untermietern« – der weitverzweigten russisch-jüdischen Familie der Autorin. Es sind meistens Tote, von denen erzählt wird: »Die Dahingegangenen aber sind, anders als die Natur, unendlich fügsam. Keine Interpretation, gegen die sie sich wehren, keine Demütigung, gegen die sie aufbegehren würden …« Das Wunderbare ist, dass den Toten, da sie gewissermaßen am Buch mitschreiben, Gerechtigkeit widerfährt. Besonders ergreifend geschieht das mit Leonid Himmelfarb, dem Cousin des Großvaters Maria Stepanovas, der 1942, neunzehnjährig, während der Blockade Leningrads, den »Heldentod« stirbt. Seine stets mit »Ljodik« unterzeichneten Briefe an seine »Mamotschka« sind beredt, indem sie verschweigen. Er sei wohlauf, gesund, betont er stereotyp, er brauche nichts. Wahrscheinlich schwer verwundet, begründet er einen Krankenhausaufenthalt mit »Angina«.
Maria Stepanovas Buch ist ein Kunst-Gebilde: des Wortes, der Philosophie, und Kunstinterpretation, der Lebensbetrachtung und vor allem des Vermögens der Erinnerung. Man sollte es lesen.
Albrecht Franke
Maria Stepanova: »Nach dem Gedächtnis«, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp Verlag, 527 Seiten, 24 €
Tanztheater hätte mehr gebracht
Ein Spiegel-Bestseller, der autobiografische Roman »9 Tage wach« von Eric Stehfest und Michael J. Stephan, erlebte nun in der Neuköllner Oper in der Fassung von John von Düffel unter der Regie von Fabian Gerhardt seine Uraufführung. Das Musiktheaterstück (musikalische Leitung: Christopher Verworner und Claas Krause) handelt von Drogen und Abstürzen, es wird getanzt und gekrochen, die Bühne ist eine schiefe Ebene aus Stahl.
Nach einer trostlosen Jugend bei einer alleinerziehenden Mutter nahe Dresden sucht der Held Eric, ein passionierter Skater, immer wieder nach einer Beschäftigung, die ihm Freude macht. Vergeblich. Alkohol, Haschisch und Crack geben ihm kurzfristige Genüsse, die ihn leerer als zuvor zurücklassen. Verknalltheiten enden im Chaos. Eines Tages kommt er auf die Droge Crystal Meth und bleibt mit ihr in einem atemberaubenden Zustand »9 Tage wach«, danach will er sterben, stirbt aber nicht, wird stattdessen Schauspieler und macht am Ende Karriere, vorher noch jahrelange Quälerei bei Entziehungskuren.
Schon an der Geschichte störte mich etwas; sie ist wohl so passiert, aber das Zudröhnen mit Drogen hat auf den Stoff abgefärbt, er kratzt nur an der Oberfläche, bleibt leer, tot, geht nirgends in die Tiefe. Die Neuköllner Oper hat daraus ein Stück gemacht, in dem viel Diskomusik vorkommt. Es hat mich leider auch nicht überzeugt. Abgesehen davon, dass die gesungene Sprache, obwohl schlagkräftig, kaum verständlich war, begann der Inhalt im Laufe des Stückes zu zerfasern, zum Teil wurde er völlig unverständlich beziehungsweise nur noch für die verstehbar, die auch das Buch kannten. Die Musik war, nach vielversprechendem Schlagzeug- und Trommelbeginn, viel zu schlagerhaft.
Sehr gut zum Inhalt passte allerdings die Choreografie, wie die Protagonisten sich auf der schiefen Ebene wanden, wie sie ineinander stürzten, wie sie fremdbestimmt-marionettenhaft auf der Bühne wie blind und taub herumstolperten, das sprach an.
Im Prinzip hätte das Stück nur choreografiert als Pantomime mit Musik gespielt werden können, also als reines Tanztheater gegeben werden sollen, das wäre besser gewesen. Der Text störte eher und erfüllte auch nicht die aus dem Titel herrührenden Erwartungen. Die Handlungen der neun Tage versanken im allgemeinen Gedröhne, blieben insgesamt seicht, flach und pubertär.
Die Bilder, besonders die Verzerrungen, mit denen man YouTube-Laienfilme kopieren wollte, fand ich monoton. Nachdem man einmal ein menschliches Gesicht zur Fratze gemacht hatte, wurde das zur Masche.
Der Wunsch, Jugend zu erreichen, war unübersehbar, die eher älteren Anwesenden fanden das auch unbedingt notwendig. Jedoch: Gut gewollt ist nicht immer gut gemacht.
Anja Röhl
Ironie vom Feinsten
Hurra! Er hat und nutzt ihn wieder! Seinen trockenen Humor, mit dem er diesmal die gegenwärtige Gesellschaft betrachtet. Jahrzehntelang hat er sich ausschließlich kulturhistorisch interessanten Personen aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte gewidmet, nun bleibt er zwar auch in Brandenburg, aber er erfindet Konstellationen und Personen, Landschaften und Begebenheiten, erzählt in fein konstruierter Prosa, reiht Nebensatz an Hauptsatz und wieder einen Nebensatz – ein Erbe von Theodor Fontane oder Thomas Mann.
Im Mittelpunkt stehen Leonhardt (»Leo«) und Hedwig (»Hedy«) Leydenfrost, ein Geschwisterpaar, das erst im Alter wieder im Heimatdorf Wittenhagen wohnt. Hedy war einst im Westen aktive Grünen-Politikerin, Leo ein stiller, heimlich nörgelnder Bibliothekar. Die Vorbereitung von Hedys neunzigstem Geburtstag, der für eine Spendenaktion für Flüchtlingskinder genutzt werden soll, macht die Handlung aus, und dabei kann de Bruyn seinem Affen Zucker geben. Die persönlichen Interessen und Eigenheiten der einzelnen Dorfbewohner und Funktionäre kommen voll zum Zug, die politische Situation und der kommunale Umgang mit aktuellen Losungen werden von ihnen sehr eigenwillig und vor allem eigennützig interpretiert. Schließlich wird aus dem geplanten Flüchtlingsheim eine Wellness-Oase, denn die Flüchtlinge wollen nicht in die »Wüste«, und immer gewinnen die Wende-Gewinner.
So ganz neu ist das, was sich ereignet, nicht, aber wie es erzählt ist, ist ein Genuss! Feinste Ironie und vor allem der Blick auf Leo, der über die Geschehnisse von heute genauso nölt wie früher und bei aller Nörgelei ein Quentchen Recht hat. Köstlich!
Christel Berger
Günter de Bruyn: »Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll«, S. Fischer, 272 Seiten, 22 €
Auf einem abgesägten Ast
Vor Jahrzehnten waren die Faschingsfeiern an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst legendär, wegen ihres skurrilen Humors. Einer der einstigen Akteure, der Student Wolfgang Krause, gründete 1983 das »Kabasurde Abrett« und nannte sich zunächst Krause-Zwieback. Als Regisseur, Zeichner und Autor ist er seither landauf landab tätig und arbeitet unter anderem mit der Schauspielerin Corinna Harfouch zusammen. Die Titel seiner Revuen sprechen Bände: »Der Horizont ist eine Kugel isst eine Erdbeere. Albert Einstein bei seinem Unpraktischen Arzt«. Oder noch schlicht-verblüffender: »Wasser taucht nie auf«.
Schade nur, dass derlei grafische und sprachliche Arbeiten fürs Theater gedacht sind und folglich meist flüchtig. Diesem Mimen flocht die Nachwelt bislang zu wenig Kränze.
Dem hat er unter seinem Pseudonym Ray Zwie Back nun abgeholfen. Mit zum Zwiebackschen Humor passenden Fotos von H.-Christoph Bigalke ist ein gewichtiger Band entstanden: »Durch die Wand ins eig’ne Land«, den beide ein »Sinnflutprotokoll« nennen. Neben Sinnsprüchen finden sich ganzseitige Zeichnungen und Fotos, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Textkostproben?
»Ich kann es nicht erklären / aber ich kann es beweisen.«; »Zurück Bleiben! / Auch wenn es noch zu früh ist«; »als ich / von der klarheit des lichts / getroffen wurde / und nicht mehr sehen konnte / wurde ich genommen«; »Zwischendurch / ein paar / tröstende / Worte …/ betrifft / allerdings / die Vergangenheit«; »ich hatte / die richtung geändert … / das magnetfeld / war nicht interessiert«.
Für beide Künstler aus Absurdistan, die mitten zwischen Leipzig-Plagwitz und Berlin-Fluchhafen wirken und werkeln, darf dieser Satz gelten: »ER SASS / AUF EINEM / ABGESÄGTEN AST / UND WUSSTE / ES IST NIE ZU SPÄT«.
Matthias Biskupek
Ray Zwie Back/H.-Christoph Bigalke: »Durch die Wand ins eig’ne Land – Sinnflutprotokoll«, Mitteldeutscher Verlag, 144 Seiten, 30 €
Einfach mal abschalten
Man will es einfach nicht glauben …, aber wenn man den Fernseher einschaltet, hat man den Eindruck, in Deutschland wird nur noch gemordet. Der Krimi-Anteil im Fernsehen wird immer größer – auch oder gerade bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Mitunter gibt es am Abend zur besten Sendezeit drei oder vier Verbrecherjagden. Selbst der Heiligabend wird zur mörderischen Weihnacht. Ein »krimifreier Tag« im deutschen Fernsehen? Fehlanzeige! Das Verbrechen bringt offenbar Quote – vom »Tatort« bis zu den »Rentnercops«. Da drängt sich die Frage auf: Gibt es nicht noch etwas anderes als Mord und Totschlag? Ach ja, die Kochshows, ohne die das Fernsehen längst nicht mehr auskommt. Johann Lafer, Tim Mälzer, Rainer Sass … man hat den Eindruck: Es gibt mehr Fernsehköche als Fernsehmoderatoren. »Mmmschmecktlecker!« Noch nie wurde im deutschen Fernsehen so viel gekocht, dabei stehen wir Fast-Food-Deutschen immer weniger am heimischen Herd. »Wir schauen Kochsendungen, um nicht mehr selbst kochen zu müssen«, erklärt ein Wissenschaftler die Misere.
Quiz- und Rate-Shows boomen ebenfalls seit Jahren. Hier winkt das schnelle Geld. Studiogäste jubeln euphorisch über jede richtige Antwort, Kunstnebel und Scheinwerfergewitter und zum Finale Glitzerkonfetti. Und schließlich noch die ganzen Casting-, Trödel- und Shopping-Shows … das Fernsehprogramm wird immer öfter ungenießbar.
Von dem ursprünglichen Volksbildungs- und Aufklärungsauftrag ist im deutschen Fernsehen leider nicht mehr viel übriggeblieben. Kein Wunder also, dass sich immer mehr anspruchsvolle Zuschauer vom Fernsehen abwenden. Viele nutzen längst andere Medien.
Manfred Orlick
Zuschrift an die Lokalpresse
In Deutschland wird immer mehr für den Tierschutz getan. Der Berliner Kurier vom 3. April berichtet, dass einige Supermärkte jetzt mit einem vierstufigen »Haltungsform«-Siegel kennzeichnen, welche Tiere vor ihrer Qualifizierung zu Lebensmitteln möglichst gesund aufgezogen wurden. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf die Preise aus, denn ein glückliches Schnitzel aus Freilufthaltung hat einen höheren Ernährungswert als eins von der Stange. Ich finde das auch deshalb gut, weil die künftigen Verbraucher auf Familienausflügen durch die erwachende Natur bereits auf der Weide einen persönlichen Kontakt zu ihren künftigen Leberwürsten herstellen können. Irgendwie erinnerte mich das allerdings auch an eine Satire Tucholskys: »In Spanien gründeten sie einmal einen Tierschutzverein, der brauchte nötig Geld. Da veranstaltete er für seine Kassen einen großen Stierkampf.« – Isidor Isegrimm (32), Tiertherapeut, 06862 Hundeluft
Wolfgang Helfritsch