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Titel819

Im Innern des Landes  (Klaus Nilius)

Rendsburg, in der Mitte Schleswig-Holsteins an Eider und Nord-Ostsee-Kanal gelegen, kennt sicherlich nicht jeder in der Bundesrepublik. Es weist keine nennenswerten Besonderheiten auf, die diese circa 30.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Kreisstadt hervorheben würden. Na gut, eine Sehenswürdigkeit soll doch genannt werden: die Rendsburger Eisenbahn-Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal mit einer von weltweit acht Schwebefähren.

 

Rendsburg im Innern des Landes ist so normal wie viele andere deutsche Städte ähnlicher Größenordnung. Und historisch fällt der Ort auch nicht aus dem Rahmen: Hier hat es keinen Faschismus gegeben, und wenn doch, so die bis heute vorherrschende Deutung, dann war er »in der Region Rendsburg harmlos«. Wie vielerorts in Deutschland.

 

Dabei hat sich die nationalsozialistische Bewegung nach 1929 nirgendwo so schnell und umfassend ausgebreitet wie in Schleswig-Holstein. Und nach 1945 waren die willfährigen Unterstützer, Helfershelfer, Täter – es waren fast nur Männer – nirgendwo so schnell verschwunden wie in Schleswig-Holstein. Allerdings tauchten sie nach kurzer Internierung, milden Urteilen und, wenn nötig, wechselseitig ausgestellten Persilscheinen schon bald wieder in verantwortlicher Position im Landtag, in Ämtern und Behörden, in Dienststellen, Institutionen, Verbänden und Vereinen oder Parteien, kurz gesagt: überall im Lande auf.

 

Es dauerte Jahrzehnte, bis der braune Schleier riss oder besser gesagt: zerrissen wurde. Aber erst im Herbst 2018 erschien ein Buch, das sich mit der Zeit des Nationalsozialismus in Rendsburg befasst, mit den regionalen

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Die Opfer im Blick

Beschäftigte sich der Autor Neugebauer vor allem mit Tätern aus dem Ort und der Region Rendsburg in Schleswig-Holstein, so blickt die Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte auf die Opfer. Diese bundesweit einmalige Stiftung, im September 1988 vom Senat unter Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) und der Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg einmütig auf Initiative von Verfolgtenverbänden und neuen politischen Bewegungen eingerichtet, hat in den drei Jahrzehnten ihres Bestehens über 2000 NS-Verfolgten mit Beihilfen geholfen. Darüber hinaus hat sie vor dem Hintergrund einer Zäsur im Verständnis darüber, was NS-Unrecht ist, zu einem anderen Umgang mit bisher ausgegrenzten NS-Verfolgten beitragen können. Der Mitinitiator der Stiftung und gegenwärtige Vorstandsvorsitzende Stefan Romey hat zum Jubiläum unter dem Titel »Niemand ist vergessen« Bilanz gezogen und dabei den Umgang mit NS-Opfern in Hamburg seit 1945 beschrieben. Auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hamburg, stellte er Mitte April seine Schrift vor. Zu den »vergessenen Opfern« gehörten besonders jene NS-Opfergruppen, die zur mitternächtlichen Stunde in der Nacht zum 4. April dieses Jahres von dem niedersächsischen Bundestagsabgeordneten Thomas Ehrhorn (AfD) in seiner Rede vor dem Bundestag ausgegrenzt wurden.

Die Celler Zeitung schrieb: »Ehrhorn hatte zwischen KZ-Opfern differenziert. So seien Menschen aufgrund ‚ihrer angeblichen Rassezugehörigkeit‘ interniert worden. Andere seien als Kriminelle im KZ gelandet. ‚Es ist nicht möglich, allen sogenannten Asozialen und Berufsverbrechern eine Art Generalamnestie einzuräumen, sie zu Opfern zu erklären, weil ein Teil von ihnen eben durchaus auch Täter war‘, hatte er erklärt.« Kritiker verwiesen auch darauf, dass Ehrhorn im Bundestag den Satz »Wir sind uns einig, dass wirklich niemand in ein Konzentrationslager gehört« mit einem relativierenden »Aber« verbunden habe.

Romey zeigt in seinem Buch, wie gerade diese Gruppen schon direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ausgegrenzt wurden, in Hamburg von »Fachleuten«, die von den Briten übergangslos, obwohl NS-Mitglieder, in ihren Ämtern belassen wurden, in der Anfangszeit zumindest, und die nun über die Anerkennung jener entschieden, die sie früher für KZ-würdig befunden hatten. Zu diesem Personenkreis gehörten: Zwangssterilisierte, Opfer der »Euthanasie« (»Lebensunwerte«), »Gemeinschaftsfremde«, sogenannte Asoziale, Homosexuelle, »Berufsverbrecher«, Deserteure, »Wehrkraftzersetzer«, »Vaterlandsverräter«, Sinti und Roma (»Zigeuner«), Swing-Jugendliche und Heimkinder. (Stefan Romey: »Niemand ist vergessen. 30 Jahre Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte«, 360 Seiten, E-Mail: hamburgerstiftung@t-online.de)

K. N.

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Aktionen der Nationalsozialisten, und das den Tätern erstmals kompakt Namen und Gesicht gibt, sie ohne viel Federlesens benennt. Und das auch einige der vielen Opfer und Opfergruppen aus der Vergessenheit holt, ebenso wie politische Gegnerinnen und Gegner der Nationalsozialisten und ihre Aktionen des Widerstands.

 

Autor ist Günter Neugebauer (70), Sprecher der regionalen Arbeitsgruppe Schleswig-Holstein von »Gegen Vergessen – Für Demokratie«. Neugebauer war 20 Jahre lang, bis 2009, Mitglied der schleswig-holsteinischen SPD-Landtagsfraktion, stets direkt gewählt. Er stellte sein Buch Ende März in Hamburg auf der Jahrestagung des Arbeitskreises ehemals verfolgter und inhaftierter Sozialdemokraten vor.

 

Bei der Wahl am 12. März 1933 betrug die Wahlbeteiligung 73,8 Prozent; die NSDAP erreichte zwölf der 21 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung, die mit ihr eng zusammenarbeitende Nationale Aufbaufront drei, der Rest entfiel auf SPD (4) und KPD (2). Auch im Kreistag errang die NSDAP die Mehrheit der Stimmen.

 

Neugebauer: »Obwohl auch die NSDAP-nahe lokale Landeszeitung über die bereits unmittelbar nach der Machtübergabe am 30. Januar überall in Preußen eingesetzte Verfolgung und Ermordung von politisch Andersdenkenden sowie Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft informierte, obwohl die NSDAP-Ortsgruppe … keinerlei Geheimnis aus ihren Plänen machte, schenkten 4974 Rendsburger Frauen und Männer der NSDAP ihr Vertrauen. Sie haben den Aufstieg der Rendsburger Nationalsozialisten erst ermöglicht. Deshalb zählen sie zu den Helferinnen und Helfern der Nazis.«

 

Der Verfasser beschreibt in seinem Buch nicht nur den Aufstieg der örtlichen NSDAP und ihrer Führer »von der Sekte zur Alleinherrschaft« oder der SS- Mitglieder »vom Saalschutz zur Terrorgemeinschaft« oder wie die Hitlerjugend »gleichgeschaltet, missbraucht und betrogen« wurde. Er beschreibt auch die NS-Vergangenheit von Bürgermeistern, Landräten, Unternehmern und Behördenleitern sowie ihre Beteiligung an NS-Verbrechen. Und er dokumentiert das gesellschaftliche Ansehen, das viele dieser Personen nach 1945 aufgrund des Vergessens, Verdrängens, Verschweigens und dank alter Seilschaften wieder erwerben konnten, so dass sie sich fortan eines »gutbürgerlichen Lebens« erfreuen durften.

 

Eine Darstellung der diversen Ab- und Lebensläufe würde hier zu weit führen, auch weil nur wenige Akteure über den regionalen Rahmen hinaus bekannt wurden. Als Beispiel soll daher Herbert Puhlmann dienen, führender NS-Funktionär und hauptverantwortlicher Redakteur für das Politik-Ressort der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung in drei Systemen. Geradezu modellhaft lässt sich an seiner hier nur im Abriss wiedergegebenen Biographie die steile Karriere eines überzeugten Nationalsozialisten und eines später weiß gewaschenen »Demokraten« in der Bundesrepublik Deutschland verfolgen.

 

Bereits am 1. Mai 1932 trat Puhlmann im Alter von 26 Jahren in die NSDAP ein. In der aufstrebenden Rendsburger NSDAP fand er schnell Anerkennung. Er nutzte schon frühzeitig mit stillschweigender Duldung des Verlegers seine Tätigkeit als Redakteur für die unverhohlene Unterstützung der NSDAP-Ortsgruppe in der lokalen Berichterstattung und Kommentierung.

 

Nach seinem Eintritt in die NSDAP wurde er Stellvertreter des ebenfalls 26 Jahre alten Ortsgruppenleiters und übernahm die Propagandaleitung. All diese Aufgaben behielt er bis ins Jahr 1944. Er war mitverantwortlich für die vom Kampfbund für deutsche Kultur am 9. Oktober 1933 organisierte Bücherverbrennung. Auch in der Kommunalpolitik engagierte er sich und wurde unter anderem Leiter des städtischen Presseamtes. 1936 organisierte er die Ausstellung »Volk und Rasse«. In seinem »Brotberuf« bemühte er sich um eine seiner Weltanschauung entsprechende Ausrichtung der Landeszeitung. Sein Verleger trat 1937 ebenfalls in die NSDAP ein und blieb bis 1945 Mitglied. Puhlmanns Glaube an den Endsieg war unerschütterlich. Freiwillig meldete er sich gegen Kriegsende zur Waffen-SS und wurde 1944 eingezogen. Über seinen Einsatz an der Ostfront ist nichts bekannt.

 

Nach der Befreiung Rendsburgs durch das britische Militär, nach Verhaftung und Internierung wurde Puhlmann Ende 1947 wegen »Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation« zu einer anderthalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die »durch die erlittene Internierungshaft als verbüßt« galt. Während des Spruchkammerverfahrens trat er auf wie ein Musterexemplar aus der bekannten Gruppe der Drei Affen.

 

Kaum frei, war er wieder dabei. Der frühere Verleger bekam schon 1949 wieder eine Lizenz, und Puhlmann nahm seine Arbeit als politischer Redakteur und stellvertretender Chefredakteur auf, ohne jegliches Unrechtsbewusstsein. Er verfasste Nachrufe auf alte Kameraden nach deren Tod – »ein treuer Sohn seiner Heimatstadt« – und wurde nach seinem eigenen Hinscheiden 1969 gleichermaßen geehrt: in würdigenden Nachrufen und Traueranzeigen der Zeitung und des Verlages – und durch den Rendsburger Senat. Dieser bekannte sich noch 1969 dazu, dass »das erfolgreiche Wirken eines Rendsburger Kommunalpolitikers unter den schwierigen Verhältnissen der NS-Herrschaft auch in unserer Zeit eine angemessene Würdigung« verdiene (Wortlaut aus einem Schreiben des Senats). Es war genau die Zeit, in der Franz Josef Degenhardt sein Lied vom »Innern des Landes« schrieb, in dem die schon oft Totgesagten noch lebten.

 

Nachtrag 1: In Rendsburg gibt es heute 35 Stolpersteine, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern, und in der ehemaligen jüdischen Synagoge ein Jüdisches Museum.

Nachtrag 2: Als Neugebauer zur Finanzierung des Buches bei potentiellen Spendern um Unterstützung warb, erhielt er schon mal den Bescheid, dass dies aus Rücksicht auf die eigene Kundschaft nicht möglich sei. Ja, so sind hier die Leute. Noch immer.

 

 

Günter Neugebauer: »Gegen das Vergessen. Opfer und Täter in Rendsburgs NS-Zeit«, Rendsburger Druck- und Verlagshaus, 392 Seiten, 14,80 €