Am 20. April gewann der Theologe Fernando Lugo die Präsidentschaftswahl in Paraguay. Die Demoskopie hatte den Sieg vorausgesagt. Doch es fiel schwer, daran zu glauben. Ein Wunder? Zur Erklärung ein Blick in die Saga eines wenig beachteten Landes.
Es war einmal ein stolzes Staatswesen, mitten in Südamerika. 1811 hatte es sich von Spanien losgesagt und alsbald auch vom Erbe der Kolonialherren. Es befreite die Sklaven und die indianische Urbevölkerung, es befreite sich selbst von Analphabetismus, Unwissenheit und dem Joch der Kirche. Vor allem aber befreite es sich vom Brauch der Spanier, den fruchtbaren Boden einigen wenigen Nutznießern zu übereignen. Nach alter indianischer Tradition fielen Grund und Boden an die Nation zurück, offen für alle, die ihn bebauen und dafür einen Teil der Ernte dem Staat abgeben konnten.
Alexander von Humboldts Partner Aimé Bonpland bezeugte den Hochstand sozialer Organisation und Schulbildung, die geringe Kriminalität und die beeindruckende kollektive Wirtschaft der »estancias de la patria« (Güter des Vaterlandes). Ein aufgeklärter Diktator, der Rousseau- und Voltaire-Verehrer José Rodriguez Gaspar de Francia, genannt »El Supremo«, hatte in zwei Jahrzehnten den gut durchgebildeten Staat Paraguay geschaffen. Getragen von der indianischen Guarani-Bevölkerung (damals etwa 85 Prozent), beneidet von den brasilianischen und argentinischen Nachbarn, gehaßt von den geflohenen weißen Feudalisten und den englischen Banken. Vergeblich hatten diese die »Modernisierung« betrieben: die übliche Einbindung ehemaliger Kolonien in Dreieckshandel, Verschuldung und Abhängigkeit von ausländischem Kapital.
Krieg, der ihnen wie gewöhnlich als Lösung des Problems erschien, war rasch provoziert mittels Behinderung der lebenswichtigen Agrarausfuhr des Binnenlandes. Paraguays Präsident Francisco Solano Lópes vertraute auf seine militärische Stärke trotz eines dreifachen, von England bewaffneten Gegners. Der Krieg gegen die Tripel-Allianz Argentinien-Brasilien-Uruguay (1865–1870) geriet zu einem der blutigsten der Weltgeschichte. Nur 115.000 von 500.000 Paraguayern überlebten; von je zehn Männern nur einer. Auf der Gegenseite zählte man 120.000 Tote. Der reiche, unabhängige Bauernstaat war nach fünf Kriegjahren das ärmste und rückständigste Land des Kontinents, traumatisiert und verschuldet, genetisch geschädigt, der feudalistischen Restauration und der Häme der Sieger ausgeliefert.
Auch diese waren letztlich Verlierer. Ihre Schulden gegenüber England leiteten die moderne Variante des Kolonialismus in Südamerika ein, den Imperialismus des Kapitals, Schuldendienst und Ausbeutung.
Die menschenleeren Weiten faszinierten religiöse und politische Schwärmer. Nietzsches Schwager Bernhard Förster (1843–1889) gründete dort sein »Neu-Germania«, erlebte aber weder die propagierte »Neugeburt der Menschheit« noch die Rettung der germanischen Rasse. Statt dessen retteten später große Ansiedlungen deutschstämmiger Mennoniten die landwirtschaftliche Produktion Paraguays. Nach diesen kamen brasilianische Pflanzer und ausländische Investoren. Ein zuverlässiger Helfer des Kapitals war der bayerisch-paraguayische General Alfredo Stroessner (1954 –1989), der das Land 34 Jahre lang diktatorisch regierte. Vorspiel zur jüngsten Variante der Monokultur, dem Gen-Soja-Anbau nebst Vertreibung lokaler Kleinbauern.
Das Bruttosozialprodukt der heute sechs Millionen Paraguayer rangiert mit rund zehn Milliarden Dollar nur knapp über dem der 520.000 Bewohner Äquatorialguineas. Rund 40 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut, zwei Prozent bestimmen über 80 Prozent der Agrarfläche. Paraguay steht heute in Südamerika für Armut, Schmuggel, Drogen und Korruption, für 61 Jahre Herrschaft und Wahlbetrug der Colorado-Partei, für unentwirrbar verfilzte Oligarchien, für die Anwesenheit US-amerikanischer Truppen und fast aller in Brasilien gestohlenen Autos, für Mafia, Mengele und Altnazi-Nester, für alle Auswüchse einer schnurrbärtigen Bananenrepublik. Bezeichnend: Genauere statistische Daten erstellt nur die CIA.
Ein »never-never-country« – wäre da nicht, und damit beginnt für uns süd-amerikanische Beobachter das Wunder, wäre da nicht vor knapp drei Jahren ein katholischer Pfarrer und Bischof einfach aus der Kutte gesprungen: »Ich sah, daß die Anstrengungen der Kirche nichts bewirkten, und begriff, daß der wirkliche wirtschaftliche und soziale Wandel von der Politik kommen muß.« So Fer-nando Lugo nach korrekt und ruhig verlaufenen Wahlen (eine weitere Facette des Wunders). 1952 als Sohn armer Leute geboren, weigert er sich nun, seine Wohnung im bescheidenen Lambaré-Viertel in Asunción gegen den Präsidentenpalast einzutauschen: »...ich mag halt mein Häuschen«.
Die Kirche hat dem ihr suspekten Anhänger der Befreiungstheologie und Gründer vieler Basisgemeinden das Ausscheren aus der römischen Observanz verübelt und wollte ihn juristisch aushebeln: Er sei von seinen kirchlichen Funktionen lediglich suspendiert, und einem einmal geweihten Priester erlaube die Verfassung keine weltlichen Ämter. Die New York Times sekundiert am 21. April: »Mr. Lugo zeigt sozialistische Tendenzen, ähnlich denjenigen der kürzlich gewählten südamerikanischen Führer Evo Morales (Bolivien) und Hugo Chávez (Venezuela).« Ein Kompliment. Wie aber geriet Fernando Lugo in so erfreuliche Gesellschaft?
»Ab Januar 2006 traf ich mich regelmäßig mit Freunden – Künstlern, Intellektuellen, Bauern, Studenten. Wir studierten, analysierten und versuchten, uns das (zukünftige) Land vorzustellen. Im Dezember wurde daraus die Tekojoja-Bewegung (Tekojoja: Gleichheit), die am schnellsten zunehmende Bewegung in der Bevölkerung.« Schon im September 2007 waren 14 Parteien gewillt, mit dem Zugpferd Lugo an die Macht zu kommen. Tekojoja aber hatte die 100.000 Unterschriften zur Aufstellung des Präsidentschaftskandidaten Lugo zusammengebracht und sich längst im Kampf gegen die Verdrängung der Kleinbauern profiliert. Tekojoja will und drückt aus, was viele Paraguayer im Innersten fühlen: Das Land gehört allen – wie damals im alten Paraguay.
»Wie lange werden sie mich leben lassen?«, hatte Lugo vor einem Jahr gefragt. Das Überleben wird er von Evo Morales lernen müssen, von Cristina Kirchner (Argentinien) den Kampf mit den Großagrariern, von Lula die Diplomatie gegenüber dem Imperium und von Hugo Chávez Courage, Gewitztheit und Schnauze. Chávez: »Jetzt, wo wir sogar einen Padre unter uns haben, kann uns Bush nicht mehr zum Teufel schicken.«
Amen.