Als Winston Churchill mit seinem alarmierenden Bescheid, von Stettin bis Triest sei ein Eiserner Vorhang niedergegangen, den Auftaktsatz zum Drama des Kalten Krieges lieferte, hörte ich ihm am Radio im Mechanikerkeller des Warschauer Gefängnisses ohne viel Verständnis zu. Im Februar 1946 fragte ich nur, ob Englands Premier wirklich von Stettin anstelle von Lübeck gesprochen habe, obwohl doch die sowjetischen Truppen nicht vor der Oder, sondern vor der Trave standen. Mit dem Bescheid, Sir Winston werde sich bei der Grenzziehung etwas gedacht haben, gab ich mich lange zufrieden, wenn ich dem ehernen Wort vom Eisernen Vorhang begegnete.
In einem späten Roman allerdings fragte ich, ob die Vernachlässigung des Ostteils Deutschlands in Churchills Spruch eine Frontbegradigung, ein Zeichen vorauseilender Ignoranz oder ein Erdkundefehler des alten Mannes gewesen sei. Lange wartete ich auf eine Fußnote, die den Staatschef korrigierte. Ob es sie gibt, weiß ich nicht, aber 2005 stand in »Wendemanöver« von Ferdinand Kroh der sacht zurechtrückende Satz: »Als sich schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs quer durch Europa der Eiserne Vorhang bildete, entlang einer Linie von Lübeck bis Triest, die er selbst mitbestimmt hatte, meinte ... Churchill ..., man habe das falsche Schwein geschlachtet.« Was Wunder, daß ich den Autor am Telefon fragte, wodurch Lübeck nun endlich auf den ihm zustehenden Platz geraten sei. Herr Kroh klang nach Kopfschütteln, als er antwortete, es handle sich um eine Tatsache, die man mit einem Blick auf die Landkarte erfassen könne. Beschämt hielt ich das Problem für erledigt.
2007 aber ist bei S. Fischer der kommentierte »Doktor Faustus«-Roman erschienen. Fast völlig recht hat der Literaturhistoriker Klaus Bellin mit seinem in Neues Deutschland veröffentlichten Lobpreis für das Begleitbuch von Ruprecht Wimmer. Das sacht einschränkende »fast« leitet sich von einem Fehler her, der halbwegs auf die Kappe Thomas Manns gehen dürfte. Oder vielleicht auf die von dessen Freundin Agnes Meyer, die als Gattin des Herausgebers der Washington Post in der Lage war, den »Doktor Faustus«-Verfasser im Exil nicht nur mit Geld und guten Worten, sondern auch mit Kriegsnachrichten zu versorgen. – Zumindest eine davon war falsch.
Zum Tagebuch-Eintrag vom 20. April 1945 bemerkt der Begleitbuch-Verfasser: »In dieser Zeit fällt München. Dönitz meldet feierlich den Tod Hitlers, Lübeck wird von den Russen besetzt, und am 7.5. erfolgt die Kapitulation Deutschlands. Der Autor hält das alles im Tagebuch fest und spart nicht mit Kommentaren und düsteren Zukunftsvisionen.« Leider aber spart Wimmer (anders als Inge Jens, die hinsichtlich dieser Stelle von Gerüchten spricht) mit einem Kommentar, der lauten könnte: Da ein Kontinent und ein Ozean und ein Krieg zwischen ihm und Lübeck lagen, konnte Thomas Mann trotz seiner Verbindung mit Agnes Meyer, das heißt. in diesem Fall mit der Washington Post, kaum wissen, daß seine Heimatstadt gar nicht von den Russen besetzt wurde. Die Briten waren ab 4. Mai 1945 in Lübeck; die Russen nie.
Vorsichtshalber habe ich wissende Freunde und ein Archiv in Lübeck angerufen, und vorsichtshalber habe ich in Martin Gilberts peniblem Geschichtswerk »Second World War«, Revised Edition, London 1990 nachgeschlagen. Dort steht auf Seite 667, einer Besetzung der Stadt durch die Sowjets habe Churchill vorgebaut, indem er Feldmarschall Montgomery am 18. April beauftragte, statt gegen Berlin gegen Lübeck vorzurücken. Seinen Außenminister Anthony Eden ließ er dazu wissen, was ich mit deutschen Worten wiedergebe: »Wenn wir vor unseren russischen Freunden in Lübeck einträfen, würde uns das eine Menge späteren Streits ersparen. Es gibt keinen Grund, warum die Russen Dänemark besetzen sollten, ein Land, das befreit werden und seine Souveränität wiedererlangen muß. Unsere Haltung zu Lübeck, wenn wir es kriegen, wird in dieser Hinsicht entschieden sein.«
Geht es zu weit, wenn mir zu der Haltung des britischen Strategen in Sachen Lübeck und in Sachen Eiserner Vorhang die (ebenso oft dokumentierte wie ignorierte) Haltung der polnischen Heimatarmee in Sachen Warschau 1944 und in Sachen Antikommunismus einfällt? Geht mein Europa-Argwohn zu weit, wenn ich in manchem neu genannten Vorgang den alten Vorhang knirschen und klirren höre? Gingen, um mich von der garstigen Politik zur schönen Literatur zurückzupfeifen, meine Furcht und meine Ehrfurcht vor Herausgebern und Verlegern zu weit, als ich nicht wagte, ihnen von einem kommentarwürdigen Irrtum Thomas Manns und einem Fehler ihres Begleitbuchs zu sprechen? Oder geht, ganz anders, meine Vorstellung zu weit, im Fischer-Verlag hätten sie auf die eine Läßlichkeit ihres Großautors gepfiffen und sich gesagt, er habe schließlich Lübeck zu Lübeck gemacht und den eisernen Vorhang nie recht gelten lassen; da habe er einen Irrtum frei? – Gut so, warum Thomas Mann wegen Lübeck korrigieren, bei Churchill hat es wegen Stettin ja auch keiner getan.