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Forum für Theaterautoren  (Heinz Kersten)

»Das Theater produziert nur Erinnerungen«, sagt eine der drei Aktricen in Martin Heckmanns knapp einstündigem Stück »Zukunft für immer«. Der Dramaturg und Hausautor am Staatsschauspiel Dresden hat einige seit Jahrzehnten zum Ensemble gehörende Schauspielerinnen nach ihren Erinnerungen befragt und daraus einen »Theaterprolog« gemacht. Nicht nur Bühnenerfahrungen spielen darin eine Rolle, auch private Spitzen lockern die Dialoge der Protagonistinnen auf. Einmal singen sie ein populäres Pionierlied, »Blaue Wimpel im Sommerwind«, und auch andere Erinnerungen weisen sie als DDR-Gewächse aus. Der heimliche gemeinsame Urlaub in Prag, der Zwang, Wahrheiten durch die Blume zu sagen, aber auch Enttäuschungen am Ende der »Übergangsgesellschaft« (Volker Braun) werden nicht verschwiegen: »Später waren alle so frei, daß keiner sich mehr für den anderen interessiert hat.«

»Das Theater ist der Ort der Zweifel und der Fragen und der Möglichkeiten.« Dies könnte auch als Motto über den »Autorentheatertagen Berlin« gestanden haben, die der Intendant des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, in seiner Hamburger Zeit, Mitte der neunziger Jahre, ins Leben gerufen hat und nun an seiner neuen Wirkungsstätte fortführt. Mit beachtlichem Erfolg: Über 6000 Zuschauer bei 25 Vorstellungen, Diskussionen und Autorenporträts.
Hatte der Dresdner Beitrag bei mir Erinnerungen an meine ersten Theatererfahrungen in der Elbestadt wachgerufen, die noch vor den jetzt auf der Bühne wiedererweckten lagen, so ließ mich das Stück »Rechnitz (Der Würgeengel)« von Elfriede Jelinek, präsentiert von den Münchner Kammerspielen, an eine Begegnung mit dem Ort denken, der ihrem Stück den Namen gab. Die burgenländische Kleinstadt nahe der ungarischen Grenze war menschenleer, und das paßte zu dem »dunklen Geheimnis«, das ihr zu einer zweifelhaften Berühmtheit verholfen und auch mich zu dem kurzen Abstecher motiviert hatte – ein fast unglaubliches Kapitel aus der Endzeit des mörderischen NS-Regimes, über das man in Österreich lange Zeit geschwiegen hat und auch heute nicht gern erinnert werden möchte. In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 feierten auf Schloß Rechnitz Nazi-Größen ein »Gefolgschaftsfest«, bei dem nach reichlichem Alkoholgenuß der NSDAP-Ortsgruppenleiter an ausgewählte Gäste Waffen verteilte. In einer Scheune erschossen und erschlugen sie rund 180 dort als Zwangsarbeiter zum Bau eines »Südostwalls« untergebrachte Juden, die sich vorher nackt ausziehen mußten. Nach dem Massaker ging man in Abendkleidung zurück zum Fest und feierte weiter. Wenige Tage später floh die Gastgeberin, Gräfin Margit von Thyssen-Batthyány, Enkelin des Stahlmagnaten August Thyssen, vor den heranrückenden Russen in die Schweiz. In ihrer Begleitung Zofe, Ehemann und Geliebter. Dieser haupttatverdächtige Gutsverwalter Oldenbug setzte sich bald nach Argentinien ab, Ortsgruppenleiter Podezin später nach Südafrika. Die gräfliche Fluchthelferin beider lebte bis zu ihrem Tode 1989 als passionierte Pferdezüchterin unbehelligt in der Schweiz. In zwei Prozessen nach dem Kriege erhielten Mitverantwortliche milde Urteile. Zwei Zeugen wurden ermordet, andere widerriefen ihre Aussagen. Vergangenheitsbewältigung nach Austria-Art.

Die unermüdliche Aufklärerin Jelinek nähert sich dem makabren Szenario assoziativ. »Der Würgeengel« zitiert einen Film von Bunuel über eine eingeschlossene Festgesellschaft, auch »Die Bakchen« des Euripides werden bemüht. Die Überbringer der unglaublichen Nachricht an das Publikum winken freundlich ins Parkett und treten mal als Partygäste, mal als Hauspersonal auf. Zwei Frauen und drei Männer, lüstern, scherzend, mampfend, trinkend in einem ausweglosen holzgetäfelten Gastzimmer. Mit Jossi Wielers Inszenierung an den Münchner Kammerspielen erhielt die Autorin im Vorjahr den Mülheimer Theaterpreis.

Fast die Hälfte der jetzt in Berlin vorgestellten Stückeschreiber waren Frauen. Gleich dreimal war die erfolgreiche Dea Loher vertreten. Die »Diebe«, die Andreas Kriegenburg als erstes ihrer Stücke am Deutschen Theater inszeniert hatte, wurde auch zum Theatertreffen eingeladen. Dieser ihr in langjähriger Zusammenarbeit verbundene Regisseur brachte bei den Autorentheatertagen »Das letzte Feuer« zur Berliner Premiere. Die Schauspieler agierten hier nicht in den schon zur Gewohnheit gewordenen abstrakten Bühnenbildern, sondern im Ambiente kleinbürgerlicher Wohnungen, zwischen denen sie sich mittels Drehbühne hin und her bewegen und mehr monologisierend und erzählend ihre Rollen zum Leben erwecken – ein dramaturgisches Mittel, von dem viele Autoren Gebrauch machen. Ausgangspunkt ist hier der Unfalltod eines Kindes, der die umgebenden Menschen traumatisiert. Unglückliche Glückssucher sie alle: der Vater, der zuletzt seine demenzkranke Mutter in der Badewanne ertränkt, die an ihrer Brustoperation leidende Nachbarin und ein als Unfallzeuge neu hinzugekommener Fremder, dessen Geschichte, die eines vom Auslandseinsatz zurückgekehrten Soldaten, man erst allmählich erfährt. Mit ihm bringt die Autorin zum Alltäglichen noch ein aktuelles Motiv ein.

Solche Motive strapaziert sie in »Adam Geist« bis zum Klischee (Regie des Wiener Burgtheater-Gastspiels: David Bösch). Die Titelfigur (»Ich bin das, der Verlierer. Kein Vater keine Mutter keine Wohnung keine Arbeit kein Geld«) trifft auf dem Friedhof ein Punkmädchen mit aufgemaltem Hakenkreuz, einen senilen Alt-Nazi im Rollstuhl und einen blutbeschmierten Balkansöldner. Keine Wegweiser für einen orientierungslosen Jungen, wie er für Dea Lohers Charakterisierung seiner Generation typisch ist.

Im zweiten Stück des 28jährigen Nis-Momme Stockmann, »Das blaue blaue Meer«, schreit der Anti-Held (Nils Kahnwald) den Frust über das Plattenbaumilieu heraus. Er flüchtet in den Alkohol und spielt mit Selbstmordgedanken, bis eine zarte Liebesgeschichte mit der jungen Wohnsiedlungsprostituierten Motte (Henrike Johanna Jörissen, ein Gesicht, das man nicht vergißt: karriereversprechend) einen Schimmer Hoffnung aufkeimen läßt: Raus hier, ans blaue Meer, Mottes Traumziel. Die Inszenierung von Marc Lungfuß am Schauspiel Frankfurt mit Punkakzenten zweier Musiker hat Poesie und läßt mich – im Gegensatz zu den anderen – nicht kalt.

Sybille Bergs Versuch, in »Hauptsache Arbeit« (Schauspiel Stuttgart, Regie: Hasko Weber) eine entfremdete Gesellschaft vorzuführen, endet in Langeweile. Die groteske Folie liefert ein Bootsausflug, zu dem der Chef die Belegschaft eingeladen hat. Die Teilnehmer geben dabei ihr Innerstes preis. Ein Wettbewerb soll darüber entscheiden, wer seinen Job behält oder verliert, doch bleibt es beim Einfall. Dafür singen alle mehrmals »La Paloma«, bevor der Animator das Schlußwort bekommt: »Ein wunderbarer Abend. Ich sehe unsere Arbeit als Kunst.« Selbstironie der Autorin, die einmal bemerkte, der Berufsbegriff Künstler rieche schlecht.

Anton Tschechow ist durch seine Kunst bis heute lebendig geblieben, worauf wohl kaum einer der heutigen Autoren hoffen kann. Daß Tschechow gerade jetzt auf keinem Spielplan fehlt, verdankt er der Zeitgeistnähe seiner melancholischen Bühnenwerke. Mit ihrem Stück »Villa Dolorosa« holte Rebekka Kricheldorf im Theaterhaus Jena, wo sie zur Zeit Hausautorin, Dramaturgin und Mitglied der künstlerischen Leitung ist, Tschechows »Drei Schwestern« in unsere Gegenwart. Drei mißlingende Geburtstage von Irina liefern den komödiantischen Rahmen für die Abbildung von Unzufriedenheit, Überdruß und unerfüllten Sehnsüchten der auftretenden Repräsentanten einer heutigen Mittelschicht – drei zeitliche Fixpunkte, an denen deutlich wird, daß sich in ihrem Leben nichts verändert. Markus Heinzelmanns Regie sorgte für einen gelungenen Abend.

Adaptionen fremder Vorlagen kommen in Mode. Romandramatisierungen von Dostojewski bis Thomas Mann, Camus bis Charlotte Roche (»Feuchtgebiete«) erfreuen sich der Gunst von Dramaturgen und Publikum. Nachdem Helene Hegemanns Prosadebut »Axolotl Roadkill« wochenlang für Feuilletonfutter gesorgt hat, kann es nicht verwundern, daß das Hamburger Thalia-Theater für die nächste Spielzeit eine Bühnenfassung ankündigt. Vier Beiträge der Autorentheatertage hatten filmische Vorlagen. Von 557 Stücken, die in der Saison 2007–2008 stolz als Uraufführungen gemeldet wurden, waren nur 140 neue Texte.

»Theater ist Krise« hat Heiner Müller einmal gesagt. In der DDR nützte der Kunst die Reibung mit der Gesellschaft und mit Autoritäten, förderte gerade im Theater Kreativität. Reaktionen auf die aktuelle Krise sind selten. Doch immer wieder belohnt uns das Theater mit Überraschungen. Als ich den Text von Roland Schimmelpfennigs jüngstem Stück »Der goldene Drache« las, konnte ich mir dessen szenische Umsetzung schwer vorstellen, erwartete eher einen drögen Theaterabend, und das auch noch als Gastspiel des Stadttheaters Bern, das es nie in deutsche Feuilletonspalten schafft. Und dann war dies in der Box des Deutschen Theaters der unterhaltsamste, poetischste und originellste Beitrag der ganzen Autorentheatertage (Regie: Matthias Kaschig): Auf einer langen weißen Bank zwei weibliche und drei männliche Darsteller, die erzählend und mimisch andeutend 18 Rollen verkörpern, darunter eine Stewardeß, einen Flugkaptiän, einen Lebensmittelhändler, einen Großvater mit Enkelin sowie eine fleißige Ameise gegenüber einer lustigen, aber faulen Grille. Durch raschen Wechsel eines Kleidungsstücks oder Requisits schlüpfen sie in jeweils andere Identitäten, und alle arbeiten in einem Thai-, Vietnam- und China-Restaurant (s. Titel). Unter ihnen ist ein illegaler Einwanderer, der unter fürchterlichen Zahnschmerzen leidet. Ohne Papiere ist für den jungen Chinesen ein Gang zum Dentisten unmöglich. Also greifen seine Küchenkollegen zu einer Rohrzange – eine Operation, an der der Patient schließlich verblutet. Sein Zahn wandert versehentlich in eine Thai-Suppe, von dort in den Mund der Flugbegleiterin, in ihre Manteltasche und später in den Fluß, in den sie ihn wirft. Bald schließt sich der Kreis, entsorgen doch die Köche die Leiche ihres Operationsopfers, in einen großen Drachenteppich gewickelt, ins gleiche Wasser. Da treibt der Zahn hinter dem Illegalen, zu dem er einst gehörte, her, bis dieser als Skelett (das die ganze Zeit am Fuße der Bühne auf diesen letzten Auftritt gewartet hat) wieder zu Hause an Land gespült wird. Und so endet Schimmelpfennigs böses Märchen über Globalisierung.