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Titel0910

Wovon Mark Twain nicht mal träumte  (Lothar Kusche)

Daß der große amerikanische Erzähler Mark Twain über eine unermeßliche Phantasie verfügte, dürfte unbestritten sein. Ob er auch oft träumte und wovon, ist mir freilich unbekannt. Man kann es sich aber vorstellen.

In einem seiner unheimlichen und verblüffenden Prosastücke erzählt »ein freundlicher, wohlwollend aussehender Herr von ungefähr fünfundvierzig, äußert intelligent und ergötzlich«, seinen Reisegefährten im Zugabteil die Geschichte einer Bahnreise im grimmigsten Winter. Damals blieb der Zug inmitten ungeheurer Schneeverwehungen auf einem gottverlassenen Streckenabschnitt stecken – kein Mensch weit und breit zu sehen, kein Haus, kein Lebenszeichen. Und die eingesperrten Fahrgäste waren viele Tage lang ohne Getränke und Lebensmittel, durch Durst und Hunger dem Tod preisgegeben. Die Männer entschlossen sich zu einer entsetzlichen Notwehr, entwarfen einen Schlachtplan: Sie brachten sich, einer nach dem anderen, ums Leben und verzehrten das Fleisch der Opfer. Twains Titel: Kannibalismus auf der Eisenbahn. Wer war der Mann, der diese Horror-Story auftischte? »Er war früher Kongreßmitglied ... Einmal blieb er mit dem Zug in einer Schneewehe stecken und wäre beinahe Hungers gestorben ... Er fror dermaßen ein und war so erschöpft aus Mangel an Nahrung, daß er danach zwei oder drei Monate krank und nicht mehr ganz richtig war ... Wenn er sie alle außer sich selbst aufgegessen hat, sagt er immer: ›Als dann die Stunde der üblichen Wahl zum Frühstück gekommen war und es keine Opposition gab, wurde ich ordnungsgemäß gewählt, worauf ich, da kein Einspruch erhoben wurde, zurücktrat. Und so bin ich hier.‹«

So weit wird es hierzulande hoffentlich nicht kommen!

Daß die Eisenbahn meine Knaben-Phantasie anregte, lag nicht nur daran, daß ich gern Lokomotivführer geworden wäre, was sich zur Freude des Publikums nicht verwirklicht hat, sondern auch an den Erzählungen vieler Familien-Mitglieder, die bei der Bahn arbeiteten oder gearbeitet hatten. Meine Mutter war lange Zeit Kaltmamsell in den Küchen der Speisewagen, wo, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann, beispielsweise die Salate frisch zubereitet wurden. Sie konnte sich auch an den weltberühmten Tenor Jan Kiepura erinnern, der dem Kellner erlaubte, seine Rechnung um einen Pfennig aufzurunden (»Das ist für Sie!«), worauf der Kellner meine Mutter bat, dem prominenten Fahrgast den Pfennig zurückzubringen, damit seine Kinder »nicht verhungern müßten«. Frau Kusche pflegte solche Aufträge gern zu erledigen.

Meine Oma Emma hat fast ihr Leben lang bei der Eisenbahn als sogenannte Dienstfrau geschuftet. Dienstfrau war eine verlogene Umschreibung des harten Berufs der Putzfrau, die für die Sauberkeit der Gänge, Toiletten und Nebengelasse der Wagen zu sorgen hatte. Zwei ihrer Brüder schwitzten auf den Lokomotiven, als Lokführer und Heizer. Diese Männer hatten genau wie meine liebe Großmama einen feinen Sinn für die Fahrgeräusche der Lokomotiven und Wagen entwickelt. Sie konnten ziemlich genau erkennen, ob da Gegenstände oder Lebewesen überrollt worden waren. Was auf den Schienen liegt, muß der Lokomotivführer überfahren, weil er es vorher nicht sehen konnte. Gelegentlich konnte Oma vor sich hinmurmeln: »Das war ein Mensch, das war bestimmt ein Mensch. Vielleicht konnte oder wollte er nicht mehr.«

Ihre Brüder wußten Seltsames zu berichten. Manchmal hatten sie angeblich einen Schutzmannshelm überfahren, den man »an einem ganz gemeinen Knirschen genau erkennt«, zuweilen auch ein schon kaputtes Fahrrad oder »Kaninchen beim Rammeln« und so weiter. Ich hörte mir alles aufmerksam und mit großem Interesse an.

So vieles passierte in ihren Fernschnellzügen. Nur von einem Ereignis habe ich niemals etwas gehört: In keinem dieser Züge ist während der Fahrt jemals eine Tür abgefallen. So etwas kann nur einem Inter-City-Expreß der Deutschen Bahn geschehen, zweckmäßigerweise in einem Tunnel, damit es so wenig Leute wie möglich zu sehen kriegen. Hinterher teilte das Spezialbahnamt für die Aufklärung der Fälle von herabfallenden Zugtüren mit, an der bewußten ICE-Tür sei eine Schraube locker gewesen. Daß in den Leitungs- und Aufsichtsgremien der DB sogar mehrere Schrauben locker sind, hat sich längst herumgesprochen.