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Titel0910

Mikrokosmos in 720 Meter Höhe  (Ingrid Zwerenz)

Mehr und mehr Menschen suchen nach dem Sinn des Lebens, andere sind bescheiden, die suchen erstmal eine Garage. Ein Ehepaar aus der Nachbarschaft – er Italiener, sie Griechin – hat einen neuen Wagen angeschafft und sorgt sich um das teure Stück. Die Kommunikation zwischen den Eheleuten funktioniert, sie sprechen deutsch miteinander. Nicht verständigen kann man sich, so klagt die freundliche Athenerin, mit den im selben Haus wohnenden Jugoslawen. Die gibt’s ja eigentlich nicht mehr, wende ich ein, was sind denn das: Serben? Oder Kroaten? – Weiß ich nicht, für mich sind es Jugoslawen, die werfen ihren Müll nachts in unsere Abfalltonne, und außerdem sehen sie unser neues Auto immer so böse an, deshalb brauchen wir unbedingt eine Garage! Ich habe ja nichts gegen Ausländer, versichert die Griechin, schließlich bin ich selber Ausländerin, doch mit diesen Menschen vom Balkan kann man nicht in Frieden leben. Multikulti untereinander ist auch kein Zuckerschlecken.

Ganz einheimisch verläuft eine spezielle Finanzkrise – im Dorf gibt es 27 Betroffene. Ein Banker, der seine Karriere vor Jahrzehnten hier startete, dann andernorts aufstieg im Gewerbe, hat einen Schaden von 1,7 Millionen Euro angerichtet, erhielt eine mehrjährige Haftstrafe, befand sich dennoch vor einigen Wochen in seinem hiesigen Anwesen, saß im Sessel im Wintergarten, sank zur Seite und war tot. Mysteriös – der so plötzlich Dahingeschiedene wurde ohne Obduktion unüblich rasch begraben. Es gibt deshalb reichlich Gerede im Ort, nicht nur bei den Leuten, die durch sein Verschulden viel Geld verloren.

Es fehlt nicht an Mysterien hier im Hochtaunus, es kann aber jeder nach seiner Fasson selig werden. Ein Stück die Straße runter wohnt eine Gruppe sogenannter Teufelsanbeter, bei denen ist es mit dem Seligwerden wohl eher schwierig. Die beiden jungen Männer und eine junge Frau gehen tagsüber regelmäßig zur Arbeit, wann sie wo wen anbeten, sieht man von außen nicht. Innenarchitektonisch sind sie etwas eigenwillig, strichen die Wände ihrer drei Zimmer schwarz, die von der Vormieterin übernommenen weißen Einbauschränke schleppten sie auf den Speicher. Ungewöhnlich sind auch ihre Transportmittel. Sie fahren zwei gebrauchte Leichenwagen, früher nutzten sie noch einen stark ramponierten Bundeswehr-LKW, den zierten an allen Fenstern Bilder von Totenköpfen, das Ungetüm ist inzwischen abgeschafft. Missionieren wollen sie bisher niemanden, hätte wohl auch kaum Chancen, die Eingeborenen sind streng katholisch, an dieser Prägung ändern auch die zahlreichen Zuzügler nichts, meist junge Familien mit kleinen Kindern. Gemietet oder gekauft haben sie wegen der besseren Luft im waldreichen Mittelgebirgsdorf. Allerdings wurden in den letzten Jahren die Bürger mehr und die Bäume weniger. Was man allein rings um uns herum an Laub- und Nadelgewächsen schlägt, ist zum Heulen. Entsprechend geht’s abwärts mit der Luftqualität im »Luftkurort«.

Meist im Freien hält sich der obligate Dorf-Alkoholiker auf, dem ich aber noch nicht begegnet bin. Er verursachte vor einiger Zeit erheblichen Wirbel, besuchte den Gottesdienst mit Bierflasche, die er während der Predigt köpfte. Das folgende Gluckgluckgluck fanden Pfarrer und Gemeinde gar nicht komisch, der fröhliche Trinker wurde von zwei Männern vor die Tür gebracht, war aber nach kurzer Zeit wieder drin im sakralen Raum, bis eine von weiterher gerufene Polizeistreife ihn exmittierte. Im Ort selbst gibt’s keine Ordnungshüter mehr. Berichtet wird über den Zecher, daß er nicht nur Schnaps und Bier zuspricht, sondern auch Zeitungen liest, die klaubt er aus den Papiertonnen. Informiert ist er also über den von allerhand Bischöfen und Priestern betriebenen Mißbrauch. Hat er da etwas verwechselt, indem er seinerseits die Kirche mißbrauchte? Alkoholiker sollen ja mitunter ganz überraschend völlig klar sehen – hat er also gar nichts verwechselt, wollte signalisieren, daß man die Kirche nur noch besoffen ertragen kann?