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Sozialabbau 2011, Folge 6  (Tilo Gräser und Franziska Walt)

2. April: »Die Einsparungen im Gesundheitswesen gefährden Menschenleben«, berichtet die Berliner Zeitung im Lokalteil. Sie verweist auf den Jahresbericht der Berliner Feuerwehr für 2010. Danach müssen immer öfter Rettungswagen und Notärzte ausrücken. 279.699 Rettungseinsätze im Jahr 2010 seien um 12,3 Prozent mehr als im Vorjahr. »Was sich in der medizinischen Versorgung verschlechtert, müssen wir abfangen«, wird Landesbranddirektor Wilfried Gräfling zitiert. Eine Ursache sei, daß Krankenhäuser aus wirtschaftlichen Gründen Patienten schneller entlassen. »Bei Rückfällen müssen sie von der Feuerwehr wieder ins Krankenhaus zurückgebracht werden.« Eine weitere Ursache sei, daß niedergelassene Ärzte kaum noch Hausbesuche machten, da ambulante Leistungen schlecht vergütet würden. Infolgedessen wählten Kranke häufiger die Telefonnummer 112.

3. April: Einer Bezieherin von »Hartz IV«-Leistungen im thüringischen Nordhausen zieht das Jobcenter monatlich 45 Euro ab, weil sie einen Kleingarten hat, ist in der Neuen Nordhäuser Zeitung zu lesen. Die zuständige Behörde ARGE begründe das damit, daß die Frau sich mit Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten verpflegen könne und somit keine Kosten habe, um sich und ihre Familie gesund ernähren zu können. Werkzeuge könne sie sich von Gartennachbarn borgen und müsse sie nicht zwingend selber kaufen.

5. April: Hunderttausende Rentenbezieher sind laut dem Statistischen Bundesamt so arm, daß ihre Rente vom Sozialamt aufgestockt werden muß, berichtet das Handelsblatt. Die Mehrzahl der Betroffenen seien Frauen, die wegen der Kinder auf Erwerbsarbeit verzichtet hätten. Es bestehe die Gefahr, daß immer mehr Menschen von Altersarmut bedroht seien. Das Blatt zitiert den Ökonomen Bert Rürup: »Die zentrale rentenpolitische Aufgabe in dieser Legislaturperiode besteht darin, eine Antwort auf dieses wachsende Risiko zu finden.« Rürup hatte »als Berater der Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt an den Reformen, die dieses Risiko erst heraufbeschworen haben«, wie die Zeitung in Erinnerung ruft, und sie beschreibt auch die Folgen der Reformen: »Das Jahrzehnte lang gültige Prinzip, wonach die Rente den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard im wesentlichen Teil sichern soll, gilt nicht mehr. Dieses Ziel können Erwerbstätige jetzt nur noch erreichen, wenn sie zusätzlich in eine staatlich geförderte Vorsorge wie die Riester-Rente oder in eine Betriebsrente einzahlen. Dies gilt um so mehr, als das Nettorentenniveau vor Steuern Jahr für Jahr sinkt – von heute 52 auf 43 Prozent im Jahr 2030.«

8. April: In Berlin sind 35,7 Prozent der unter 15-Jährigen von Armut betroffen, wie die Bertelsmann-Stiftung feststellt.
– Das Kinder- und Jugendhaus »Oase 26« des Sozialverbandes Volkssolidarität im sächsischen Naunhof kämpft mit Personalproblemen infolge der Kürzung kommunaler Mittel für seine Arbeit, berichtet die Leipziger Volkszeitung. Die drei Stellen neben der der Leiterin dürfen nur noch durch »Ein-Euro-Jobber« für jeweils neun Monate besetzt werden. Daher muß die Leiterin das Haus schließen, wenn sie nicht da ist, da sie die Ein-Euro-Jobber nicht allein in der Einrichtung lassen darf. Zugleich soll sie nach Vorgaben des Landkreises Leipzig mehr mobil mit Jugendlichen arbeiten. »Einerseits stutzt man die Personaldecke so weit zusammen, dass die Jugendclub-Leiter kaum noch das Haus verlassen können. Andererseits sollen sie neue Aufgaben im Stadtgebiet übernehmen«, kritisiert Katharina Schwarz, die »Oase«-Leiterin.
– Weil der Freistaat Sachsen im sozialen Bereich spart, mußte die sächsische Diakonie an der Betreuung von Kindern und Jugendlichen 20 der bisher 150 Stellen streichen, so Oberkirchenrat und Diakonie-Direktor Christian Schönfeld laut dpa.

11. April: In vielen Reden wird die »Informationsgesellschaft« beschworen, die allen Menschen gleiche Chancen gebe. Doch Arbeitslose werden davon ausgeschlossen. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ist der Meinung, daß »Hartz-IV«-Bezieher keinen PC brauchen. Sie könnten sich auch aus Fernsehen und Radio mit Informationen versorgen. So begründete das Gericht seine Entscheidung, daß »Hartz-IV«-Empfängern kein Geld für die Erstanschaffung eines Computers zustehe. Empfänger von Leistungen der Grundsicherung könnten nicht verlangen, bei der Erstausstattung ihrer Wohnung wie die Mehrheit der Haushalte gestellt zu werden. (Az.: L 6 AS 297/10 B)

12. April: Die Stadtverwaltung Saarbrücken will 150 bis 250 »Hartz-IV«-Empfängern einen Job anbieten. Für 30 Wochenstunden sollen sie 720 Euro netto pro Monat erhalten. »Hartz-IV«-Bezieher dürfen zu gemeinnütziger Arbeit, sogenannter »Bürgerarbeit«, verpflichtet werden. Darauf bezieht sich die Stadtverwaltung laut Saarbrücker Zeitung. Der Personalrat warnt vor einem Niedriglohnsektor, die »Bürgerarbeiter« blieben »arm trotz Arbeit«. Die meisten würden weiterhin »auf aufstockende Leistungen wie zum Beispiel ergänzendes Arbeitslosengeld II oder Wohngeldleistungen angewiesen« sein und »nicht wirklich eine Chance haben, jemals aus Hartz IV herauszukommen«.

14. April: Jedem sechsten Kind in Deutschland erschwert der »Hartz-IV«-Regelsatz eine adäquate Ernährung, schreibt Der Standard (Wien). Ausfälle in der Schule und später im Erwachsenenalter chronische Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes – doppelt so häufig wie im Bevölkerungsdurchschnitt – seien Folgen der Mangelernährung. In armen Familien zwinge der Kostendruck zu billigem einseitigem Essen: »vor allem fett, aber ansonsten ernährungsphysiologisch nicht ausreichend,« zitiert das Blatt Professor Hans Konrad Biesalski, den Sprecher des Sachverständigenbeirates der Ernährungsinformation der Universität Hohenheim. Der soziale Aufstieg werde so bereits am Küchentisch blockiert.

15. April: Sozialämter in Nordrhein-Westfalen stellen »Abzweigungsanträge« bei den Familienkassen, um auf das Kindergeld von Eltern mit volljährigen behinderten Kindern zugreifen zu können. Darauf macht der Sozialverband Deutschland (SoVD) aufmerksam. Betroffen davon seien Eltern, deren Kinder zu Hause wohnen und Grundsicherungsleistungen beziehen. Eltern behinderter Kinder haben Anspruch auf Kindergeld auch über das 25. Lebensjahr ihres Kindes hinaus, wenn es sich nicht aus eigenem Einkommen unterhalten kann. Da die Städte mit der Grundsicherung einen Teil des Unterhalts zahlen, beanspruchen sie das Kindergeld für sich. Allein in Bochum wurden nach SoVD-Angaben mindestens 100 Fälle bekannt, in denen das Sozialamt sogenannte Abzweigungsanträge gestellt hat.

18. April: »Die Lasten der Haushaltskonsolidierung tragen in erster Linie Hartz IV-Familien,« kritisiert die Partei Die Linke im Bundestag. Von der zum 1. Januar 2011 wirksam gewordenen Elterngeldgeldkürzung seien deutlich mehr Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II als Erwerbstätige betroffen: Rund 90.000 Erwerbstätige hätten einen Kürzungsbescheid erhalten, bei den »Hartz IV«-Bedarfsgemeinschaften seien 125.000 von der Komplettstreichung des Elterngeldes betroffen. Davon wiederum seien 47.000 Alleinerziehende, zumeist Frauen.

19. April: Erst rund zwei Prozent aller berechtigten »Hartz IV«-Empfänger haben laut Spiegel online einen Antrag auf die sogenannten Bildungsgutscheine gestellt. Das Antragsverfahren ist kompliziert. Der Berliner CDU-Politiker Frank Steffel verhöhnt in der B.Z. die »Hartz IV«-Bezieher und erklärt die geringe Anzahl der Anträge damit, daß Bildungsgutscheine sich nicht verrauchen und versaufen ließen.
– Die Zahl der Sanktionen gegen arbeitslose »Hartz IV«-Bezieher ist von 2009 auf 2010 um 14 Prozent gestiegen, wie das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) mitteilt. Waren 2009 rund 730.000 Arbeitslose davon betroffen, wurden ein Jahr später rund 100.000 mehr von ihnen mit Leistungskürzungen bestraft – vor allem wegen angeblicher Pflichtverletzungen und versäumter Meldungen.

20. April: In Deutschland gehören sieben Prozent der Erwerbstätigen zu den Armen trotz Arbeit, den »working poor«, Tendenz steigend. Das geht aus einer Untersuchung von Sozialforschern der Universitäten Bielefeld und Köln hervor. Verändert habe sich, daß heute Geringverdiener immer öfter die Haupt- und nicht mehr die Nebenverdiener eines Haushaltes seien, so die Wissenschaftler.