In Berlusconien gehen die parlamentarischen Eingriffe in das Justizsystem trotz heftiger Proteste weiter. Mitte April wurden in erster Lesung die Verjährungsfristen für viele Delikte herabgesetzt, wovon besonders der Regierungschef selbst profitieren wird, aber auch Angeklagte aus rund 15.000 weiteren Prozessen – eine Amnestie mit schwerwiegenden Folgen.
In Turin aber erging am 14. April nach drei Prozeßjahren ein Urteil, das in Italien ohne Beispiel ist. Es erregte wie das ihm zugrundeliegende Verbrechen – der Verbrennungstod von sieben Arbeitern im Stahlwerk Thyssen-Krupp in der Nacht zum 6. Dezember 2007 – großes Aufsehen (Ossietzky berichtete darüber in Heft 19/08). Das Neue und geradezu Revolutionäre an dem Richterspruch ist, daß er den Tod dieser Menschen nicht als bedauerlichen Unfall wertet, sondern als Folge fahrlässiger oder sogar vorsätzlicher Tötung, für die das Gericht die Unternehmensführung voll verantwortlich macht, weil sie wissentlich Sicherheitsauflagen unterlaufen und damit das Leben ihrer Arbeiter gefährdet habe. Man stelle sich vor, ein solches Kriterium würde bei Nuklear- oder Tankerkatastrophen angewendet! Thyssen-Krupp-Chef Harald Espenhahn erhielt sogar die geforderte Höchststrafe von 16,5 Jahren Haft, fünf weitere Mitglieder des Turiner Managements wurden zu 10- bis 13-jährigen Haftstrafen verurteilt.
Ein bahnbrechendes Urteil – so die meisten Kommentare – in einem Lande, in dem trotz Rückgang der Industrieproduktion immer noch drei drei Menschen pro Tag an den Arbeitsplätzen sterben, obwohl Artikel 1 der Verfassung lautet: »Die Republik Italien gründet sich auf die Arbeit.« Diesem Gebot wird man nun in Zukunft Respekt zollen müssen, hoffen Gewerkschafter und Menschenrechtler. Arbeiter, die in den vergangenen Jahren einen unerträglichen Verlust an Sicherheit und an Wertschätzung ihrer Arbeitskraft hinnehmen mußten, gelten nach diesem Urteil erstmalig nicht mehr einfach nur als Variable des Profits. Andere aber, wie zum Beispiel der Bürgermeister von Terni, fürchten eher negative Folgen für die Zukunft der Investitionen im dortigen Thyssen-Krupp-Stahlwerk und auch andernorts, wo sich die Strategie von Fiat-Chef Marchionne »Arbeit im Tausch gegen Rechte« durchsetzt.
Die italienischen Staranwälte der Verurteilten werden voraussichtlich in Berufung gegen dieses Urteil gehen, das sie als »politisch motiviert«, wenn nicht gar als »Racheakt« bezeichnen.
Es war wohl eher Zufall, daß am nächsten Tag die Metallgewerkschaft FIOM/CGIL eine Klage vor dem Turiner Arbeitsgericht gegen das Fiat-Management ankündigte. Es geht darum, das Aushebeln des Tarifvertrages im Fiatwerk Pomigliano d’Arco mittels Gründung einer »newco«, einer neuen Firma, die nicht der Confindustria, dem Unternehmerverband, angehört, als einen Angriff auf die Verfassung verurteilen zu lassen (s. die Vorgeschichte in Ossietzky 16/10 und 2/11). Denn damit versucht die Geschäftsleitung, die bisherige Beziehung zwischen den sogenannten Tarifpartnern außer Kraft zu setzen und die widerständige Gewerkschaft CGIL draußen zu halten.
Auch gegen diesen Angriff auf die demokratischen Regeln richtet sich der für den 6. Mai beschlossene achtstündige Generalstreik der CGIL gegen die Abwälzung aller Kosten der großen Krise auf die arbeitenden Menschen protestieren will.
Vor dem Justizpalast in Mailand, in dem Berlusconi sich zur Zeit noch in vier Prozessen zu verteidigen hat und mit allen Mitteln versucht, sich ihnen zu entziehen, tauchten derweil rote Plakate mit großen Lettern auf: »Die Brigate Rosse raus aus den Gerichten!« Zwar distanzierte sich sogar sein devoter Justizminister Alfano von einer solchen Formulierung, doch entspricht sie exakt Berlusconis wiederholt vorgebrachter Attacke gegen die »kommunistischen«, »umstürzlerischen« Justizorgane: Ein Teil der Staatsanwälte bilde eine kriminelle Vereinigung, gegen die eine parlamentarische Untersuchungskommission vonnöten sei. Diese Verhöhnung einstiger Opfer der »Roten Brigaden«, unter denen zahlreiche Richter waren, ist perfide. Die Opfer werden zu Tätern gemacht. Verbale Umkehrung der Realität in ihr Gegenteil steht immer am Beginn totalitärer Herrschaft.
Den im Mai anstehenden administrativen Wahlen in vielen Regionen und wichtigen Städten wie Mailand, Turin oder Bologna wird von allen Seiten große politische Bedeutung beigemessen, sie könnten auch das politische Ende Berlusconis einleiten, der gewissermaßen zum letzten Gefecht antritt. Darauf hoffen inzwischen die meisten Italiener. Was aber danach kommen soll, bleibt unklar – angesichts einer Opposition ohne politische Alternative.