Der Gaza-Krieg an der Jahreswende 2008/2009 ist erst zwei Jahre her, aber schon weitgehend aus den Medien verschwunden. Über seine Opfer bestehet Klarheit, über Verbrechen, Schuld und Verantwortung dagegen wird immer noch gestritten. Der neue Krieg gegen Libyen hat die Aufmerksamkeit besetzt, das Entsetzen über die israelische Kriegsführung ist verdrängt. Das liegt ganz im Interesse der israelischen Regierung, von ihren schweren Kriegsverbrechen abzulenken und deren materiellen wie juristischen Konsequenzen möglichst zu entgehen.
Diese Konsequenzen waren bereits im September 2009 von einer Kommission des UNO-Menschenrechtsrats aufgezeigt worden, die unter Leitung des angesehenen südafrikanischen Richters Richard Goldstone intensive Untersuchungen vor Ort unternommen und die Ergebnisse in einem deprimierenden Bericht der UNO vorgelegt hatte (deutsch: »Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gaza-Konflikt«, herausgegeben von Abraham Melzer, SEMITedition, Neu Isenburg). Der Bericht beschuldigte Israel umfangreicher Kriegsverbrechen und verlangte neben der Wiedergutmachung und Entschädigung der Opfer vor allem eine gerichtliche Verfolgung der politisch und militärisch Verantwortlichen. Eine gleiche Aufforderung ging an die palästinensische Seite, deren Raketenbeschuß auf israelische Grenzgebiete ebenfalls als Kriegsverbrechen eingestuft hat. Der Bericht wurde von der UNO-Generalversammlung angenommen und ist seitdem offizielles UNO-Dokument.
Dabei ist es geblieben. Weder die Israelis noch die Palästinenser haben ernsthafte Versuche zur gerichtlichen Klärung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unternommen. Eine weitere Untersuchungskommission der UNO, deren beide Mitglieder, die Richterin Mary McGowan Davis und der Richter Lennart Aspergen, die Konsequenzen überprüfen sollten, die die beschuldigten Parteien aus den Vorwürfen gezogen haben, mußte im März dieses Jahres die faktische Folgenlosigkeit des Berichtes feststellen. McGowan Davis und Aspergen berichteten zwar von etwa 400 Untersuchungen der israelischen Regierung auf Grund der Vorwürfe des Goldstone-Berichtes sowie anderer Berichte israelischer Menschenrechtsorganisationen. Aber nur 52 von ihnen waren juristische Untersuchungen, die die strafrechtliche Verantwortung im Blick hatten. Schließlich wurden drei Vorwürfe strafrechtlich verfolgt, die bisher zwei Verurteilungen zur Folge hatten. Eine betraf den Diebstahl einer Kreditkarte, der mit sieben Monaten Haft bestraft wurde. Die andere ahndete die Benutzung eines palästinensischen Kindes durch einen israelischen Soldaten als Schutzschild mit drei Monaten Haft auf Bewährung. Ein dritter Fall, in dem eine Person, die eine weiße Flagge schwang, gezielt angegriffen worden sein soll, ist noch anhängig. Die beiden Richter mußten zudem feststellen, »daß Israel keine Untersuchungen gegen jene geführt hat, die die Operation ›Gegossenes Blei‹ entworfen, geplant, befehligt und geführt hatten«. Aber auch die palästinensische Seite hat bisher keine strafrechtliche Untersuchung vorgenommen. Schließlich ist der UNO-Sicherheitsrat ebenfalls untätig geblieben, der allein ein Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einleiten könnte. Da Israel sich nicht der Rechtsprechung des IStGH unterworfen hat, ist der UNO-Sicherheitsrat befugt, einen Fall möglicher schwerer Kriegsverbrechen dem Gerichtshof zu unterbreiten, wie er es bei dem sudanesischen Präsidenten El Bashir und jüngst bei dem libyschen Potentaten Gaddafi getan hat.
Doch unlängst nahm die Sache eine unerwartete, Aufsehen erregende Wendung. Der Kommissionsvorsitzende Goldstone distanzierte sich in der Washington Post teilweise von seinem Bericht. Israels Premierminister Netanyahu reagierte prompt und forderte umgehend den UN-Sicherheitsrat auf, den Bericht vom Tisch zu nehmen.
Goldstone schreibt, daß der Bericht anders ausgefallen wäre, wenn er gewußt hätte, was er jetzt wisse. Er sei nunmehr davon überzeugt, daß es »nicht Israels Politik gewesen ist, bewußt auf Zivilisten zu zielen«. Das allerdings hatte sein eigener Bericht auch nicht behauptet. Dieser spricht davon, daß die Kriegsführung »bewußt willkürlich« gewesen sei, um die Bevölkerung »zu bestrafen, zu erniedrigen und zu terrorisieren«. Human Rights Watch war ebenfalls zu der Überzeugung gekommen, daß das »Verbrechen willkürlicher Kriegsführung« Politik des israelischen Staates gewesen sei.
Goldstone beruft sich für seinen Erkenntniswandel auf die »eigenen Untersuchungen Israels« wie auch die Folge-Untersuchung der UNO von McGowan Davis und Aspergen. Meint er mit den »eigenen Untersuchungen« den sogenannten Turkel-Bericht, so stützt er sich auf eine Weißwaschung ohne Beweiswert. Denn die israelische Regierung verwehrte auch der von ihr selbst gebildeten Turkel-Kommission jede Befragung der beteiligten Soldaten sowie der militärischen und politischen Führungsebene. Würde er sich auf die Berichte der Organisation »Das Schweigen brechen« oder Bet’selem stützen, hätte er darin nur eine Bestätigung seiner eigenen Ergebnisse gefunden. Auch die Folge-Untersuchung der UNO kann den Meinungswandel nicht herbeigeführt haben. Denn sie bestätigt gerade, daß Israel keine ernsthaften Untersuchungen vorgenommen habe, daß es vor allem nicht adäquat auf die Vorwürfe des Goldstone-Berichts eingegangen sei.
So bleiben vorerst nur Vermutungen über den bizarren Rückzug des einst so renommierten Richters. Seine Tochter deutete in der israelischen Presse an, daß ihr Vater nur mit großen Bedenken diese schwierige Aufgabe übernommen habe. Er sei dann sehr erschrocken gewesen über das, was er gesehen habe. Ohne ihn wäre der Bericht jedoch viel schärfer ausgefallen. Alle Anzeichen deuten auf erheblichen Druck aus den zionistischen Kreisen, die ihn umgeben. Die Isolierung von ihnen konnte er offensichtlich nicht ertragen.
Goldstone muß seine Distanzierung ohne Absprache mit den übrigen Mitgliedern seiner Kommission vorgenommen haben. Denn diese, die Juristin Hina Jilani, die Professorin Christine Chinkin und der pensionierte Oberst Desmond Travers, haben auf seine Äußerungen mit einer Schärfe und Deutlichkeit reagiert, die einen tiefen Bruch zwischen ihnen und ihrem ehemaligen Vorsitzenden zeigen: »Verleumdungen über die Ergebnisse des Reports können … nicht unwidersprochen bleiben«. Sie hielten »es für notwendig, jeden Eindruck zu zerstreuen, daß spätere Entwicklungen irgendeinen Teil des Reports unsubstantiiert, irrig oder ungenau gemacht haben«. Es gebe »keine Rechtfertigung dafür, etwa eine Neubewertung des Reports zu fordern oder zu erwarten, da nichts Substanzielles aufgetaucht ist, was in irgendeiner Weise den Kontext, die Ergebnisse oder Schlußfolgerungen des Reports bezüglich einer der Parteien des Gazakonfliktes ändert«. Sie beharren darauf – was niemand außer der israelischen Regierung je bezweifelt hatte –, daß die Untersuchungen äußerst sorgfältig und umfassend vorgenommen worden seien. Sie verhehlen auch nicht, daß sie während der Untersuchungen außerordentlichem Druck und persönlichen Attacken ausgesetzt worden seien und daß dabei offensichtlich die Absicht gewesen sei, die Kommission und den Bericht zu diskreditieren. Der einzige Mangel ihrer Arbeit, die fehlende Zeugenvernehmung der israelischen Soldaten und Politiker, sei von den Israelis selbst zu verantworten. Ziel sei die Wahrheitsfindung gewesen, die wie bei allen anderen vergleichbaren UN-Missionen nur eine Grundlage für die notwendigen gerichtlichen Untersuchungen liefern sollte.
Goldstone hat auf die Intervention seiner Kommissionsmitglieder bisher nicht reagiert. Er hat sich aber auch nicht vollkommen von dem gemeinsamen Bericht distanziert. Er bestätigt selbst in der Washington Post: »Unser Bericht fand Beweise für eventuelle Kriegsverbrechen und mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit von beiden Seiten, Israel und Hamas.« Er hat auch nicht die Forderung nach gerichtlicher Klärung der Vorwürfe zurückgenommen. Nichts liegt also näher in dieser Situation, in der gerichtliche Verfahren in Israel und Gaza nicht mehr zu erwarten sind, als den UN-Sicherheitsrat aufzufordern, die ganze Sache nun endlich dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vorzulegen. Der Bericht wurde von der UNO-Generalversammlung angenommen und ist seitdem offizielles UNO-Dokument.
Doch auch dies wird die Obama-Administration wohl zu verhindern wissen. Sie hatte bisher schon alles unternommen, um die Untersuchungen der Gaza-Kriegsverbrechen zu torpedieren. Wie das US-Magazin Foreign Policy am 19. April aus diplomatischen Depeschen der USA zitierte, die Wikileaks vorliegen, intervenierte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, im Mai 2009 mehrfach bei UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon. Sie habe darauf gedrungen, die Empfehlung einer genaueren Untersuchung aus einem Bericht über Angriffe auf UNO-Einrichtungen im Gazastreifen zu streichen. Sie halte weitergehende Ermittlungen »nicht für notwendig«. Rice forderte, die Angelegenheit zu den Akten zu legen. Ban habe schließlich dem Drängen der USA nachgegeben, wofür sich Rice bei ihm »bedankt« habe. Vergeblich hatt sie sich auch schon gegen den Auftrag des UN-Menschenrechtsausschusses an die Goldstone-Kommission gestemmt.
Obamas Nah-Ost-Politik läßt keine Anzeichen erkennen, daß sie diesen Widerstand jetzt aufgeben wird. Dennoch sollte die Bundesregierung die Gelegenheit ihrer neuen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat nutzen und die Vorlage an den IStGH beantragen, wenn sie überhaupt noch an den Sinn dieser einst von ihr so intensiv beförderten Institution glaubt.