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»Feigenblätter« für die Freiheit des Wortes  (Edmund Schulz)

Vom Staatstheater Stuttgart wird Erstaunliches gemeldet – am 19. Mai kommt im dortigen Schauspielhaus eine Bühnenadaption von Upton Sinclairs Roman Öl! zur Erstaufführung. Erstaunlich ist dieses kommende Ereignis insofern, als 84 Jahre vergehen mußten, bis wieder einmal auf einer deutschen Bühne Upton Sinclair gespielt wird. Man schrieb den 1. März 1928, als im Studio der Berliner Piscator-Bühne Sinclairs »Singende Galgenvögel« Premiere hatte, ein Stück über die Kerkerqualen streikender amerikanischer Hafenarbeiter. Erstaunlich und zugleich erfreulich ist die Ankündigung aber auch, weil sie davon zeugt, daß es hierzulande doch noch Leute gibt, die sich dieses gesellschaftskritischen amerikanischen Autors wieder besinnen. In diesem Fall sind es der Regisseur Volker Lösch und der Dramaturg Jörg Bochow, die sich Sinclairs großen Romans angenommen haben und daraus ein Schauspiel gestalteten. Hiesige Verleger hingegen zeigen sich gegenüber Upton Sinclair weiterhin resistent; für dessen Bücher, so glauben sie, gebe es keine Käufer. So bleibt denn dem Interessierten nur das Antiquariat, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit denn auch fündig wird, ist doch Sinclairs Opus »Oil!« immerhin in drei Übersetzungen – besorgt von Hermynia Zur Mühlen (Malik-Verlag 1927), Ingeborg Gronke (Aufbau-Verlag 1983) und Otto Wilck (März Verlag 1984) – dereinst zum Leser gelangt.

Am ehesten wird der Suchende bei seinem Antiquariatsbesuch auf »Petroleum« stoßen, wie der Titel der 1927er Malik-Ausgabe lautete, von der dereinst eine viertel Million Exemplare in die Buchhandlungen gelangte. Und wenn ihm das Glück hold ist, zudem auf ein Exemplar in dem das beigeheftete Lesezeichen in Form eines Feigenblattes noch vorhanden ist. »Jedermann sein eigener Zensor!« steht dort auf der Vorderseite und rückseitig: »Dem sittlichen Leser wird anheimgestellt, Stellen, die ihm gefährlich werden können, im Notfall mit diesem Feigenblatt zu bedecken.« (Unterstreichungen im Original; E. Sch.)

Jedermann sein eigener Zensor? Was hat es damit auf sich, wird sich der heutige Leser des Romans fragen. Und nach der Lektüre zudem, wo sie denn waren, die unsittlichen Stellen, die dem sittlichen Leser hätten gefährlich werden können? Was war denn das für ein Verleger-Gag?

Klären wir des Rätsels Lösung. Sie beginnt mit einer Notiz, die der Malik-Verleger Wieland Herzfelde am 21. Juni 1927 an die »Zentral-Agitprop der K.P.D.« schickt: »Wir teilen Ihnen mit, daß in Amerika das Buch ›Petroleum‹ von Upton Sinclair verboten wurde und senden Ihnen anliegend eine uns zugegangene Notiz von Upton Sinclair ... Wir nehmen an, daß das Verbot dieses Buches, das im Herbst dieses Jahres in unserem Verlag erscheint, für die Parteipresse interessant ist und bitten Sie, eine diesbezügliche Nachricht ... an die Zeitungen gelangen zu lassen.« So geschah es dann auch, und so hält sich bis heute die Legende, daß Sinclairs Roman »Oil!« in den USA verboten gewesen sei. Nun gab es dort tatsächlich ein Verbot des Buches, jedoch nicht für die Staaten insgesamt, sondern nur für die Stadt Boston. Dort hatte die Stadtverwaltung aus »sittlichen Gründen« für das Buch ein Verkaufsverbot verfügt. Die Handhabe dafür gab das Zensur-Gesetz des Staates Massachusetts, das sexuelle Darstellungen in der Öffentlichkeit untersagte. Und die sahen die Sittenwächter in der Beschreibung des Liebesverhältnisses eines unverheirateten Paares, das zu einem Kind führt. Alles in allem wurden ganze zehn Seiten des gut 500seitigen Buches beanstandet.

Upton Sinclair nahm dieses Bubenstück der Bostoner Zensoren, die mit gleicher Begründung schon Bücher von Theodore Dreiser und Sinclair Lewis aus verbannt hatten, nicht unwidersprochen hin. So verkaufte er in Boston »Oil!« eigenhändig auf der Straße und wurde – erwartungsgemäß – festgenommen und zu zwei Tagen Haft verurteilt. Das hielt ihn nicht davon ab, eine weitere Aktion zu planen. Dafür ließ er 300 Exemplare des Buches anfertigen, in denen die als Verkaufs-Verbotsgrund angeführten Stellen mit »Feigenblättern« überdruckt waren. Ausgestattet mit zwei Papptafeln, auf denen zu lesen stand: »OIL! Upton Sinclair – FIG LEAF – EDITION«, stellte er sich mit den präparierten Büchern in Boston auf eine Kreuzung, direkt neben einem Verkehrsposten der Polizei. Ein bestellter Bildreporter fertigte davon ein Foto, das um die Welt ging. Durch Wieland Herzfeldes Vermittlung gelangte es in Deutschland am 28. August 1927 auf die Titelseite der auflagenstärksten Publikation des Ullstein Verlages, der Berliner Illustrirte Zeitung, die dazu schrieb: »Ein merkwürdiger Kampf gegen die Zensur. Der amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair auf der Straße in Baltimore (sic!) beim Verkauf seines neuen Romans, der von der Zensur verboten wurde. Der Schriftsteller ließ über die beanstandeten Stellen des Buches Feigenblätter drucken und verkauft nun die ›gereinigten‹ Exemplare.«

Wieland Herzfelde hätte gern in der bereits angekündigten deutschen Ausgabe die »anstößigen Stellen« – das sind in der Malik-Ausgabe die Seiten 231–235, 244–245, 247–248 und 394–395 – ebenfalls mit »Feigenblättern« kaschiert, doch ließ sich dieser Plan nicht verwirklichen. Dafür entstand die satirische Idee von dem »Feigenblatt« mit dem oben zitierten Text, das dem Buch beigebunden wurde.

Für Upton Sinclair war es keine Frage, daß die Bostoner Kampagne gegen den Roman vom Geldadel der Stadt finanziert worden war um seinen »sozialistischen Roman von den gewöhnlichen Einwohnern ihrer Stadt fernzuhalten«. Und tatsächlich ist »Oil!« weitaus mehr als die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines kalifornischen Ölproduzenten. Sinclair zieht den inhaltlichen Bogen seines Grundthemas, den gnadenlosen Konkurrenzkampf der Ölbarone, sehr weit – bis zur Invasion der US-Armee 1918 in Sibirien gegen die russische Revolution und bis zur gnadenlose Verfolgung der Kommunisten in den frühen zwanziger Jahren der USA.

Mit dem Bostoner Herrschaftsklüngel rechnete Upton Sinclair 1929 noch einmal ab: in seinem Roman über den Justizmord an den italienischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Der Titel dieser literarischen Abrechnung lautete schlicht und einfach so wie der Name der Stadt: »Boston«. Mit 90.000 Exemplaren erzielte »Boston« nach »Petroleum« die zweithöchste Auflage eines Sinclair-Werkes in Deutschland.

Nach Sinclairs Tod im November 1968 schrieb der damalige Herausgeber und Chefredakteur der Weltbühne, Hermann Budzislawski, über dessen Bücher: »Auch wir in Deutschland haben nach dem ersten Weltkrieg durch ihn die Vereinigten Staaten ohne Schminke kennengelernt. Wir haben seine atemraubenden Bücher verschlungen und in ihnen die grausame gesellschaftliche Gegenwart der USA, die uns vorher unverständlich und fremd war, hautnah gespürt. Sagt man manchmal, Upton Sinclair habe doch nur aus dem Augenblick für den Augenblick geschrieben, so mag das sein. Und doch wirken seine großen Romane über den Tag hinaus bis in unsere Zeit. Man sollte sie wieder unter die Menschen bringen.« – Ja, man sollte!