Zu den Mini-Staaten dieser Welt gehört neben dem Vatikan in Rom auch der führende Weltfinanzhandelsplatz: die City of London. Der auch »Square Mile« gerufene kleine Staat inmitten der Millionenstadt London ist gut eine Quadratmeile (2,6 Quadratkilometer) groß und zählt rund 8000 Einwohner. Er ist exterritoriales Gebiet und gehört weder zu Großbritannien noch zu London, weshalb selbst Königin Elisabeth II. sich wie bei anderen Staatsbesuchen anmelden muß. Oberhaupt der City und der sie betreibenden »City of London Corporation« ist zur Zeit Alderman Roger Gifford. Er kann selbstverständlich auf ein Studium in Oxford verweisen und auf eine jahrzehntelange Tätigkeit in namhaften Institutionen des großen Geldes – etwa als britischer Chef der SEB-Bank. Wie seine Vorgänger wurde er von den 8000 Einwohnern der City ins Amt gewählt, die je eine Stimme haben. Allerdings haben bei der Wahl auch die ansässigen Geldhäuser, Versicherungs- und Beratungsunternehmen Stimmen zu vergeben – insgesamt 23.000. Sie besitzen bei jeder Wahl von vornherein eine sichere Drei-Viertel-Mehrheit. Lord Mayor Roger Gifford residiert mit seiner Familie im Manson House, wo er zudem stilvoll Staatoberhäupter, Regierungschefs sowie die Vorstandsvorsitzenden von Banken und Konzernen aus aller Welt empfängt. Es sei denn, er ist auf Reisen, um im Namen und zum Besten der City die Werte »Liberalisierung« und »offene globale Finanzmärkte« zu preisen. Schließlich geht es vor allem darum, noch mehr Finanz- und Fluchtkapital an die Themse zu locken. Die Corporation verspricht denn auch im schönsten neoliberalen Tonfall, sie werde sicherstellen, »daß die City der führende europäische Finanzplatz bleibt« und selbstverständlich »der Puls der Weltfinanzmärkte«. Und sie wirbt: »Die besten Firmen der Welt machen hier ihre Geschäfte, weil wir beste Geschäfte ermöglichen.«
In dem von der »City of London Corporation” betriebenen exterritorialen Gebilde rund um die U-Bahnstation »Bank«, wo britische und internationale Gesetze nicht greifen, sind rund 500 Banken aus aller Welt etabliert. Sie sitzen quasi auf dem Kundenvermögen, das von Brokerfirmen und Investmentbanken wohlweislich in die City ausgelagert worden ist und weiter wird, denn sie hat eine eigene Staatlichkeit, eigene Gesetze und überwacht sich selbst. Das Recht auf Selbstverwaltung besitzt die City seit 886; ein Lokalparlament seit dem 12. Jahrhundert. Während der König in der City of London nichts zu sagen hatte, begannen die Händler und Finanziers vor gut tausend Jahren damit, den Monarchen, den Welthändlern und später auch Industriellen Darlehen zu verschaffen. Die City ist aus der Geschichte des britischen Empires ebenso wenig wegzudenken wie aus der des Kapitalismus. Schon deshalb versteht sie sich als »Widerstandszelle« gegen sämtliche Versuche, den Kapitalismus und das Finanzkapital zu regulieren.
Im Zweiten Weltkrieg zerstörte Görings Luftwaffe ein Drittel der prächtigen Gebäude der »Square Mile«. Nach dem Krieg mußten die Banker der City, die ihren Platz als führendes Finanzzentrum an die Wall Street verloren hatte, ein neues Geschäftsmodell kreieren. Als in den späten 1950er Jahren das Pfund Sterling als internationale Leitwährung unter Druck kam und die Regierung des Vereinigten Königreichs die Vergabe von Auslandskrediten begrenzte – auch um Investitionen in der darbenden heimischen Wirtschaft zu befeuern –, zeigte ihr die City die kalte Schulter. Sie war nicht am Mutterland der ersten industriellen Revolution interessiert, sondern an der Weltmacht des Geldes. Sie setzte weiterhin auf Kredite – allerdings in der zur neuen Leitwährung aufgestiegenen Währung der amerikanischen Notenbank, dem Dollar. Weder die britische noch die US-Notenbank – die Bank of England beziehungsweise die »Fed« – konnten trotz der damals bestehenden Devisenkontrollen verhindern, daß die Banken in der City Einlagen in US-Dollar annahmen und dafür höhere Zinsen gewährten als die regulierten Finanzinstitute. Selbst US-Präsident John F. Kennedy scheiterte 1963 daran, das außerhalb jeglicher internationaler Währungsverträge operierende exterritoriale Gebiet der City Corporation daran zu hindern, das Finanzkapital aus »aller Herren Länder« massenhaft anzusaugen. Ab den 1960er Jahren prosperierte der Finanzmarkt der City of London, und weil er in Europa lag, wurde er fortan als europäischer Dollarmarkt, kurz Euro-Dollarmarkt, in dem keine Mindestreserven gelten, weltbekannt. Um 1980 – nach der Abschaffung der Devisenkontrollen – beliefen sich die Einlagen bereits auf 500 Milliarden US-Dollar. (Mit der viel später entstandenen Währung Euro hat der Euro-Dollarmarkt nichts gemein.)
Weil – bislang – kein außenstehendes Gericht und keine Regierung die Geschäfte der City kontrollieren kann, blüht der Handel mit Wertpapieren und Devisen und strömt das Fluchtkapital in die Square Mile, wo es gleichsam im Handumdrehen »legalisiert« und in die Dienste der Herrschaft des Finanzkapitals genommen wird. Was das Finanzkapital bezweckt, ist bekannt: die von ihm errungene Weltherrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen, vor allem durch die Unterwerfung der Nationalstaaten unter die Staatsschuldenknechtschaft.
Mit der City of London ist nicht zu spaßen. Im Kern fungiert sie als Zentrale der Welt der Offshore-Plätze – der Finanz- und Steuerparadiese – mit angeschlossenen Anwaltskanzleien, Fondsmanagern und so weiter. Sie dreht nicht zuletzt an allen finanzkriminellen Geschäften mit, die etwa über folgende im Privateigentum der englischen Krone befindlichen »Oasen« laufen: die Kanalinseln Jersey und Guernsey, die Isle of Man, Gibraltar, die Bermudas und Bahamas, die Turks-, Caicos- und Caymaninseln, die Virgin Islands nebst einigen Atollen. Diese Kronkolonien sind Inseln mit jeweils eigenen Gesetzen und eigenen Regierungen. Deren Gouverneure vertreten die Krone, und die Einheimischen haben so gut wie nichts zu sagen.
»Offshore« werden die Inseln genannt, weil sie jenseits der britischen Kontrolle operieren. »Onshore« liegt dagegen genau dort, wo zumindest Gesetze und Kontrolle gegeben sind und Produkte oder Dienstleistungen geschaffen werden, die im täglichen Leben von Nutzen sein können. Allerdings hat die Realwirtschaft nur zu gut verstanden, daß die »Offshore«-Finanz- und Steuerofferten außerordentlich profitable und steuervermeidende Konstruktionen ermöglichen. Zumal, wenn die Schreibtische der Verantwortlichen mitten in London stehen, und nicht etwa auf den fernen Caymaninseln, wo es Bürohäuser gibt, in denen mehr als 15.000 Unternehmen untergebracht sind – wohlgemerkt ganz ohne Briefkasten, denn Zigtausende Briefkästen würden jeden Geldbriefträger überfordern.
Argentinische, brasilianische, mexikanische und andere Dollaranleihen mehr – in den vergangenen Jahrzehnten mit Renditen bis über 40 Prozent – sind eine Spezialität der City of London. Die Gläubiger, die sie »offshore« zeichnen, sind »HNWIs« aus der ganzen Welt (High Net Worth Individuals; sprich Personen mit einem hohen Nettovermögen). Dazu gehören knapp fünf Millionen »Non-Doms« aus aller Welt, die in London beziehungsweise »Londongrad« oder in vornehmen Landhäusern der näheren Umgebung leben. Sie tun das deshalb, weil ihnen die »domicile rule« Großbritanniens ein schönes Leben ermöglicht. Sie können, ohne als »ansässig« zu gelten, im Land wohnen und müssen deshalb im Königreich keine Steuern zahlen. Neben russischen Oligarchen, saudischen Prinzen, griechischen Reedern und anderen mehr gehört auch Baron Michael Anthony Ashcroft, Mitglied des britischen Oberhauses und stellvertretender Vorsitzender der »Conservative Party«, zu den Glücklichen. Rein steuerlich ist er in Belize, der früheren Kolonie Britisch-Honduras, ansässig.
Die Geschäfte der City of London liegen für die britische Regierung zwar außer Reichweite. Wenn man aber weiß, daß die City 2011 einen Anteil von gut 21 Prozent am Bruttonationalprodukt »erwirtschaftete« – ihre sogenannten Finanz- und Beratungsdienstleistungen sowie die Versicherungsmärkte bilden mit einem Anteil von zehn Prozent den bedeutendsten Wirtschaftssektor Großbritanniens –, dann versteht es sich von selbst, daß die Regierung unter David Cameron alles andere als gewillt ist, die City of London durch internationale oder gar EU-Regulierungen geschwächt zu sehen. Die in ihr beschäftigten rund 350.000 Banker, Broker, Versicherungsfachleute und anderen Kräfte, deren Gehälter und Boni eine hohe Nachfrage nach Dienstleistungen, Immobilien und Gütern des täglichen Bedarfs im Londoner Großraum nach sich ziehen, möchte die herrschende Politik nicht missen. Schon deshalb soll möglichst alles so bleiben, wie es ist: Unternehmen nehmen einen »Offshore«-Kredit auf, um die Kosten im Inland steuermindernd abzusetzen. Private-Equity-Firmen können weiterhin die Kreditschulden den übernommenen Firmen aufdrücken und die Gewinne aus der Finanzierung »offshore« einstreichen. Immerhin werden weit mehr als 80 Prozent aller internationalen Kredite von »Offshore«-Banken vergeben. Hinzu kommt das sogenannte »Re-invoicing« mit Entwicklungsländern, wobei jährlich circa 100 Milliarden Dollar illegal in »Offshore«-Finanzparadiese abfließen. Die Banken der City geben Entwicklungsländern nur zu gern überhöhte Kredite und verhelfen den korrupten Eliten dann dazu, möglichst viel davon auf ihre privaten »Offshore«-Konten zu verschieben. Daß die City den Internationalen Währungsfonds und andere Kräfte dann dazu bewegt, die Staaten, sprich deren Steuerzahler zu zwingen, die Schulden auch zu bedienen, ist alles andere als eine Petitesse. Von den in der City erfundenen Kreditausfallversicherungen, den »Credit Default Swaps« und unzähligen anderen Kreditderivaten ganz zu schweigen. Profitable Wetten etwa auf den Weizenpreis, der dann wie 2008 prompt steigt und Millionen Menschen in den Hunger oder Hungertod treibt, gehören auch dazu. Die Wirtschaftsleistung der ganzen Welt beträgt etwa 70 Billionen Dollar. Über die Hälfte dieses Handels wird über »Offshore«-Zentren abgewickelt, das heißt die Gewinne fallen so gut wie steuerfrei in den Steueroasen an. Auch die Derivate mit einer Größenordnung von rund 700 Billionen Dollar werden überwiegend »offshore« abgewickelt. Knapp die Hälfte davon über die City of London, die sich darauf versteht, mit »Finanz-Massenvernichtungswaffen« die Welt das Fürchten zu lehren.
Übrigens werden – trotz Euro – nach wie vor rund 40 Prozent der weltweiten Kreditgeschäfte auf dem Euro-Dollarmarkt abgewickelt. Die City of London wiederum kann ihre großen Kredite nur solange in bewährter weltherrschaftlicher Manier vergeben, wie der Dollar als Leitwährung zur Verfügung steht. Die Bande zwischen der City of London und der Wall Street sind deshalb eng. Schließlich lebt auch die Wall Street vom auch für Ölgeschäfte wichtigen Dollar. Bleibt die Frage: Welches Interesse hat die in Europa liegende City of London am Bestehen des Euros? Die Antwort wird in nächster Zukunft gegeben werden.
Die britische Regierung unter David Cameron hat sich vorgenommen, das Königreich in eine »Big Society« zu verwandeln. Dieser »Plan von atemberaubender Reichweite« (Wall Street Journal) soll das Land zu einem von staatlichen Leistungen und Diensten möglichst unabhängigen Dorado des Kapitals machen. Johann-Günther König hat bereits in mehreren Beiträgen Aspekte dieser Entwicklung beschrieben, s. Ossietzky ab Heft 19/10).