Wieder einmal nähern wir uns einem bedeutenden innenpolitischen Spektakel, einem Jubiläum, einem runden Jahrestag eines herausragenden Ereignisses, an das einst in der Alt-Bundesrepublik bis 1990 mit einem Staatsfeiertag, dem »Tag der deutschen Einheit«, gedacht wurde, den die Bürger vor allem zu Ausflügen nutzten – also kurz gesagt: dem 60. Jahrestag des »Volksaufstandes« am 17. Juni 1953 in der DDR.
Die Vorbereitungen haben längst begonnen. Vorangeht, wie könnte es anders sein, die Eppelmann-Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Gemeinsam mit dem Bundesfinanzministerium und dem Deutschlandfunk ließ sie eine 20teilige Plakatausstellung »Wir wollen freie Menschen sein« im Format DIN A 1 drucken, die in 2.500 Exemplaren im In- und Ausland vom heroischen Aufstand und seiner blutigen Niederschlagung berichten soll. »Eröffnet« wurde sie zu Jahresbeginn von Finanzminister Wolfgang Schäuble in dem Gebäude, das zu DDR-Zeiten »Haus der Ministerien« hieß und heute sinnigerweise nach dem Treuhandchef Wolfgang Rohwedder benannt ist. Zahllose Gedenkveranstaltungen und Geschichtskonferenzen sind geplant, darunter der dreitägige »17. bundesweite Kongreß der Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen und zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« zum Thema »Der 17. Juni 1953. Aufstand im Kalten Krieg«. Ein enormes Arbeitspensum werden auch die Opfer-»Zeitzeugen« zu bewältigen haben, deren Einsatz von einem von Hubertus Knabe, Rainer Eppelmann und anderen getragenen »Koordinierenden Zeitzeugenbüro« geleitet und von der Bundesregierung in persona des Kulturstaatsministers Bernd Neumann finanziert wird. Studierende fordert die Stiftung auf, ein Denkmal zu entwerfen, »das dem Erinnern an die Opfer der kommunistischen Diktatur einen Ort gibt«.
Bereits jetzt werden bei so manchen Redeschreibern die Köpfe rauchen, um für die verschiedensten Anlässe die passenden Worte zu finden. Wie schon vor ähnlichen Großveranstaltungen bin ich auch dieses Mal selbstlos bereit, ihnen eine Hilfestellung zu gewähren, wiewohl das nicht allzu schwer ist, denn Reden zum fraglichen Thema, von denen abgeschrieben werden kann, gibt es zuhauf.
Da bietet sich an vorderster Stelle der erste Bundeskanzler der BRD, Konrad Adenauer, an, dessen Worte vom 17. Juni 1962 sich wunderbar als Einstieg eignen: »Neun Jahre ist es nun her, seit in Ost-Berlin und in der Sowjetzone der Aufstand ausbrach gegen die sowjetzonale Besatzung und gegen die deutschen Kommunisten, die ihre Mitmenschen unterdrückten und quälten ... Als die Gewalt von den sowjetischen Stellen auf die deutschen kommunistischen Stellen überging, brachte das keine Erleichterung für die Deutschen, im Gegenteil, der Druck wurde härter und härter.« Hieran anschließen könnte sich die fulminante Einschätzung des langjährigen SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer, die er sieben Jahre früher getroffen hatte: »Der 17. Juni 1953 ist im Bewußtsein der freien Welt ein geschichtliches Datum geworden. Er gilt als Symbol des spontanen Aufstandes unterdrückter Menschen gegen das System des Unrechts und der Willkür hinter dem Eisernen Vorhang. Der Aufstand der Arbeiter in Ost-Berlin und in der Sowjetzone am 17. Juni 1953 (hat) dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit des neuen demokratischen und freiheitlichen Deutschlands einen unschätzbaren Dienst erwiesen.«
Ein exzellenter Wortspender ist zweifellos auch unser Staatsoberhaupt Joachim Gauck, der vor einem Jahr meinte: »An über 700 Orten des Landes standen unterdrückte Menschen auf, gegen die Willkür einer kommunistischen Diktatur. Wir denken heute einmal in dieser Stunde ... an die Menschen, die damals noch nicht frei sein konnten, obwohl sie miteinander riefen: ›Wir wollen freie Menschen sein‹.« Dieser Ruf gehörte zwar damals nicht zum Repertoire der Demonstranten, aber er klingt gut und würde sich wunderbar in das Manuskript einfügen.
Auch in anderer Hinsicht ist es ratsam, sich möglichst eng an frühere Gedenkredner anzulehnen. So sollte darauf verzichtet werden, auf die Kette der Ursachen der dramatischen Ereignisse im Juni 1953 einzugehen, zu der der übereilte Beschluß der 2. SED-Parteikonferenz zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus, die krisenhafte ökonomische Lage des Landes aufgrund der katastrophalen Ausgangsbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg, der einseitigen Orientierung auf die Entwicklung der Schwerindustrie und der enormen Reparationsleistungen an die Sowjetunion, die Erhöhung der Arbeitsnormen und Lohnsenkungen sowie der verspätete Versuch einer Kurskorrektur gehörten. Geht der Redenschreiber darauf näher ein, so läuft er Gefahr, daß die ökonomischen Gründe für den »Volksaufstand« überbetont und die These vom »Freiheitsaufstand« ungewollt in Zweifel gezogen wird.
Verzichtet werden sollte selbstverständlich auf eine Erwähnung der Einmischung seitens der Bundesrepublik und Westberlins, der Einschleusung von Provokateuren und gewalttätigen Rowdys. Wen interessiert es denn heute noch, daß der Rias, der Rundfunksender im amerikanischen Sektor, nach den Worten seines damaligen Chefredakteurs, Egon Bahr, »zum Katalysator des Aufstandes geworden (war)«? Oder ist es etwa wissenswert, daß der Sender, wie Bahr später ebenfalls mitteilte, die Forderungen der Streikenden »in ein vernünftiges Deutsch« brachte und diese pausenlos sendete, einschließlich des Aufrufes zu einer Großdemonstration. Nicht erwähnenswert ist auch die Tatsache, daß an den »Massenstreiks« lediglich sechs Prozent der Industriearbeiter teilnahmen.
Zwingend erforderlich ist es dagegen, den massiven Gewalteinsatz seitens sowjetischer Panzer und den Tod von 29 Menschen aus Ost- und Westberlin in Erinnerung zu rufen. Dabei sollte allerdings ausgespart bleiben, daß der Ausnahmezustand und das Kriegsrecht vom sowjetischen »Hohen Kommissar« Wladimir Semjonow verhängt wurden, der Walter Ulbricht darüber erst danach in Berlin-Karlshorst anstandshalber unterrichtete. Das ist allein schon deshalb notwendig, da bei dem Gedenken an den 17. Juni die SED und ihr damaliger Generalsekretär die Inkarnation des Bösen bleiben müssen. Und Ulbricht war eben ein schlimmer Bösewicht.
Ein Kronzeuge dafür ist der Bundespräsident, der allerdings auch Rätsel aufgibt. Als Günter Gaus, der ehemalige Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, 1991 in seiner legendären »Porträt«-Serie den damaligen Chef der MfS-Unterlagenbehörde Joachim Gauck interviewte, erklärte dieser, die DDR sei ein Land gewesen, »das nicht nur der Widerpart zu einem wütenden McCarthy, sondern ... die Heimstatt eines viel wütenderen Tyrannen [war], der hier die Maske eines Ulbrichts hatte, aber in Wirklichkeit ein wütender Stalin war, der möglicherweise mehr Menschenopfer zu verantworten hatte, als es Hitler getan hat.« Lassen wir einmal den Schwachsinn mit Hitler beiseite, aber wer war Ulbricht nach Gaucks Meinung? Die Maske des wütenden Stalin? Ein wütender Tyrann mit der Maske Ulbrichts? Der maskierte Stalin selbst – oder wer sonst? Eine Lösung könnte eventuell mit einem Preisausschreiben gefunden werden, das im Zusammenhang mit der 2.500fachen Ausstellung »Wir wollen freie Menschen sein« durchgeführt und dessen Sieger vom Rätselgeber Gauck persönlich ausgezeichnet wird. Denn keiner weiß es besser als er: Wer das Gute will, muß die Freiheit haben, das Böse anzuklagen. Der 60. Jahrestag des »Volksaufstandes« ist dafür ein wunderbarer Anlaß.