Ein Spaziergang an einem heißen Apriltag führte mir die Vielfalt der kritischen Debatten im heutigen Kuba vor Augen. Auf dem Weg vom modernen Stadtteil Vedado zur Altstadt genieße ich die frische Meeresluft an der Uferstraße Malecon. Bei der Hafeneinfahrt biege ich rechts in den »Paseo de Martí« ab, meist kurz »Prado« genannt, denn unter dem Namen »Paseo del Prado« war der Boulevard im Jahr 1772 als Flaniermeile zwischen dem Meer und dem damaligen Stadtzentrum angelegt worden. Unter den schattenspendenden Bäumen des Prado genießen die Menschen die vom Meer kommende Brise. Auf steinernen Bänken ruhen sich ältere in Unterhaltungen vertiefte Paare aus, spielende Kinder vergnügen sich mit ihren Tretrollern, Rollschuhen oder Bällen, Familien spazieren gemächlich auf und ab, einige erfrischen sich mit Eis am Stiel. Mir fällt auf, daß alle sich für den Samstagsspaziergang so fein gemacht haben, wie es die jeweiligen Möglichkeiten erlauben. Die Habaneros lieben die Eleganz, die für sie ebenso selbstverständlich ist wie die Freude an Diskussionen und Kritik. Eine Beobachtung, die nicht in das vom Westen gepflegte Klischee paßt, das Kuba als dogmatische, in sich geschlossene Gesellschaft sieht, in der für kritische Debatten kein Raum ist.
Wer sich sein Urteil selbst bildet, gewinnt hier am Prado einen anderen Eindruck. Junge Künstler verteilen Handzettel, mit denen sie zum Besuch ihrer »interaktiven Kommunikationswerkstatt« einladen, die jeden Sonntag ab zwölf Uhr kostenlos stattfindet. Neben Einführungskursen in Malerei, Fotografie, Musik, Tanz und Theater werden vor allem Vorträge und Diskussionen über aktuelle gesellschaftliche Probleme angeboten. Vor einigen Wochen habe ich hier einer lebhaften Debatte über moderne Jugendkulturen und deren Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Gesellschaft beigewohnt, in der unterschiedlichste Positionen aufeinanderprallten.
Vom Meer kommend endet der Prado am »Parque Central«, in dessen Mitte ein Denkmal des Nationalhelden José Martí steht, dessen Besudelung durch betrunkene US-Soldaten im vorrevolutionären Havanna Massendemonstrationen provoziert hatte. Der Park – seit jeher ein Zentrum des kulturellen Lebens und lebendiger Debatten – wird eingerahmt von historischen Gebäuden wie dem beeindruckenden »Gran Teatro de La Habana«. Das benachbarte, 1875 erbaute Hotel Inglaterra beherbergte bereits José Martí, aber auch die Zentrale einer Gruppe von Intellektuellen um die Schriftsteller Ernest Hemingway und Graham Greene, die während des Zweiten Weltkriegs von Havanna aus die Aktivitäten der Naziflotte in den Gewässern der Region ausgekundschaftet hatten.
Im ganzen Land bekannt ist die »Esquina Caliente« (Heiße Ecke) des Parque Central. Unter schattenspendenden Bäumen kochen hier für alle sichtbar die Emotionen lebhaft diskutierender Menschen hoch. Die Debatten werden temperamentvoll, kontrovers und lautstark geführt. Beim Anblick der heftig gestikulierenden Streithähne zücken westliche Touristen oft in der hoffnungsvollen Erwartung ihre Kameras, Zeugen einer Manifestation gegen das kubanische System zu werden. Doch an der »Esquina Caliente« erhitzen nicht Umsturzpläne gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell die Gemüter, sondern die Kommentierung der jüngsten Baseballspiele.
Nach kurzem Weg erreiche ich die »Plaza de Armas«, ein weiterer zentraler Platz in der Altstadt, auf dem Dutzende privater Händler antiquarische Bücher zum Kauf anbieten und das Kubanische Buchinstitut (ICL) samstags Autoren zu Lesungen unter freiem Himmel einlädt. Die heutige Debatte bestätigt mir, daß Literaturbesessenheit und Diskussionsfreude vieler Kubaner sich nicht auf die Wochen der Buchmesse beschränken.
Ermüdet vom Laufen und der Sonne entspanne ich mich auf der Terrasse des Café Escorial an der wunderbar restaurierten »Plaza Vieja« bei einer Tasse frischgeröstetem Kaffee von einer Finca im Escambray-Gebirge – einem der besten Kaffee-Anbaugebiete der Welt – und widme mich der Lektüre der Granma vom Vortag. Freitags ist das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Kubas schnell vergriffen, denn die Zeitung veröffentlicht seit einigen Jahren in dieser Ausgabe eine Doppelseite, auf der Leser ungeschminkt harsche Kritik an allem üben, was ihnen mißfällt. Das Spektrum reicht von Beschwerden über Vorgesetzte, Beamte und Funktionäre, Anklagen gegen ungerechte Entscheidungen von Behörden, Kritik an Servicemängeln bis hin zur Aufdeckung von Betrugsversuchen. Da den Kritisierten die Möglichkeit zur Erwiderung in einer der nächsten Ausgaben eingeräumt wird, ist die Granma-Freitagsausgabe für viele Leser zu einer regelmäßig mit Spannung erwarteten Lektüre geworden.
Sie ist ein Beispiel für das Bemühen, in der Berichterstattung von Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen den kritischen und selbstkritischen Stil einzuführen, der im kubanischen Film, im Theater und in der Literatur bereits seit Jahren Eingang gefunden hat. In Blogs, die mittlerweile von Hunderten Journalisten, Schriftstellern und Künstlern publiziert werden, findet sich eine große Bandbreite unterschiedlicher Positionen, die eine spannende Debattenzukunft versprechen, sofern es Kuba gelingt, die Internetzugänge weiter zu verbessern. Denn während die Blogs der systemfeindlichen »Dissidenten« mit finanzieller und technischer Hilfe ausländischer Botschaften über leistungsfähige Server in Drittländern verbreitet werden, leiden die kubanischen Blogger unter den durch die US-Blockade verursachten Behinderungen. Die Blockade erlaubte Kuba den Internetzugang bisher nur über langsame und teure Satellitenverbindungen. Ein Unterseekabel zwischen Kuba und Venezuela hat die Situation zwar etwas verbessert, doch sind Geschwindigkeit, Kosten und Zugang noch weit vom internationalen Standard entfernt.
Neben den Amateurbloggern führen Medienprofis im renommierten Film-institut ICAIC, dem Schriftstellerverband UNEAC, der Journalistenvereinigung UPEC und anderen Verbänden bereits seit Jahren leidenschaftliche Auseinandersetzungen über die von ihnen als notwendig erachtete Veränderung der kubanischen Medien. Während Funktionäre der mittleren Ebene gelegentlich versuchen, den Prozeß auszubremsen, hat sich Präsident Raúl Castro zu dessen vehementestem Förderer entwickelt und die kubanische Presse auf dem letzten Parteitag als »selbstgefällig und langweilig« kritisiert. Mit der Bemerkung: »Wir sollten uns nicht vor unterschiedlichen Meinungen fürchten, sondern vor falscher Einmütigkeit, die auf Nachahmung und Opportunismus beruht«, forderte er die Journalisten zu einer lebendigeren und differenzierten Berichterstattung auf.
Auf meinem Rückweg besuche ich in der Altstadt die Buchhandlung des Kubanischen Buchinstituts, die in der »Calle Obispo« auf zwei Etagen ein umfangreiches Sortiment nationaler und internationaler Literatur anbietet. Dort entdecke ich die kubanische Ausgabe des Ökothrillers »Das Tahiti-Projekt« des Hamburger Journalisten und Schriftstellers Dirk C. Fleck, dem Jean Ziegler den »Atem des Widerstands gegen blindwütiges Profitstreben« bescheinigt hat. Für zwölf Pesos (ungefähr 30 Eurocent) nehme ich die in Havanna im letzten Jahr verlegte spanische Übersetzung mit und freue mich auf die Lektüre.