Das seltsame »Wir« der SPD
Erleichtert gaben der Kanzlerkandidat und die Generalsekretärin der SPD bekannt, das Motto der Partei für den Auftritt zur Bundestagswahl sei gefunden und laute: »Das Wir entscheidet«. Die Zufriedenheit im Willy-Brandt-Haus hielt nur für kurze Zeit an, dann stellte sich heraus: Der Werbesatz ist ohne Absprache »entliehen« und zwar von der seit 1993 tätigen Firma »Propartner – Zeitarbeit + Handelsagentur«, mit Hauptsitz in Weil am Rhein, die ihn kombiniert mit ihrem Logo einsetzt. Offenbar weiß man in der SPD-Zentrale nicht, daß mit einer kleinen Internetrecherche geprüft werden kann, ob solch ein Spruch bereits anderweitig in Gebrauch ist.
Die Website des Leiharbeiterunternehmens »Propartner« enthält einen weiteren Slogan, mit dem für das Angebot der Firma Reklame gemacht wird: »Die flexible Personallösung«. Könnte auch der für die SPD interessant sein? Den Spitzenkandidaten auswechseln, wenn dieser nicht hinreichend Umfragewerte erarbeitet? Es ist ja nicht damit zu rechnen, daß die personelle Flexibilität nach der Wahl beim Kanzlern stattfindet und Angela Merkel gegen Peer Steinbrück ausgetauscht wird.
»Das Wir entscheidet« – was kann diese Aussage der SPD »unternehmensphilosophisch« (um die Ausdrucksweise von »Propartner« aufzugreifen) bedeuten? Verwandeln sich die Individuen, die Mitglieder und Anhänger der Partei in ein Kollektiv, autokratisch geführt? An dieser Vorstellung hätte Ferdinand Lassalle Freude gehabt, den die SPD derzeit als ihren Gründer in Anspruch nimmt. Oder ist ein anderes Kollektiv gemeint, die gesamte wahlbürgerliche Belegschaft der Bundesrepublik? Daß diese per Stimmzettel, durch dessen Verwendung oder Nichtgebrauch, über die Chancen der SPD zum Mitregieren entscheidet, ist allgemein bekannt, müßte also nicht herausgestellt werden. Aber das »Wir« in dem Slogan – wen mögen die SPD-Werber da meinen? Es wird doch nicht in ihrem Hinterkopfe die »Volksgemeinschaft« herumspuken, an die man appellieren solle? Die gibt es nicht, bei näherem Hinsehen. LeiharbeiterInnen beispielsweise könnten sich womöglich erinnern, daß es nicht ein volkskollektives »Wir« war, das den Arbeitsmarkt hierzulande »flexibilisierte«, sondern eine unternehmerischen Interessen folgende Regierung. Die von der SPD geführt wurde. Akteure dieser Politik waren Gerhard Schröder (danach in die Konzernwirtschaft gewechselt), Frank-Walter Steinmeier, Wolfgang Clement (der ist seiner Partei inzwischen abhanden gekommen) und Peer Steinbrück. Flexibles Spitzenpersonal, das die Entscheidungen traf; dem sozialdemokratischen »Wir« sind sie nicht gut bekommen, es hat sich seitdem drastisch verkleinert.
A. K.
Abschied von Richard Christ
(30.12.1931–15.03.2013) Bis 1951 Chemiearbeiter, danach Studium der Germanistik und Ästhetik, bis 1970 Verlagslektor, seit 1970 freischaffender Journalist (zahlreiche Feuilletons und Reportagen für die
Weltbühne). 1974 Heinrich-Heine-Preis, 1988 Goethe-Preis. Kinderbücher. Reisebücher mit internationaler Thematik. Christ lebte in Berlin, zwischendurch auch in Wien. Anno 1996 notierte er: »Ich erlebe zwei Typen von wiederkehrenden Alpträumen, beide verfolgen mich seit Schulabgang. Der eine schickt mich unvorbereitet in die Reifeprüfung, dieser Traum ist mir gleichgültig ... Der andere beschäftigt mich jedesmal von neuem: Ich habe mein Land verloren und kann nicht zurück. Beim Erwachen empfinde ich als erstes Erleichterung, noch daheim zu sein. Sofort melden sich dann Gründe, die zum Weggehen raten. Mein bewußtes Leben verlangt Seßhaftigkeit, im Unbewußten bin ich entschiedener Grenzgänger ...«
Richard Christ, Mitglied des P.E.N.-Clubs, ein kluger und nachdenklicher Autor, gab einem seiner zahlreichen Bücher den typischen Titel »Der Tag, die Nacht und ich dazwischen« (2001).
Lothar Kusche
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Richard Christ wird nie mehr mit wehenden Mantelschößen an unserem Garten vorbeieilen, freundlich winkend. Meist ging er zu einer Lesung, zum Buchbasar oder zu einer Zusammenkunft des Schriftstellerverbandes.
In der DDR war er in fast jedem Literaturkalender vertreten. Erst vor wenigen Tagen blätterte ich wieder in »Mein Indien«, einer brillanten Reisebeschreibung mit 32 Farblithographien von Karl-Erich Müller, der auch ein treffendes Porträt von ihm malte.
Die Sandelholzkette, die Richard mir mitbrachte, ist mir nun besonders wertvoll. Er reiste gern und gab seine Eindrücke an uns weiter. So entstanden auch zwei Bändchen im Schuber – ebenfalls mit Zeichnungen von Karl-Erich Müller: »Blick auf Pakistan. Tagebuch und Skizzenblock«. Ebenso haben die Bände »Um die halbe Erde in hundert Tagen«, »Die Zimtinsel« und viele andere einen breiten Leserkreis gefunden und werden ihn weiterhin finden, so hoffe ich. Unvergessen sind unsere gemeinsamen Atelierbesuche bei Karl-Erich Müller und Winfried Wolk.
Als Autor der damaligen
Weltbühne überzeugte er die Leser mit seinem ausgefeilten Stil. Richards verschmitzte Art, immer zu Scherzen aufgelegt, wird seinen Freunden genauso in Erinnerung bleiben wie seine Bücher.
Maria Michel
Verordnetes Gedenken
Trauern um verstorbene Verwandte, Freunde, Kollegen oder Bekannte gehört zum Wesen von Humanität. Es zeichnet Menschen aus, um den Verlust anderer zu weinen und der Toten zu gedenken. Durchaus edel darf solches Gefühl von Menschlichkeit genannt werden. Wird indessen in Gruppen, Stämmen, Verbänden oder auch in Staaten getrauert, kommen unweigerlich soziale, politische, kulturelle oder auch wirtschaftliche Interessen ins Spiel. Individuelles Erleben zeigt sich in gesellschaftliche Dimensionen erhoben und wird dabei vermeintlich Größerem zu- oder mehr noch untergeordnet. Oftmals offenbart sich dann, wie die Mitscherlichs 1967 mit dem Blick auf den Umgang mit faschistisch geprägter Geschichte beklagten, die Unfähigkeit zu trauern.
Kein Wunder also, wenn manches im öffentlichen Raum praktizierte Gedenken zweckgebunden, ja auch verlogen genannt zu werden verdient. Vor allem dann, wenn es um die in Kriegen Getöteten geht. Kurt Tucholsky sprach von den lügenden Tafeln, die eigentlich ein ehrendes Gedenkzeichen für die Toten sein sollten. Gelogen werde mit der Angabe: gestorben
für das Vaterland. Es müsse heißen, so las man in der
Weltbühne vom 21. April 1925: »Getötet durch diesen niedrigen Begriff ›Staat‹, getötet durch diesen Wahnsinn, der die Heimat, die jeder liebt, mit einem Nützlichkeitsbegriff verwechselt, der den meisten nicht einmal von Vorteil ist, sondern nur den wenigen.«
Dies thematisiert und analysiert Kurt Pätzold. Und wie gewohnt, nimmt er sich eines problembeladenen Themas an, darf der Leser sich geistig außerordentlich angeregt und gedanklich bereichert fühlen. Seine neueste Publikation verdient durchaus, eine die Gegenwart unmittelbar berührende Streitschrift genannt zu werden. Er beschreibt nicht allein geschichtliche Werdegänge und Hintergründe des in Denkmale gegossenen verordneten Gedenkens, er untersucht den in ihnen erkennbaren Zeitgeist, der stets der Herren eigener Geist gewesen ist. In 16 Kapiteln – jedes ist für sich im Grunde ein eigenständiger Essay – befaßt er sich so ziemlich mit allen Aspekten der in deutschen Städten und Dörfern zu findenden Kriegerdenkmale, häufig orientiert an entsprechenden Redewendungen wie »Ich habe gern fromme Diener«, »Auf dem Bette der Ehre«, »Unsere Heldensöhne« oder auch »Unsere gerechte Sache wird siegen«. Mit jedem Detail aus dem umfänglichen Bild- und Wortmaterial wird erhellt, wie es zur Verklärung von Kriegen benutzt worden ist und immer noch mißbraucht wird. Kriegerdenkmale sind Pätzold nicht nur Orte des Gedenkens, sondern auch »Instrument von Geschichtspropaganda und zur Ausrichtung auf die Politik und künftige Pläne der Herrschenden.« (S. 29) Das »übliche Vokabular« wird regelrecht seziert, als demagogisch und mordspatriotisch gekennzeichnet. Ebenso finden jene wenigen Denkmale, die aus anderem Sinne errichtet wurden, eine Nachdenklichkeit be- und erzeugende Hervorhebung.
Dem »unverwüstlichen« Soldaten, dienend als Werkzeug der Vernichtung, widmete Bertolt Brecht seine Kurzgeschichte vom »Statuenmensch«. Diesem wurde es als Folge einer Verschüttung vor Verdun möglich, vollkommen unbeweglich zu verharren und so um milde Gaben zu betteln. Angesichts dieses besonderen Denkmals – Brecht sah es in der südfranzösischen Stadt La Ciotat – fragte sich der Autor, ob solche Krankheit der Unempfindlichkeit, diese »furchtbare, ungeheuerliche, so überaus ansteckende Krankheit«, nicht doch heilbar sein sollte. Ich las Pätzolds Buch als empfehlenswerten Beitrag zu weiterem Nachdenken über und zu entschiedenem Nein gegen alles, was lügenden Tafeln zu entnehmen war und bleibt.
Manfred Weißbecker
Kurt Pätzold: »Kriegerdenkmale in Deutschland. Eine kritische Untersuchung«, Spotless, 125 Seiten, 9,95 €
Ein Besessener
Ohne Sauerstoffschlauch geht nichts mehr. Das fiel uns während eines Besuchs beim Bildhauer, Zeichner, Maler und Medailleur Gerhard Rommel in Kraatz bei Gransee auf. Plastisches Gestalten ist für ihn aber das eigentliche Lebenselixier. Stolz präsentiert Rommel uns seine wunderbaren, zwischen zehn und siebzehn Zentimeter großen Plaketten mit Darstellungen bedeutender Künstler von der Renaissance bis zur Gegenwart. Es sind bis jetzt mehr als 200. Sie zeigen neben dem Porträt das Geburts- und bei den Verstorbenen das Todesjahr an. Die Rückseiten sind frei; dafür reicht seine Kraft nicht mehr. Gegenwärtig arbeitet er an Plaketten, die Heidrun Hegewald, Willi Sitte und Wolfgang Mattheuer gewidmet sind. Als Nächster steht Ronald Paris auf seinem Plan.
Ich bin begeistert von der Präzision der Arbeiten. Die Plaketten liegen gut in der Hand, sie wollen geschmeichelt werden, damit sie glänzen. Mit bewundernswerter Disziplin arbeitet Gerhard Rommel an den negativen Gipsformen, die später mit Schellack überzogen werden. Das Bodemuseum Berlin wird seine Sammlung übernehmen.
Für den besonders Interessierten gibt es ein Buch »Gerhard Rommel – Deutscher Medailleur, Bildhauer, Maler«. Ulrich Jörke schreibt im Geleitwort: »Die Wende war für Gerhard Rommel eine Zeit zum Augenöffnen und zum Staunen darüber, daß so viel mißbraucht, betrogen und vieles verbrochen wurde. Aber auch diese Erkenntnis erschüttert seine humanistische Grundeinstellung und seine Schaffenskraft nicht.« Der Bildhauer Jo Jastram würdigt in diesem Buch Rommels Arbeiten als »poetische Kunstleistung mit großer Aussage. [...] Nicht die Masse ist es, die den Wert macht, sondern die Qualität des einzelnen Stückes.« Bekannt ist Gerhard Rommel beispielsweise durch seine »Anne-Frank-Säule« in Tessin bei Rostock, durch seinen »Soldaten mit Kind« in Pankow und die meisterhaften Tierplastiken im Tierpark Friedrichsfelde. Seine Ehrung für die Schulze-Boysen-Gruppe wurde erst kürzlich im Wohnpark Gosen wieder aufgestellt. Die »Afrikanische Bergziege« im Prenzlauer Berg haben die Kinder in ihr Herz geschlossen. Erst aus der Presse erfuhr Rommel, daß seine »Schaukelnden Knaben« aus dem Bürgerpark Pankow verschwunden sind; man hielt es nicht für nötig, ihn zu informieren.
Im Sommer gestaltet Gerhard Rommel in seinem Freiluftatelier Plastiken aus Holz. Das Winterhalbjahr gehört seiner besessenen Arbeit an den Plaketten. Am Ende sollen es bis zu seinem 80. Geburtstag im kommenden Jahr 300 sein.
Maria Michel
Der brave Sohn
Als er »rüber« ging, hatte er es »Mamama« in Bayern versprochen, immer zu schreiben, und er war ein braver Sohn, wenn auch kein sehr lieber Bruder. Sonntags, fast jede Woche, schrieb er an Elly Hacks.
Nun liegt das Konvolut Hacks’scher Familienpost vor. Für Voyeure, Hacks-Fans und Leser, die Spaß haben an geschliffenen Äußerungen und Verwandlungen komplizierter Zusammenhänge in Erklärungen, die eine einfache Frau versteht. Mir wurde sogar das Osterwetter erträglicher durch die Lektüre! Es ist erstaunlich, wie Peter Hacks so manches an für ihn Ärgerlichem »wegsteckte«, um gegenüber der Mama ja nicht zu jammern. Aber ebenso gefreut hat es mich, daß eifernde Hacks-Freunde, die nach der Wende in dem Schriftsteller ihren DDR-Verteidiger gefunden zu haben glauben, sehr enttäuscht sein werden. Seine Haltung zu Dienstboten und West-Artikeln entsprach so gar nicht den Vorstellungen von einem sozialistischen Helden.
Ein großes Kompliment dem Herausgeber Gunther Nickel, der mit seinen Kommentaren, den dabei eingefügten Rezensionen und Recherchen das Buch so »ganz nebenbei« zu einem Kompendium für DDR-Kulturgeschichte gemacht hat.
Christel Berger
»Peter Hacks schreibt an ›Mamama‹. Der Familienbriefwechsel 1945–1999«, hg. von Gunther Nickel, Eulenspiegel Verlag, 990 Seiten, 49,99 €