Mai 1945: Diesmal konnte sie nicht geleugnet oder verdeckt werden – die totale militärische Niederlage des Deutschen Reiches. Anders als 1918 und danach war für den ermunternden Spruch an die heimkehrenden Truppen – »im Felde« seien sie »unbesiegt« (Friedrich Ebert 1918) – am Ende des Zweiten Weltkrieges kein Platz mehr. Die Siegermächte besetzten Deutschland, allein bei ihnen lag zunächst die politische Macht. Aber die Kapitulation enthielt verdeckte oder offene Vorbehalte, vor allem das Kalkül, möglichst rasch als neuer Bündnispartner der Westalliierten den »antibolschewistischen Kampf« wieder aufnehmen zu können und an dieser Front dann doch zu den Siegern zu gehören.
In einer Radiorede am 2. Mai 1945 stellte Graf Schwerin von Krosigk, zu diesem Zeitpunkt leitender Minister und Außenminister im Kabinett des von Hitler zu seinem Nachfolger eingesetzten »Reichspräsidenten« Großadmiral Dönitz, diese Perspektive heraus: Das Deutsche Reich habe »jahrelang unter Aufbietung seiner letzten Kraft als Bollwerk Europas und der Welt gegen die rote Flut« sich hervorgetan, leider jedoch dabei »den Rücken nicht freigehabt«. Das sollte nun korrigiert, der Feldzug gen Osten in neuer Koalition fortgesetzt werden – auch dies ein deutscher Weg nach Westen, ideologisch vorbereitet von solchen sich anspruchsvoll gebenden NS-Medien wie der Wochenzeitung Das Reich (mit einer Auflage von über einer Million 1944), an der zahlreiche Publizisten und Wissenschaftler mitarbeiteten, die in Westdeutschland nach 1945 Spitzenpositionen besetzten.
Der 8. Mai 1945 ein »Tag der Befreiung«? Für wen? Befreit wurden die Überlebenden in den Konzentrationslagern, auch die deutschen, die Kriegsgefangenen in deutscher Hand, die Zwangsarbeiter aus anderen Völkern. Aber weshalb sollten sich die Massen von großen und kleinen Funktionsträgern Hitlerdeutschlands, die Manager der Wehrwirtschaft, die Profi-Militärs, die vielen NS-Propagandisten befreit fühlen? Sie mußten sich umstellen auf neue politische Verhältnisse, auf alliierte Kontrolleure, da waren Anpassungsleistungen gefragt, aber nicht ein Auswechseln der weltanschaulichen Grundmuster.
Frühzeitig erkannten die deutschen gesellschaftlichen Eliten, daß nur eine Option für »den Westen« ihren gestaltenden Einfluß auf die deutsche Zukunft sichern würde. Und auch: Daß ein solcher »Wiederaufbau« erst einmal nicht anders als teildeutsch machbar war: »Lieber ein halbes Deutschland ganz als ein ganzes halb« kalkulierte Konrad Adenauer.
Das ideologische Kernstück dieser politischen Konversion war es, den »Schild der deutschen Wehrmacht« als rein erscheinen zu lassen; ohne westdeutsche Remilitarisierung konnte das Projekt nicht realisiert werden.
Und so verkündete denn, um nur ein typisches Beispiel zu nehmen, der einflußreiche Erziehungswissenschaftler Professor Erich Weniger bei seiner Rede an die Studierenden der neu gegründeten Pädagogischen Hochschule Göttingen im Jahre 1946: »Die meisten von Ihnen waren Soldaten, die Frauen Helferinnen der Wehrmacht. Fürchten Sie nicht, daß Ihre Ehre, die auf Ihrer Pflichterfüllung beruhte, nun nicht anerkannt oder gar verächtlich gemacht werden sollte. Wenn Sie nicht nach dem Maß Ihrer Einsicht und Ihrer Verantwortung Ihre Pflicht als Soldat getan hätten, so könnten wir Sie nicht brauchen, weil wir nicht sicher wären, daß Sie jetzt Ihre Pflicht als Volkserzieher ernst nehmen könnten.«
Umerziehung? Oder umstaffierte ideologische Kontinuität? Erich Weniger war Autor einer in NS-Zeiten vielbenutzten volkserzieherischen Schrift, 1938 erschienen; der Titel: »Wehrmachtserziehung und Kriegserfahrung«.