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Titel915

KöHo  (Eckart Spoo)

Eines Tages im Frühjahr 1945 hielt in Wasungen an der Werra vor der von meiner Mutter übernommenen Zahnarztpraxis – der Vorgänger war wohl im Krieg ums Leben gekommen – eine feine, blank geputzte Kutsche mit zwei Pferden davor. Ihr entstieg ein elegant gekleideter Herr, der im staubigen Durcheinander von Militärtransporten und Flüchtlingstrecks so ungewöhnlich wirkte wie sein Gefährt. Er stellte sich als Oberhofmeister der Großherzogin vor, die vor den nahenden Russen mit Familie und dem gesamten Hofstaat von ihren schlesischen Gütern ins Jagdschloß Zillbach geflüchtet sei, wenige Kilometer von Wasungen entfernt. Jetzt bedürfe sie einer zahnärztlichen Untersuchung. In ihrem Auftrag frage er an, ob Frau Dr. Spoo bereit sei, sie als Patientin anzunehmen.


Mutter war sofort bereit. Nachdem ein Termin gleich für den nächsten Tag vereinbart war, merkte der Oberhofmeister noch an, daß die Großherzogin auch und gerade in diesen aufgewühlten Zeiten auf korrekte Anrede Wert lege. Wegen Ihrer Verwandtschaftsverhältnisse habe sie Anspruch auf die Anrede »Königliche Hoheit«, aber auch die Kurzform »KöHo« sei erlaubt.


KöHo kam vierspännig. Später kamen auch zwei Söhne, beide hoch zu Roß. Der Oberhofmeister nannte sie »die Prinzen«; er instruierte Mutter, man dürfe sie schlicht als »Hoheiten« anreden. Es folgten noch mehrere Patienten aus Zillbach, unter ihnen der Hofmaler Professor Petersen, der sich mit dem bedauernden Hinweis einführte, daß er zur Zeit nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfüge. Er einigte sich mit Mutter auf ein Tauschgeschäft: Sie werde seine Zähne reparieren und als Gegenleistung einen echten Petersen erhalten: ein Brustbild ihres Mannes, meines 1942 »für Führer, Volk und Vaterland gefallenen« Vaters in der Uniform eines Majors der Großdeutschen Wehrmacht. Als Vorlage für das Ölgemälde sollte ein kleines Schwarz-Weiß-Foto dienen.


Würde es ihm gelingen, Vater genau so aufleben zu lassen, wie Mutter ihn im Gedächtnis hatte und behalten wollte? Zur Sicherheit wurde vereinbart, daß wir den Künstler in Zillbach besuchen dürften, wo er in einem Nebengebäude des Schlosses sein Atelier eingerichtet hatte.


Gern erinnere ich mich noch nach Jahrzehnten an die lange sonntägliche Fußwanderung flußabwärts an der Werra entlang bis Schwallungen und dann durch ein sanftes grünes Seitental nach Westen. Erst gegen Abend kehrten wir zurück. Unterwegs zeigte Mutter mir Pflanzen. Sie konnte jede nach ihren Blüten und Blättern einordnen, und sie kannte nicht nur die deutschen, sondern auch die lateinischen Namen, die ich mir vermutlich nie werde merken können.


Im Sommer wurde die Großherzogin festgenommen und in das kleine Gefängnis am Wasunger Amtsgericht eingeliefert. Wegen ihres Verhaltens in der Nazi-Zeit? Oder wegen unerlaubter Nachkriegsaktivitäten? Der Oberhofmeister war empört, vor allem darüber, daß KöHo keinen Besuch empfangen dürfe. Aber Mutter könne helfen, denn KöHo klage über Zahnschmerzen. Mutter verstand, daß sie gebraucht wurde, um der Gefangenen zu verbotenem Informationsaustausch zu verhelfen. Sie verhalf.


Nach ein paar Tagen war KöHo frei. An einem der nächsten Abende besuchte sie uns in unserer kleinen Zweizimmerwohnung. Sie deutete an, daß sie schnellstens nach Westdeutschland übersiedeln werde. In Detmold, der Residenzstadt des Fürstentums Lippe, habe ihre Familie eine Bleibe. Für ihr Hab und Gut habe sie Transportmittel und -wege gefunden. Nur einen einzigen kleinen Gegenstand wolle sie niemandem anderen anvertrauen als meiner Mutter, die doch sicher ebenfalls bald in die westdeutsche Heimat zurückkehren wolle. KöHo sagte nicht, was für ein Gegenstand sich in dem Päckchen befand, das sie Mutter übergab. Mutter fragte nicht.


Mein Bruder Armin, acht Jahre älter als ich, der im Nachbarort Walldorf bei einem Bauern arbeitete und wohnte, brachte uns Kartoffeln und Gemüse. Ich erzählte ihm von KöHos schmeichelhaftem Auftrag, den er gar nicht schmeichelhaft fand: Mutter müsse doch wenigstens wissen, worauf sie sich einlasse. Er entfernte die Verpackung, öffnete das Kästchen, und darin glitzerte eine Brosche, die, wie Armin schätzte, »mindestens eine Million« wert war. Wenn die nun beim Umzug verloren geht? Was dann? Oder wenn sie geklaut wird? Oder wenn Besatzungssoldaten sie bei uns finden? Hat KöHo Botenlohn zugesichert? Zehn Prozent des Wertes? Oder welcher Betrag wäre angemessen?« Solche Fragen verunsicherten unsere Mutter nicht. Sie wußte, wie man sich gegenüber reichen Herrschaften zu verhalten hatte: nicht unterwürfig, aber respektvoll. Niemals hätte sie einer Königlichen Hoheit den erbetenen Dienst verweigert.


Einige Tage später war die Großherzogin samt Hofstaat verschwunden. Man ahnte: Bald würden »die Russen« kommen. Vor den in Thüringen wie in Sachsen zunächst einmarschierten US-Amerikanern hatte kaum jemand Angst gehabt; vor ihnen hatte uns Goebbels im Radio keine Angst gemacht. Es lief sogar die Parole um, die USA würden sich mit Deutschland gegen »die Russen« verbünden.


Die Aufstellung des »Volkssturms«, der letzten Reserve der Nazi-Wehrmacht, blieb mir als Groteske im Gedächtnis: 15 oder höchstens 20 alte Männer versammelten sich im Hof des Hauses, in dem wir wohnten, und erhielten den Auftrag, Tische und Stühle zusammenzutragen, um vor dem Haus eine Barrikade zu errichten und den feindlichen Vormarsch zu stoppen. Meinem Klavierlehrer hatte seine Frau einen Brotbeutel mit Kriegsverpflegung umgehängt. Er wirkte traurig. Sie versuchte vergeblich, ihn zuversichtlich zu stimmen. Plötzlich ein gewaltiger Knall von der Werra-Brücke her. Im Nu war kein »Volkssturm«-Mann mehr zu sehen. Ein SS-Trupp hatte die Brücke gesprengt. US-Pioniere brauchten dann nur wenige Minuten, um eine mitgebrachte Ersatz-Brücke zu installieren.


Mutter und Armin stellten sich den Amerikanern als Dolmetscher zur Verfügung. Hauptthema war die Bekämpfung von Maikäfern und mancherlei Insekten. Die Soldaten wurden auf viele Wasunger Familien verteilt, die für sie zu waschen hatten. Unserer hieß Johnny. Als er eines Tages ausblieb, war klar: Jetzt würden »die Russen« kommen. Schnell verbrannte Mutter Fotos, Briefe, Dokumente.


Die gefürchteten Sowjetsoldaten kamen – anders als erwartet – leise, diszipliniert. Als wichtigste Veränderung nahmen wir wahr, daß sie den Semischer Fritz verhafteten, den obersten Nazi-Führer des Ortes, und den Oberförster Pfaffe, der die Wasunger SA befehligt hatte. Gerüchtweise hörten wir, beide seien ins ehemalige KZ Buchenwald bei Weimar eingeliefert worden. Aus dem KZ kam der neue Bürgermeister, ein Kommunist, wie Mutter erfuhr. Er besuchte sie, um ihr den Gedanken nahezubringen, in Wasungen (Wösingen, wie die Wasunger sagen) zu bleiben, denn sonst gebe es weit und breit keinen Zahnarzt mehr. Er bot uns – wohlgemerkt im Jahre 1945 – einen Bauplatz im schönsten Teil der Stadt und eine schnelle Baugenehmigung an. Mutter dachte ernsthaft darüber nach und zeichnete Grundrisse, denn in der niederrheinischen Heimat, die wir wegen der permanenten Bombenangriffe verlassen hatten, erwartete uns wahrscheinlich ein großer Trümmerhaufen.
Ich war stolz auf Mutter. Aber es beunruhigte mich, daß sie sich auf Gespräche mit einem Kommunisten einließ. Einen noch größeren Schrecken hatte sie mir versetzt, als sie am Abend des stillen Einmarschs der Rotarmisten mit einem großen in Zeitungspapier eingeschlagenen Stück Fleisch aus der Praxis kam. Zwei junge Sowjetsoldaten, berichtete sie, hätten nach dem Ende der Sprechstunde geklingelt. Der eine wegen Schmerzen, der andere als Übersetzer; mit dem Fleisch hätten sie für die Behandlung gezahlt. »Aber Du«, fragte ich, »wirst doch nicht etwa den Russen behandelt haben, unseren Feind, gegen den Vater tapfer gekämpft und sein Leben gegeben hat?« Alle Propaganda-Sprüche, die mir einfielen, schüttete ich über sie. Als Achtjähriger war ich ein strammer Nazi.


Damals begann ein jahrelanges Zwiegespräch mit dem toten Vater: Würde er zur opportunistischen Mutter halten? Würde auch er die neuen Verhältnisse leichthin akzeptieren? Würde er seine Vergangenheit ebenso verleugnen, wie es die meisten alten Nazis jetzt taten? Würde er durch Heuchelei seine gesellschaftliche Stellung zu retten versuchen? Mußte ich mich seiner schämen? Ich dachte mir hunderte Entschuldigungen für ihn aus. Keine verfing. Zu schwer wogen, wie ich nach und nach erfuhr, die Nazi-Verbrechen, an denen er mitgewirkt hatte. Niemandem konnte ich trauen, ihm schon gar nicht. Das schonungslose Gespräch hatte zum Ergebnis, daß er nach und nach aufhörte, für mich eine Autorität zu sein. Er konnte mir nichts mehr anhaben, auch wenn Mutter mich jeden Abend beten ließ: »... und mache, daß ich groß und stark werde, wie mein Vater das immer so gerne wollte«.


Als wir Ende 1945 wieder zu Hause waren, klopfte der ältere der beiden »Prinzen« an die Kellertür, um das Kästchen abzuholen. Mutter holte es aus dem Versteck – ich weiß nicht aus welchem – und bot ihm an, sich zu uns zu setzen, vielleicht einen Kaffee mit uns zu trinken. Er blieb an der Tür stehen: Er müsse sofort nach Detmold zurückfahren. Unter unseren ärmlichen Wohnverhältnissen – nur zwei Kellerräume waren bewohnbar geblieben– fühlte er sich offenbar unwohl. Auf unsere Fragen fielen ihm keine Antworten ein. Mit einem »Danke bestens« und einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete er sich und enteilte. Wir diskutierten dann, ob sein Auftritt auf eine gute oder eine schlechte Prinzenerziehung schließen lasse. Armin sagte: »... jedenfalls eine zweckmäßige. Da lernt man, Abstand halten zum Pöbel.«


Seit Mutters Tod – sie wurde über 90 – ist Petersens Bild in meinem Besitz. Im Arbeitszimmer steht es an die Wand gelehnt auf dem Fußboden, ich sehe die Rückseite, Vater kann mich beim Arbeiten nicht beobachten, sich nicht in mein Tun und Lassen einmischen. Darüber hängen zwei Ölbilder des Mönchengladbacher Malers Ernst Weitz. Das eine stellt mich als Fünfjährigen dar, kurz nach Vaters Tod, ich wirke verträumt. Das andere zeigt Mutter im schwarzen Witwenkleid, ihr Gesicht ist blaß. Im Hintergrund ist – als Bild im Bild – unser Haus zu sehen, wie es aussah, bevor es 1943 von Bomben zerstört wurde. Sie hatte sich mit dem ihr als fünffacher Mutter verliehenen »Mutterkreuz« malen lassen, und auf der runden Ecke des Hauses wehte die Hakenkreuzfahne. Später verschwanden Mutterkreuz und Hakenkreuz. Weitz übermalte sie auf Wunsch der Auftraggeberin des Bildes, aber auch im eigenen Interesse: In den frühen 1950er Jahren verloren gegenständliche Bilder in Westdeutschland rapide an Wert. Künstler, die zu Ausstellungen zugelassen werden wollten, mußten »abstrakte« Bilder liefern. Ausgehend vom Kulturkreis der Deutschen Industrie wurde die Kunstförderung in der jungen BRD ruckzuck umgestellt. Museumdirektoren, Kunstkritiker, bildende Künstler, alle mußten lernen: Jetzt galt nur noch abstrakt, gegenständlich war unten durch. So enthob man sich der Nazi-Vergangenheit und grenzte zugleich den Realismus aus, den die DDR förderte. Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart konnte in der bildenden Kunst Westdeutschlands kaum stattfinden. Weitz kleckste fortan wie die meisten seiner Kollegen: läppische Farb- und Form-Kompositionen. Und war akzeptiert.


Übrigens: Eine Anfrage in Wasungen ergab, daß seit der »Wende« – womit man nicht 1945, sondern 1990 meinte – »der Prinz von Lippe-Detmold regelmäßig zur Jagd nach Zillbach« komme.