2013 fiel der Wonnemonat Mai aus und buchstäblich ins Wasser. Der Frühlingsmonat war der zweitnasseste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahre 1881. Es war ungewöhnlich kühl, in den Hochlagen schneite es, und Ende Mai gab es sogar noch Nachtfrost. Das war die Wetterlage, in der das »Sturmgeschütz der Demokratie«, der Spiegel, bemüht war, wenigstens die öffentliche Meinung mit seinen Horrormeldungen über die menschenfeindlichen Medikamententests in der untergegangenen DDR zu erhitzen. »Alle Hunde, die ihren Hof bewachen, haben sie von der Kette losgelassen; alle hungrigen Zeitungsschreiber mussten ein Geschrei erheben, ehe man ihnen die Schüssel füllte, und dieses Gebell und dieses Geschrei sollen das Konzert der öffentlichen Meinung bilden.« In solchem Konzert, über das Carl Ludwig Börne vor zwei Jahrhunderten schrieb, spielten die bundesdeutschen Monopolmedien eilfertig und schrill mit. Bereits zwei Monate zuvor hatten sie den rechten Tonfall gefunden: »Wie die DDR Bürger als Versuchskaninchen verkaufte« (Die Welt), »Empörung über Menschenversuche« (Berliner Zeitung), »Tödliche Menschenversuche in DDR. West-Pharmafirmen testen Medikamente in Ost-Berlin« (Focus), »Menschenversuche in DDR« (Bild), »DDR verkaufte Patienten für Menschenversuche« (Berliner Kurier) – siehe Ossietzky 9/2014. Doch dann, zwei Monate später, konnten die »hungrigen Zeitungsschreiber«, gestützt auf weitere Spiegel-Enthüllungen, noch lauter und empörter schreien. Es waren ja auch unfassbare Untaten, über die das Hamburger Nachrichtenmagazin mehrfach zu berichten wusste. Danach hätten westliche Pharmakonzerne in der DDR hunderte Medikamentenstudien an mehr als 50.000 Patienten in Auftrag gegeben. Getestet worden sei in mehr als 50 Kliniken, oft ohne Wissen der Betroffenen. Die Hersteller hätten bis zu 800.000 DM pro Studie angeboten. Patienten seien über Risiken und Nebenwirkungen oft im Unklaren gelassen worden. Dabei sei es immer wieder zu Todesfällen gekommen. Ja, es war so furchtbar, dass der Spiegel konstatieren konnte: »Wie ein Zuhälter verkaufte die Regierung ihre kranken Bürger und prostituierte das Land als Versuchslabor.«
Medien, Regierungsmitglieder und DDR-Aufarbeiter äußerten sich entsetzt über diese »Menschenversuche gegen Valuta« und forderten eine sofortige und gründliche Untersuchung. Diese wurde dem renommierten Charité-Universitätsklinikum übertragen und unter anderem von der Bundesregierung und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziert. Beide hofften auf weitere Enthüllungen. Doch oh Schreck! Das Ergebnis entsprach nicht ihren Erwartungen. Im Abschlussbericht des Forschungsprojektes »Klinische Arzneimittelforschung in der DDR« wird unter anderem festgestellt: Rund 900 Medikamententests ließen Westfirmen seit 1961 in der DDR durchführen. Systematische Verstöße gegen damals geltende Standards wurden nicht gefunden. Im Gegenteil, das in der DDR geltende normative Regelwerk war dem westdeutschen sogar zunächst um Jahre voraus. Die DDR bot äußerst engagierte, exakt arbeitende Ärzte sowie Patientenkollektive, die in Spezialzentren zusammengefasst waren. Das sicherte die Qualität der Studiendaten. Die Einwilligung der Probanden ist belegt. Alle Seiten zogen Vorteile aus den Tests: Die DDR stellte den BRD-Firmen ihr zentral organisiertes Gesundheitssystem zur Verfügung und erwirtschaftete Devisen; die Patienten erhielten wie auch heute bei vergleichbaren Studien Zugang zu neuen Medikamenten und größere Aufmerksamkeit von Seiten der Mediziner.
Fazit: Von den drei Jahre zuvor erhobenen Beschuldigungen blieb rein gar nichts übrig, der »Skandal« hat nicht stattgefunden, was im Untersuchungsbericht explizit hervorgehoben wird. So verwundert es nicht, dass das mediale Echo im Gegensatz zum Geschrei im Frühjahr 2013 insgesamt recht mäßig ausfiel. Erwähnenswert ist allerdings die Reaktion der SED-Diktatur-Aufarbeiter und DDR-Verteufler.
2013 war der MfS-Aktenverwalter Roland Jahn furchtbar empört. In einem Interview mit der Zeit fasste er seinen Zorn unter anderem in die Worte: »Dass in der DDR Medikamententests an Patienten durchgeführt wurden, die nicht den Regeln eines demokratischen Landes entsprachen, überrascht mich nicht. Der Diktatur traue ich viel zu … Was das Nachrichtenmagazin Der Spiegel recherchiert hat, muss der Ausgangspunkt für wissenschaftliche Studien sein, die ein umfassendes Bild des Skandals zeichnen und sämtliche Beteiligten benennen … Ärzte sollten selber Devisen beschaffen, nicht nur verbrauchen, und dafür waren einige bereit, weit über die Grenzen des Erlaubten hinauszugehen … Es geht hier schließlich um Menschen, an denen Medikamente getestet worden sind und die teilweise bis heute an den Folgen leiden.« Das Interview des Stasiexperten über den »Skandal« war lang, seine Stellungnahme zum Untersuchungsbericht dafür umso kürzer: Nach seiner Ansicht sollte »das Thema weiter ergründet werden«. Seine thüringische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Hildigund Neubert, zeigte sich vor drei Jahren tief empört: »Was bisher über die Tests bekannt ist, erschreckt mich: Um das eigene System zu stabilisieren, war die SED sogar bereit, mit der Gesundheit ihrer Bürger zu handeln.« Nach Bekanntwerden der Untersuchungsergebnisse hüllte sie sich sicherheitshalber in Schweigen.
Die Koryphäe in Sachen SED-Diktatur, Rainer Eppelmann, der in der Regel keine Gelegenheit auslässt, DDR-Untaten anzuprangern, hatte sich verwunderlicherweise 2013 nicht zu dem »Skandal« geäußert, so blieb es ihm erspart, zurückrudern zu müssen. Das gleiche Glück, wenn auch aus einem anderen Grund, hatte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner. 2013 stimmte er in den Chor der Empörten ein: »Es wäre ein schwerer Skandal, wenn Tausende DDR-Bürger – vermutlich sogar unter Verletzung von Rechtsvorschriften der DDR – zu billigen und wohlfeilen Versuchskaninchen gemacht worden wären.« Heutzutage übt er dieses bedeutende, wenn auch überflüssige Amt nicht mehr aus. Seine Nachfolgerin, Iris Gleicke, zeigte sich »einigermaßen erleichtert«, dass sich die Vorwürfe systematischer Rechtsverstöße in der Studie anscheinend nicht bestätigt hätten.
Als der Spiegel 2013 die sensationellen Enthüllungen über die Arzneimitteltests veröffentlichte, zögerte einer keinen Moment, seinem heiligen Zorn freien Lauf zu lassen: der Chef der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe: »Wer Menschen, die sich nicht wehren können, als Versuchskaninchen missbraucht, handelt inhuman.« Sollten, so fuhr er fort, tatsächlich mehr als 50.000 Menschen als Testpatienten gedient haben, sei das »einer der größten Medizinskandale der Nachkriegsgeschichte«. In einem Interview mit dem NDR fasste er seine Empörung in die Worte: »Das Ausmaß ist doch wirklich erschreckend, wenn man sich vorstellt, dass da 500 Tests durchgeführt wurden, mit wahrscheinlich rund 1.000 Personen pro Test, also 50.000 Menschen von einer Diktatur zur Verfügung gestellt worden sind, für solche Tests; ohne normalerweise jedenfalls offensichtlich befragt worden zu sein – das ist schon ein ziemlich erschreckender Vorgang.« Und wie reagiert der Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande 2016? Er schweigt, ohne sich zu entschuldigen, weder bei den DDR-Ärzten noch bei den betroffenen Pharmafirmen. Das ist wahrlich ein erschreckender Vorgang.
Noch einmal Börne: »Als Pythagoras seinen bekannten Lehrsatz entdeckte, brachte er den Göttern hundert Ochsen dar. Seitdem zittern die Ochsen, sooft eine neue Wahrheit ans Licht kommt.« Doch nicht alle Ochsen zittern. Es gibt auch solche, die blöken weiter.