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Titel916

145 Jahre Pariser Kommune  (Manfred Sohn)

Vor 145 Jahren kämpften die Bürgerinnen und Bürger von Paris um das Recht auf die Selbstbestimmung ihres Lebens. Am 18. März 1871 erklärte sich das Zentralkomitee der Nationalgarden zur provisorischen Regierung von Paris, schrieb Wahlen für die »Kommune von Paris« aus, die nach den Wahlen am 26. März zwei Tage später zur Proklamierung der »Commune« führten – vom Tag ihrer Geburt wütend bekämpft von der französischen und preußischen Bourgeoisie. Die Tage der Commune endeten am 28. Mai mit der Erschießung der letzten 147 Kommunarden auf dem Friedhof Père Lachaise. Karl Marx hat ihr in seiner Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich« ein bleibendes Denkmal gesetzt. Sie war, wie er dort schreibt, bei allen Unzulänglichkeiten die politische Form, »unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. In seiner wie in anderen Darlegungen werden die Frauen besonders gewürdigt, die von Anfang bis zum blutigen Ende eine zentrale Rolle in diesem Aufstand spielten.


Auf den ersten Blick scheinen Welten zwischen den Ereignissen von Paris im Jahre 1871 und den aktuellen Kämpfen im kurdischen Gebiet Rojava (vgl. Ossietzky 22/2015) zu liegen – räumlich wie vor allem zeitlich. Es könnte auch so scheinen, als ob die Bewegung von »O Topos Mou«, auf die in Ossietzky 5/16 Rainer Butenschön hingewiesen hat, damit nichts zu tun hat. Aber es gibt auffällige Parallelen. Rainer Butenschön berichtet von der Gründung »Ohne Zwischenhändler«, durch die regionale Produkte direkt an Konsumenten verteilt werden. Die Organisation des Lebens findet – sehr ähnlich wie die Versorgung im autonomen Gebiet Rojava – jenseits von Staats- und Marktstrukturen statt. Hier wie dort werden Entscheidungen von Vollversammlungen getroffen und von themenbezogenen Freiwilligen-Kommissionen eigenverantwortlich umgesetzt. Auch die Bevölkerung von Paris hatte sich nicht – wie die heutigen, politisch kastrierten Kommunen – innerhalb des bürgerlichen Staatsgebildes, sondern, wie Marx formuliert, »gegen die Staatsmacht« organisiert.


Was also verbindet Paris, O Topos Mou und Rojava und bietet uns Anlass, der Ereignisse von vor 145 Jahren nicht nur zu gedenken, sondern sie als Impuls für künftiges Handeln zu begreifen? Offensichtlich sind damals wie heute an diesen Orten Menschen aktiv geworden, die weniger durch theoretische Studien, sondern vor allem durch praktische Erfahrungen ihren Glauben an die Segnungen von Staat und Markt verloren haben und begannen beziehungsweise beginnen, ihre Angelegenheiten jenseits etablierter Strukturen in die eigenen Hände zu nehmen. Das ist an und für sich schon bewundernswert, könnte aber von uns, wo diese Staats- und Marktstrukturen für die meisten Menschen noch leidlich zu funktionieren scheinen, eben mit der Bewunderung eines Zuschauers betrachtet werden. Verfochten sei hier aber eine andere Betrachtungsweise, die so formuliert werden könnte: In diesen Beispielen scheint etwas auf, was für uns in Deutschland eminente praktische Bedeutung für unser eigenes politisches Handeln haben wird. Das ist deshalb so, weil die Strukturen, die die Notwendigkeit des Handelns in den genannten Beispielen hervorriefen oder -rufen, dieselben sind, die unvermeidlich und für aufmerksame Menschen jetzt schon sichtbar auch bei uns ihre Wirkungen zu entfalten beginnen. Dies sei im Folgenden thesenartig angerissen.


Die Pariser Kommune stand am Beginn der Konstitution dessen, was wir heute Kapitalismus nennen. Im Zentrum dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem steht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nicht durch direktes Handeln der Menschen miteinander, sondern vermittelt über die Herstellung von Waren und ihren Austausch. Indem das geschieht, rückt in das Zentrum eines solchen Systems anstelle der Befriedigung dieser Bedürfnisse die Herstellung von Waren mit dem Ziel, aus dem Geld, was aufgewendet wurde, um die Dinge zu kaufen, die zur Herstellung von Waren benötigt wurden, mehr Geld zu machen. Kapitalismus ist auf die Formel zu bringen, aus G immer G‘ – mehr Geld – zu machen. Die Konstitutionsgeschichte dieses Systems ist voll von blutig niedergeschlagenen Versuchen, sich dieser Unterwerfung aller menschlichen Beziehungen unter die Formel G-G‘ zu widersetzen. Die Pariser Kommune war das bis dahin flammendste Fanal, das zu tun, weil es gelang, auf kommunaler Ebene in einer der damals größten Städte der Welt diesem Prinzip das der Selbstverwaltung entgegenzusetzen.


Das kapitalistische System reißt in seiner aufsteigenden Phase historisch alle ihm äußerlich gesetzten Schranken – religiöse, regionale, staatliche Grenzen, Zunftorganisationen und so weiter – nieder und bricht erst dann zusammen, wenn es an seine »wahre Grenze«, wie Marx in den »Grundrissen« schreibt, stößt. Sie ist erreicht, wenn alle nichtkapitalisierten Regionen der Welt und alle nicht in Warenform gepressten Bedürfnisse der Völker unter das Joch der Selbstzweckmaschine G-G‘ gezwungen sind und wenn, getrieben durch die Konkurrenz, mehr Ware Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess verdrängt als durch Schaffung neuer Industrien wertbildend vernutzt wird.


Die Pariser Kommune war wie der große Versuch, der 1917 von der russischen Oktoberrevolution ausging und 1989 so kläglich endete, zum Scheitern verurteilt, weil er eine Rebellion in der noch aufsteigenden Phase dieses Systems war. O Topos Mou wie die Kämpfe in Rojava sind deshalb ein Fanal, weil sie die bisher kämpferischsten Erhebungen gegen die Zumutungen des Kapitalismus am Beginn der 2008 begonnenen Krise dieses Systems sind, also sich in seiner absteigenden Phase entfalten. Dies ist der Fall, weil die von Marx analysierten Bedingungen, die die Grenze seiner Entwicklungsfähigkeit festlegen, eingetreten sind: Heute gibt es keine nennenswerten Regionen mehr, die noch zu kapitalisieren sind, und seit der sogenannten dritten industriellen Revolution werden beständig mehr Arbeitskräfte aus der Mehrwertproduktion herausrationalisiert als neue Industrien sie wertbildend absorbieren können – deshalb die weltweit unentwegt ansteigende Zahl von dauerhaft Arbeitslosen: zum Beispiel in Griechenland, Nordafrika, Spanien, in der Türkei und zunehmend auch in den kapitalistischen Zentren selbst. Die große Wanderung der Millionen Menschen ist folglich keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise des global gewordenen und an seine wahre Grenze gekommenen Kapitalismus, die sich an den Fliehenden exekutiert.


Die Struktur des Kapitalismus und seine notwendige Negation durch eine Gesellschaft jenseits der Kategorien Ware, Geld, Markt und Staat erklärt auch die besondere Rolle der Frauen, die sie sowohl in der Pariser Kommune als auch in Rojava und allen zukünftigen Kämpfen spielten, spielen und spielen werden: Das System kann nur existieren, indem alle der Verwandlung von Bedürfnissen in die Warenform entgegenstehenden Zusammenhänge abgespalten und an eine Gruppe von Menschen übertragen werden, die diese nicht unter die Formel G-G‘ pressbaren Bedürfnisse befriedigen kann. Dies betrifft vor allem die mit der Reproduktion zusammenhängenden Bedürfnisse und Fähigkeiten. Da keine Gesellschaft ohne Kinder auf Dauer existieren kann, kein Kind aber ohne Mutter auf die Welt kommt, ist diese Abspaltung nicht warenförmig zu machender Bedürfnisse geschlechtsspezifisch erfolgt. Die Rebellion der Frauen von Paris bis Rojava und darüber hinaus ist die logische Konsequenz dieser Abspaltung und weist gleichzeitig auf die Perspektive einer Gesellschaft ohne Markt, Geld und Staat als einer Vereinigung von Menschen hin, die sich, ausgehend von der kommunalen Ebene, so organisieren, dass in das Zentrum der Gesellschaft die Befriedigung ihrer Bedürfnisse anstelle des Selbstzwecks G-G’ rückt.

Der Artikel fußt auf einem Beitrag von Manfred Sohn zur Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung 145 Jahre nach der Pariser Kommune am 19. März im Pavillon in Hannover.