Es ist die wohl am heißesten diskutierte Frage der Literaturgeschichte: Hat er oder hat er nicht? Die Rede ist von William Shakespeare (1564-1616), dessen Todestag sich am 23. April (nach dem damaligen Julianischen Kalender, nach dem heutigen Gregorianischen Kalender am 3. Mai) zum 400mal jährt. Noch heute ist er der meistgespielte, höchstgeschätzte und meistzitierte Dramatiker der Weltliteratur. Shakespeare hat der Nachwelt zwar 35 Dramen und mehr als 150 Sonette hinterlassen, leider aber keine Aufzeichnungen über sein Leben. Historisch belegte Fakten über ihn sind rar. Kaum ein Schriftstück, kein Brief, kein Original seiner Werke. Einzig ein Testament und ein paar Eintragungen in verschiedenen Registern belegen Shakespeares reale Existenz. Das Interesse an seiner Biografie setzte erst nach seinem Tode ein und seitdem brodelt die Gerüchteküche. Über einen Dichter, der zwar ein unübertroffenes Werk geschaffen hat, von dem aber sonst kaum etwas bekannt ist, kann man ja wunderbar spekulieren. Ein ideales Terrain für Mutmaßungen und Thesen.
Unbestritten ist also seine Existenz. Aber die Frage, die seitdem nicht nur Literaturhistoriker umtreibt ist: Wie konnte der Sohn eines Handschuhmachers aus dem Provinzstädtchen Stratford-upon-Avon, der dort sicher nur eine dürftige Schulbildung genossen hat, zum bedeutendsten Dramatiker und sprachmächtigsten Dichter der Weltliteratur werden? Wie konnte jemand, der weder eine höhere Schule noch eine Universität besucht hat, einen Kosmos von literarischen Figuren wie Hamlet, König Lear, Romeo und Julia, Macbeth, Othello oder Falstaff erschaffen? Das kann man doch keinem einfachen Provinzler zutrauen, sondern nur einem gebildeten Ghostwriter.
Bei Friedrich Schiller, Honoré de Balzac, Charles Dickens und anderen weltberühmten Poeten, die alle aus ärmlichen Verhältnissen kamen, tauchen solche Vorbehalte nicht auf. Nur bei William Shakespeare entzünden sich heftige Diskussionen mit dem immer wiederkehrenden Zweifel: Hat er seine Werke wirklich selbst geschrieben? Und so wird seit Jahrhunderten eine Urheberschaftsdebatte geführt, die schon Dutzende von Theorien zutage gefördert hat. Eine dieser Theorien behauptet, dass »William Shakespeare« nur das Pseudonym eines anderen englischen Schriftstellers der damaligen Zeit war. Fast zwei Jahrhunderte lang stand der Staatsmann und Philosoph Francis Bacon im Verdacht, der wahre Urheber der Shakespeare-Werke zu sein, der dafür eine neue Identität gewählt hatte.
Ein anderer Kandidat bei der Shakespeare-Autorenschaft ist der erfolgreiche Dramatiker Christopher Marlowe. Der »Superstar« der damaligen Londoner Theaterszene wurde wegen Atheismus und Homosexualität angeklagt. Doch bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, wurde Marlowe ermordet. Nur ein fingierter Mord, um das Leben zu retten und im italienischen Exil als William Shakespeare weiterzuleben? Die »Marlowianer« glauben nicht, dass zwei so bedeutende Dichter wie Shakespeare und Marlowe zur gleichen Zeit gelebt hätten, also muss es ein und dieselbe Person gewesen sein. Doch Glaube ist ein schlechtes Argument, vor allem wenn man sich stilistischen Gegensätzen und unterschiedlichen Charakterzeichnungen verschließt. Außerdem ist der Tod von Christopher Marlowe gut bezeugt, da müsste schon ein geheimer Zusammenschluss von Gleichgesinnten herhalten.
Ein weiterer heißer Kandidat der »wahre Shakespeare« zu sein, ist in letzter Zeit Edward de Vere. Der Earl of Oxford aus dem englischen Hochadel mit literarischen Ambitionen soll »William Shakespeare« als Pseudonym verwendet haben, um sich als Aristokrat nicht die Blöße eines Stückeschreibers zu geben. Pech nur, dass zahlreiche Shakespeare-Stücke erst nach seinem Tod (1604) aufgeführt wurden. Doch die »Oxfordianer« kontern, dass die Gesamtausgabe der Dramen auch erst sieben Jahre nach Shakespeares Tod erschien. Beinahe hundert Kandidaten wurden im Laufe der Zeit verdächtigt, William Shakespeare als Strohmann benutzt zu haben. Dabei gab es auch die verwegensten Theorien, wie zum Beispiel die Autorenschaft von Shakespeares Ehefrau Anne Hathaway oder sogar von der Kunst liebenden Königin Elisabeth I., die sich unter dem Pseudonym den königlichen Frust von der Seele schreiben wollte. »Last but not least« wird auch immer wieder die Möglichkeit eines Autoren-Teams vehement verfochten, wobei man sich um deren Federführung streitet.
Was die Verfechter der »Strohmann«-Theorie jedoch völlig außer Acht lassen: Es müsste sich dabei um eine Vertuschung und Geheimhaltung gewaltigen Ausmaßes handeln. Nicht nur der eigentliche Namensgeber, auch Freunde, Theaterkollegen oder die Herausgeber der Werke müssten stillschweigend eingeweiht gewesen sein. Bei so vielen Mitwissern und sicher auch Neidern sollte nichts durchgesickert sein? Seltsam außerdem, dass nach Shakespeares Tod immerhin fast zweihundert Jahre vergingen, ohne dass der geringste Zweifel laut wurde. Erst ein Pfarrer namens James Wilmot brachte Ende des 18. Jahrhunderts die Lawine ins Rollen. Hatte der Geistliche irgendwelche Beweise entdeckt? Nein, neben den geringen Lebenszeichen von Shakespeare stolperte er nur über dessen mangelnde Schulbildung. Und diese Argumentation zieht sich bis heute durch die ganze Kontroverse.
Die Debatte um die Shakespeare-Urheberschaft und die Suche nach dem unbekannten »Pseudonymus« werden auch weiterhin Philologen, Literaturhistoriker und Hobbyforscher beschäftigen, wobei sie sich immer neue Theorien um die Ohren hauen werden. »Stratfordianer«, »Marlowianer«, »Oxfordianer« und sonstige »…ianer« werden sich weiterhin zerfleischen. Der Shakespeare-Kenner und -Übersetzer Frank Günther gab in seinem Buch »Unser Shakespeare« die Empfehlung, wie man mit Shakespeare-Skeptikern umgehen sollte: Nicht einmal ignorieren!
Allen Zweiflern zum Trotz gedenken die Shakespeare-Verehrer rund um den Erdball am 23. April eines Mannes namens William Shakespeare, der ein großartiges Werk geschaffen und die ganze Welt zur Bühne gemacht hat. Als bekennender »Stratfordianer« seit der Schulzeit halte ich es mit Sir Laurence Olivier. Der englische Schauspieler, Regisseur und Shakespeare-Darsteller sagte einmal zu der ganzen Polemik: »Wenn man bedenkt, dass Shakespeare gar nicht gelebt haben soll, hat er doch bemerkenswert gute Stücke geschrieben.« Oder lassen wir zum Schluss William Shakespeare in der deutschen Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel selbst zu Wort kommen: »Der Narr hält sich für weise, aber der Weise weiß, dass er ein Narr ist.«