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Titel916

Bemerkungen

Karl Marx und der IS
Im Feuilleton ist vieles möglich. Frei schwebende Assoziationen, polemische Überspitzungen, steile Thesen sind hier nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwünscht, um zu überraschen und neue Erkenntnisse vorzubereiten. Das Feuilleton kann aber auch, das wissen wir spätestens seit Karl Kraus‘ Analysen in der Fackel, ein Ort für haltlose Spekulationen und verschmockten Kitsch sein, von der falschen Liebes- bis zur echten Kriegslyrik.


Nicht selten entsprechen Artikel im Feuilleton einer Zeitung oder einer Zeitschrift nicht dem, was im politischen Teil verkündet wird, vom Wirtschaftsteil ganz zu schweigen. Nehmen wir zum Beispiel die Frankfurter Rundschau. Sie bemüht sich in letzter Zeit sehr, ihre eher auf der Linken angesiedelten Leserinnen und Leser mit kritischen Berichten bei der Stange zu halten.


Dann aber passiert Folgendes: Am 5. April erscheint in ihrem Feuilleton ein Artikel mit der Überschrift »Ein Gespenst geht um in Europa«. Handelt es sich etwa um die erstaunliche Wiederkehr des Kommunismus als Idee oder Utopie in den Schriften zeitgenössischer europäischer Intellektueller? Keineswegs. Es geht um Brüssel als »eine der Hauptstädte des Exils« seit dem 19. Jahrhundert.


Anlass zu dieser Betrachtung sind anscheinend die Terroranschläge von Paris und Brüssel, die, wenn man so will und es so versteht, unter anderem auch von »politischen Exilanten« ausgeführt wurden. Der Autor des Artikels, Arno Widmann, will es offenbar so verstehen.


Sonst gelänge es ihm nicht, eine Brücke von der heutigen Migrantenszene in Brüssel über den Ajatollah Khomeini »in den Jahren seines Pariser Exils« bis zu Karl Marx zu schlagen, der auf der Flucht vor der preußischen Polizei 1843 in Paris anlangte und Jahre später nach Brüssel weiterfliehen musste. Dort entstand, in Zusammenarbeit mit Friedrich Engels, für einen kleinen Club von Emigranten das »Manifest der Kommunistischen Partei«, dessen erster Satz lautet: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus«.


Bis dahin ist der Artikel nichts weiter als rein assoziatives, nicht besonders prickelndes Feuilleton. Aber Widmann begnügt sich nicht mit dem sowieso schon fragwürdigen Vergleich zwischen politischen Emigranten unterschiedlichster Couleur aus zwei Jahrhunderten. Er greift, um den Vergleich zu vertiefen, auf Carl Schmitt zurück, ohne dessen Namen zu nennen – seine Definition des Politischen als »Bestimmung des Feindes«. Allen diesen Leuten im Exil sei es nämlich immer nur um eines gegangen: »Wer gegen wen«.


Und nun kommt Widmann auf den Punkt: »Wo wird die Grenze gezogen zwischen sich und dem Feind? Marx agitierte gegen das Menschheitspathos, gegen die ›Garantien der Harmonie und Freiheit‹ für Klassenkampf und Proletariat. Heute wird in ähnlichen Hinterzimmern ähnlich argumentiert. Auch die Agitatoren für den islamischen Staat wenden sich gegen Menschheit und Harmonie. Sie sind für den Krieg gegen die Ungläubigen. Und natürlich definieren sie, was Krieg ist und wer die Ungläubigen sind.«
Das muss man Arno Widmann neidlos zugestehen: Vor ihm hat es wohl noch keiner geschafft, Karl Marx als Vorläufer und Geistesverwandten des IS zu entlarven. Nicht einmal die AfD.

Reiner Diederich


Unsere Zustände
Der Arbeiter ist durch die systematische zerstörerische Kraft des Kapitalismus zu einem Einzelwesen geworden, das die Melodie »Völker hört die Signale« nun als Walzer singt.

*

Ein makelloser Mensch – das ist wie ein Stück Seife, mit dem man sich nicht wäscht.

*

Es wird die Zeit kommen, da man sich nach einem anständigen Menschen sehnt wie ein Hungernder nach einem Kanten Brot.

Wolfgang Eckert


political elasticum
Einer der wenigen Politiker, die mit dem Ausgang der letzten Landtagswahlen zufrieden sind, Winfried Kretschmann, wird in der Leipziger Volkszeitung so zitiert: »Wir müssen klar sein in den Zielen, aber offen in den Wegen« und »Wir müssen in unseren Grundsätzen elastisch und flexibel sein.«


Auf diese Weise entkleidet man Grundsätze ihres Charakters als Störfaktor.

Günter Krone


Originelle Provokation
Michael Moore ist nach seinem Filmerfolg über Amokläufe umstritten, ich finde ihn witzig. Er kann provozieren, und er macht es originell. So auch im Film »Where to Invade Next«. Moore wollte im Sinne Kästners »das Positive« suchen und wählte unter anderem Europa für seine Unternehmung aus. Europa? Hat er sie nicht mehr alle?


Im Vorspann stellt er klar, dass er vieles in Europa ebenso ablehne wie in den USA, dass es aber doch einige Dinge in der alten Welt gebe, die erhaltenswert seien, und die wolle er anschauen und für die USA »übernehmen«. Er gibt den heimischen Soldaten frei (man sieht sie sich die Uniformen ausziehen und Karten spielen) und marschiert nun in einige Inseln des Positiven ein, um gute Ideen zur Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen in den USA »zu erobern«.


Beispiel Schulessen in einer herkömmlichen französischen Schule: Es hat fünf Gänge, besteht aus Bio-Zutaten, wird von einem 5-Sterne-Koch zubereitet, von Personal aufgetragen und auf echten Tellern an Tischen gemeinschaftlich verspeist, die Kinder haben dafür genug Zeit. Moore sitzt mit ihnen am Tisch und wundert sich. Szenen voller Komik. Moore bleibt seiner Methode treu: zeigen und fragen. Aus den Fragen erschließen sich die Zusammenhänge.


Oder Finnland: Warum sind finnische Schüler Spitze im internationalen PISA-Vergleich? Die Ministerin in Finnland beantwortet das verblüffend einfach: weil Schule reduziert wurde. Außerdem gebe es Ermutigungszeugnisse statt harter Bewertungen. Praxis und Theorie seien in jedem Schulfach enger miteinander verbunden. Moore interviewt zufriedene Schüler.


So geht es weiter. In Italien, erfährt man, gibt es sechs bezahlte Wochen Ferien, man sieht verliebte Paare schlendern, und allein fünf Wochen erhalten Eltern frei, wenn sie Nachwuchs bekommen haben. Alles das ist staatlich festgesetzt, und kein Unternehmer will das ändern, damit die Zufriedenheit nicht leidet. In den USA, so erzählt Moore den staunenden Italienern zum Vergleich, gebe es keinen einzigen bezahlten Urlaubstag im Jahr.


In Deutschland entdeckt Moore, dass das Krankenkassenwesen eine Sache bisher offenbar von Sparmaßnahmen ausgenommen hat: Kuren. Moore zeigt Menschen auf Liegebänken.


Kritiker warfen Moore vor, er habe all die Dinge ausgespart, die den EU-Kapitalismus in seiner Raubgier zeigen. Wer aber genau hinschaut, sieht, dass das nicht stimmt. Alles, was Moore da noch an Gutem findet, ist gerade bedroht. Insofern ist Moores Film, klar, starke USA-Kritik, international gesehen aber Kapitalismuskritik. Die beschriebenen europäischen Inselparadiese sind fast ausschließlich Reliquien, hart erkämpft vor langer Zeit. Der Film zeigt mit viel Sinnlichkeit, bunten Bildern und Witz, wie es sich punktuell da besser leben lässt, wo einmal zufällig nicht das Gesetz grenzenloser Ausbeutung herrscht.

Anja Röhl


Ein Magnet im Kino Babylon
Schließlich reicht es dem Mann aus dem Kongo – dauernd diese schälen Blicke in der Straßenbahn, dauernd in der Öffentlichkeit angepöbelt zu werden und stets argwöhnisch belauert von den Eltern der Freundin, am Ende gar auf der Flucht vor Neonazis, die ihn stellen und zusammenschlagen. Es reicht Sikumoya Mumandi! Im Krankenhaus besinnt er sich. Er wird den Stier bei den Hörnern packen, sich einbringen in diese verdammte NPO, die sich Nationale Patrioten Ost nennt, wird den Brutalen brutal kommen und selber zum Nazi werden. Als schwarzer Nazi avanciert er zum Integrationsbeauftragten, der Goethe zitiert, Volkslieder singt und deutsche Sprachpflege betreibt.


Wenn das kein Stoff für einen Film ist! Das fand auch das Berliner Premierenpublikum am 12. April im Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz. Es bejubelte, belachte, beklatschte was die Brüder Karl-Friedrich und Tilman König, zwei junge, doch längst erprobte Regisseure, zu bieten hatten: spritzige Ideen, dokumentarische Schärfe, realistische Härte, schwarzen Humor. Dazu ein Ensemble, das sich gekonnt einsetzte, allen voran Aloysius Itoka als Sikumoya, Judith Bareiß als dessen sächsische Freundin Moni, Christian Weber als Steve, ein dumm-dreister Neonazi, und Bernd-Michael Baier als leitender NPO-Funktionär, der es verantwortet, Sikumoya als Integrationsbeauftragten zu bestimmen. Wie dieser Hüne aus Afrika die Metamorphose zum Deutschesten aller Deutschen vollzieht, er Wutbürger und Neonazis von rechts überholt und ihnen ihre Anschauungen streitig macht, sollte man sich nicht entgehen lassen. »Der schwarze Nazi« erweist sich als eine Filmgroteske, die zeitgemäßer kaum sein kann!

Walter Kaufmann


Ein Dorf von heute
Das fiktive Dorf Unterleuten liegt in Brandenburg, 100 Kilometer von Berlin entfernt und ähnelt jeder realen Gemeinde dort, ja mehr noch: Es spiegelt unsere heutige Gesellschaft. Dort leben Alteingesessene, die ihren Streit aus der LPG mit in die Gegenwart genommen haben und die auf sehr verschiedene Weise die Nachwende-Lebens-Bedingungen bedienen. Dazu die Zugezogenen: Aussteiger aus Berlin, die die Natur genießen, und wieder andere, die unternehmerische Sehnsüchte verwirklichen wollen. Man lebt nebeneinander, bis die Ankündigung eines zu bauenden Windparks alles aufbricht, und auch die »Neuen« wirbeln kräftig mit. Das ist höchst spannend, aber viel mehr als ein Krimi.


Was aufbricht, ist nicht nur der alte Streit, sondern der Konflikt der einzelnen Interessen, gnadenlos und hart. Eben da kommt die allgemeine gesellschaftliche Substanz, das geltende Wertesystem zum Ausdruck. Die verschiedenen Generationen offenbaren ihre Eigenschaften, von Juli Zeh scharfsichtig beobachtet und seziert. Früheres Sich-Einsetzen für das Allgemeinwohl endet als bloßer Egoismus. Keiner entkommt der Entlarvung durch die Autorin, obwohl doch jeder nicht nur böse ist. Das kleine Dorf entpuppt sich als Gesellschaftspanorama, das in der gegenwärtigen Literatur seinesgleichen sucht.

Christel Berger

Juli Zeh: »Unterleuten«, Luchterhand, 640 Seiten, 24,99 €

 

Schicksal jüdischer Nachlässe II
Ende April vor einem Jahr fand in Hamburg ein Forum der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD statt zum Thema »Restitution von NS-Raubkunst«, auf Anregung der Hamburger Historikerin Barbara Vogel (Ossietzky informierte damals). Die Beiträge der Veranstaltung sind gerade in einer Broschüre erschienen (»Restitution von NS-Raubkunst – Der historisch begründete Anspruch auf eine Rechtslage«, Klartext-Verlag, 87 Seiten, 14,95 €).

Klaus Nilius


Feuerabend
Seit Januar dieses Jahres besteht für die Bundeswehr eine Arbeitszeitregelung, die nach Bild online »der neue gefährliche Gegner unserer Soldaten« ist. Zitat: »Für die Bundeswehr gilt jetzt eine 41-Stundenwoche. Mehrarbeit muss mit Freizeit ausgeglichen werden. Folge: Die Truppe … ist zeitlich nur noch bedingt einsatzfähig.« Und der Wehrbeauftragte des Bundestages sagt dazu: »Es kann nicht sein, dass wir NATO-Verpflichtungen wegen drohender Überstunden nicht nachkommen können.«


Der Mann hat Recht, und die Lösung ist ganz einfach. Man muss nur weltweit regeln – schließlich haben wir die UNO mit dem Weltsicherheitsrat –, dass keinem Staat mehr erlaubt ist, im Krieg 24 Stunden am Tag zu schießen. Das gegenseitige Umbringen muss auf die Zeit von, sagen wir, 7 bis 16 Uhr, mit ausreichender Mittagspause, beschränkt werden. Wer könnte das besser in die Wege leiten als eine mütterliche Verteidigungsministerin.

Günter Krone


Zuschrift an die Lokalpresse
Wie das neue deutschland in der Wochenendausgabe vom 3./4. April mitteilt, gibt es einen herausragenden Sieger beim Wettbewerb um einen Neubau und den Standort der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Den Zuschlag aus 155 Entwürfen erhielt ein Architekten-Duo für »einen einfachen Grundriss im positiven Sinne«, wie die Jury-Vorsitzende Ulrike Tauber erklärte. Und die Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher bezeichnete den Siegerentwurf als ein Haus, »das zeichenhaft ist, aber nicht protzt«. Ich teile durchaus die Euphorie der Spezialistinnen über das neue Projekt, kann aber leider nicht so souverän mit den architektonischen Regulativen und dem Fachvokabular umgehen. Vielleicht kann mir die Redaktion dabei helfen, den »positiven Sinn eines einfachen Grundrisses« theoretisch zu erfassen und in die »Zeichenhaftigkeit« eines Neubaus ein wenig tiefer einzudringen. – Annemirl-Sabrina Salomon-Honigmann (36), Dramaturgin, 98617 Sülzfeld

Wolfgang Helfritsch