Er schleppt sich über den Boden, auf allen Vieren wie ein Tier, verletzt, mit Wunden bedeckt. Ein Opfer? Seine Nacktheit macht ihn wehrlos – glaubt der Zuschauer, vorerst. Im Hamburger Schauspielhaus: Kleists »Der zerbrochene Krug« – Regie Michael Thalheimer. Der da wie ein Opfer erscheint, ist der Dorfrichter Adam (Carlo Ljubek). Nicht alt und behäbig – smart und durchtrieben, geschmeidig wie Mephisto. Dass es heute keine Tarnung mehr braucht, macht Thalheimer deutlich: »Wir leben mittlerweile in einer Welt, in der die Lüge offensichtlich ist. Man gibt sich keine Mühe mehr, gut zu lügen. Man macht dreist einfach weiter.« (am 24.3. im Hamburger Abendblatt) Wer sich so nackt zeigt, kann nicht lügen, denken die Dorfbewohner, über die er richten soll. Nein, sie erkennen seine Blöße nicht, genauso wenig wie sein Schreiber Licht (Christoph Luser) und der Revisor, Gerichtsrat Walter (Markus John). Nur Richter Adam weiß, dass er nackt ist. Aus dem gequälten Tier wird bald die Respektsperson für die Dörfler, die sich in Schale geworfen haben, mit Schlips, Pumps und Kreuzanhänger-Kettchen. Der nackte Adam, mal auftrumpfend, mal sich anschleimend. Dass er über sich selbst richten muss, versucht er krampfhaft, variantenreich zu verbergen. Die Lüge wird offenbar. Das Lügengewebe ist das einzige, was ihn kleidet.
Zweigeteilt die Bühne (Olaf Altmann): Links ist alles niedrig, dunkel, eng. Rechts der Raum, der höher liegt, hell und weit. Die linke Seite, mit Stühlen ausgestattet, eine Wartestube für die Unterprivilegierten. Die müssen eine gewaltige Stufe überwinden, um zum Saal der Rechtsprechung vorzudringen, den sie nie erreichen. Dort steht ein thronähnlicher Sessel, breit genug für den Dorfrichter, um sich dort hinzufläzen. Ohne seine Perücke, die er als Machtsymbol braucht – und die verschwunden ist. Stattdessen überschüttet er sich mit weißem Puder, pfundweise, auch der Revisor Walter, der überraschend eingetroffen ist, bekommt etwas ab. Adam mit seiner Glatze sieht aus wie ein japanischer Butoh-Tänzer oder ganz anders: wie eine der arrangierten Leichen des Dr. von Hagens – nur tatsächlich lebendig. Die Schatten an der Wand spielen mit. Musik: nur vier Töne, absteigend, unaufhörlich.
Die vier Rechtsuchenden: Klägerin Frau Marthe Rull (Anja Laïs), der es erst nur um ihren zerschlagenen Krug geht, ihre Tochter Eve (Josefine Israel), der Grund für alle Verwicklungen. Und die Gegenseite: Ruprecht Tümpel, Eves Verlobter (Paul Behren), und sein Vater, Veit (Aljoscha Stadelmann), der, cholerisch, seinen Sohn auf offener Bühne verprügelt – einprägsam auf den nackten Hintern. Alle sitzen wartend, ergeben auf ihre Aussage harrend. Was sie nicht auszusprechen wagen, drücken ihre Hände aus: Verkrampfung, Ungeduld, ein gewaltsames Sich-Zurückhalten, um in jedem Moment aufspringen zu wollen. Die wundersam phantasievollen, sich widersprechenden Ausreden des Schuldigen, Adam, irritieren, schüchtern ein, verschließen den Mund denen, die hier nichts zu sagen haben. Werden sie aufgerufen, müssen sie sich mühsam an die Trennwand begeben, gebückt, wegen der Enge, um nach oben, zu den Oberen aufsehend, sich zu verteidigen. Die Fronten sind klar vorgegeben – auch wenn Richter Adam sich an Evchen heranmacht, sie flüsternd zu beeinflussen versucht. Sie bleibt stumm. Die Sprache Kleists, anspielungsreich und erotisch – Thalheimer ändert kaum, spitzt zu, komprimiert.
Als Frau Brigitte (Ute Hannig) später als Zeugin gerufen wird, entwirrt sich das Lügengewebe. Sie präsentiert die Perücke Adams, sie hing am Weinspalier unter dem Fenster von Evchens Zimmer. Brigitte verfolgte Fußspuren – des Teufels Klumpfuß – bis zum Haus des Richters. Sein Klumpfuß, hier seine ums rechte Bein gewickelte Hose, die wie angeklebt sich nicht beseitigen lässt. Darauf Adams Antrag: »bei der Synode anzufragen, ob das Gericht befugt sei, anzunehmen, dass Beelzebub den Krug zerbrochen hat«. Im Laufe der Verhandlung springt der Untersucher Walter dem Richter bei: »Der Fuß ist gut.«
Als Evchen aussagen soll, bewegt sich die Bühne mit Gerichts- und Wartesaal langsam nach hinten. Evchen allein auf der Bühne, wagt sich hervor: »Er war‘s«, weist auf den Richter. Erzählt die Vorgeschichte – zaghaft, zu leise –, alles, um Ruprecht vor dem Militär zu retten. Wie sie getäuscht wurde. Sie kann nicht lesen – musste vertrauen. Ganz verloren steht sie da. Der Gerichtsrat Walter kommt hinzu, befragt sie streng, wirft ihr einen Beutel mit zwanzig Gulden zu, damit könne sie ihren Verlobten freikaufen. Wenn nicht, dann will er Zinsen fürs Geld – für sein Bemühen. Auch einen Kuss verlangt er. Er drückt sie gewaltsam herunter, als solle sie vor ihm knien, er bricht ihr Aufbegehren, zeigt, wer die Macht hat. Evchen bleibt allein zurück. Auch die anderen haben sich von ihr abgewandt. Das ist der Hamburger Schluss. Kleist hat verschiedene Varianten geschrieben. Thalheimer wählte die böseste. In der Regel endet die Komödie mit der geplanten Hochzeit. Adam sitzt in Hamburg hinten triumphierend auf seinem Thronsessel – einer der weiß, dass er zuletzt immer gewinnt.
Diese Inszenierung überraschte mich. Im Jahr 2003 sah ich im Thalia-Theater unter der Regie von Michael Thalheimer Büchners »Woyzeck« und kritisierte ihn in Ossietzky (22/2003). Der Regisseur sah in der Figur Woyzeck den Terroristen Atta. Thalheimer dazu, damals: Er »möchte zwar nicht behaupten, dass es keine sozialen Unterschiede mehr gibt«, aber »ich stelle ganz egoistisch die Behauptung auf, dass sie mich auf der Bühne nicht mehr interessieren«. Heute dagegen geht es dem Regisseur darum, »in der kleinen Welt die große Welt zu erkennen«. Nun weiß er: »Die da unten sind chancenlos und bleiben es. Die da oben sind verantwortungslos. Schon ist der Stoff zeitgenössisch, ohne dass ich das plakatieren muss.« Damals stellte er die Tragödie »Woyzeck« auf den Kopf, heute stellt er Kleists Komödie auf die Füße.