Die Meldung verschwand rasch aus den Nachrichtensendungen: »Demokratie unter Druck. Polarisierung und Repression nehmen weltweit zu.« Die Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und Regierungsführung sei weltweit auf den niedrigsten Stand seit zwölf Jahren gefallen. Die Daten für die Studie hat die Bertelsmann Stiftung in 126 Entwicklungs- und Schwellenländern erhoben und im Internet veröffentlicht (22.3.2018).
Den »Bertelsmann-Transformationsindex« BTI, der den Bertelsmann-Urteilen zugrunde gelegt wurde, benutzen auch G7-Staaten als offizielles Messinstrument; er basiert auf Kriterien wie Wachstum, Kapitalmarktzugang, gutes Wirtschaftsklima und Durchführung von Strukturreformen. Dieser Maßstab kommt nicht zufällig bekannt vor, spiegelt er doch zentrale neoliberale Wirtschaftsziele. Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank zwangen zahlreichen Ländern »Strukturanpassungsprogramme« zur Privatisierung und Deregulierung auf. Darüber hinaus erschöpft sich für Bertelsmann Demokratie in der »Governance Performance« (Gestaltungsfähigkeit, Ressourceneffizienz, Konsensbildung und internationale Zusammenarbeit). So überrascht es nicht, dass die Demokratie dort am ehesten verankert scheint, wo sich kapitalistische »Marktwirtschaft« durchgesetzt hat (oder durchgesetzt wurde). Die Stiftung zaubert etwas aus dem Hut, was sie vorher hineingeschmuggelt hat.
Einige Zahlen der Studie zeigen wachsende globale Zerrüttung: In 40 Staaten wurde danach in den letzten zwei Jahren die Rechtsstaatlichkeit beschnitten, in 50 wurden politische Freiheiten eingeschränkt. In 72 Ländern herrschen massive Angst und Ungleichheit, und 3,3 Milliarden Menschen werden autokratisch regiert. Diese Entwicklung nutzt die Bertelsmann Stiftung, die laut Eigenwerbung das Ziel verfolgt, im »Dialog mit allen gesellschaftlichen Stakeholdern« einen »Beitrag zur Gesellschaftsreform« zu leisten, als Handlungsverpflichtung: Sie will mit den Daten »strategische Empfehlungen für die Steuerung von Transformationsprozessen« liefern und damit die »Außenunterstützung des Systemwandels optimieren«. Dienstleistung für Herrschende zugunsten eines neoliberalen Wandels?
Da drängt sich das Gegenargument auf, dass gerade die Strukturanpassungsprogramme soziale Ungleichheit und die Abhängigkeit vieler Staaten begünstigen und autoritäre und korrupte Herrschaft erzeugen; dass es gerade die westlichen Demokratien sind, die in ihrem rücksichtslosen Streben nach billigen Ressourcen und Arbeitskräften und nach militärisch gestützter Hegemonie für die undemokratischen Verhältnisse sorgen, die Bertelsmann zu Recht beklagt.
Leider blieben in der Studie die wirtschaftlich und politisch dominierenden Länder des Westens außen vor. So fällt die Missachtung der Menschenrechte seitens global agierender Konzerne unter den Tisch: Wenn etwa Nestlé eine Strategie verfolgt, die dem Konzern zusammen mit Coca-Cola, Pepsi und der Weltbank weltweit die Herrschaft über die Wasserressourcen sichern soll (https://www.nachdenkseiten.de/?p=43245#more-43245). Wenn die Bayer AG nach Übernahme des Konzerns Monsanto global große Teile des Saatgut- und Pestizidmarktes beherrscht – zum Schaden der indigenen Bevölkerung. Wenn Facebook Nutzerdaten für die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen zur Wahlbeeinflussung weitergibt. (Wobei die Empörung der Politik über den Deal heuchlerisch erscheint: Was sonst ist denn Geschäftszweck des 41 Milliarden US-Dollar schweren Giganten?)
Würde Bertelsmann die dominierenden Staaten des Westens nach der demokratischen Legitimation und Kontrolle solcher Herrschaftsstrukturen beurteilen oder die Frage der Rechenschaftspflicht der Bevölkerung und dem Parlament gegenüber untersuchen, gerieten die wahren Verursacher des globalen Desasters in den Blick. Wie würde ein Demokratie-Index aussehen, würden die USA und die EU-Staaten nach Kriterien wie Einfluss wirtschaftlicher Macht auf politische Entscheidungen, Einhaltung der wirtschaftlich-sozialen Menschenrechte, des Völkerrechts und der UN-Charta beurteilt oder auf soziale Ungleichheit, Rassismus und neokoloniale Praktiken untersucht?
Unser kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem fördert enorm Produktivkräfte – nützliche ebenso wie menschenfeindliche. Der Neoliberalismus als Ideologie begünstigt Letztere. Er fördert Egoismus, Durchsetzung um jeden Preis, er verurteilt jede Mitmenschlichkeit als Schwäche, Solidarität und Empathie als Todsünde gegen den heiligen Marktwettbewerb. Er hat den globalen Siegeszug angetreten – nicht etwa weil er die Menschen glücklicher macht. Vielmehr deshalb, weil er skrupellosen Egomanen und Psychopathen in Politik und Wirtschaft eine Rechtfertigungsideologie geliefert hat, für Macht und Reichtum über Leichen zu gehen. Formale Kriterien der Demokratie wie freie Wahlen und Gewaltenteilung sind hierzulande meist noch erfüllt; eine zentrale Form der Gewaltenteilung, nämlich die zwischen kapitalistischer Wirtschaft und Politik existiert nicht, weil sonst das bestehende Herrschaftssystem in Frage gestellt würde. Die größte Gefahr für die Menschen, für soziale Strukturen und demokratische Verhältnisse geht von dieser innigen Verbindung aus, die demokratische und soziale Prinzipien zerstört.
Ein System, das Rücksichtslosigkeit belohnt und Menschlichkeit zum Untergang verdammt, ist schädlich und gefährlich. Wenn auch noch – wie in der gegenwärtigen Phase des enthemmten Finanzkapitalismus – jede politische Kontrolle unterbleibt und die dominierenden Mächte in Wirtschaft und Politik sich gegenseitig in die Hände spielen, entgleist das System. Die Machtspirale wächst, und das System ist nicht mehr in der Lage, Fehler und destruktive Entwicklungen zu stoppen, wie Bankenkrise, Ökokatastrophe oder Neokolonialismus zeigen. Der neoliberal radikalisierte Kapitalismus siegt sich (oder uns) zu Tode. Als »Heilmittel« in der drohenden globalen Krise erscheinen zunehmend Aufrüstung und der Sicherheitsstaat – eine Spirale der selbsterzeugten Instabilität und Gewalt, an dessen Ende der Krieg steht. Dass in den USA jüngst eine Folterspezialistin zur CIA-Chefin und ein Kriegshetzer zum Nationalen Sicherheitsberater ernannt wurde, ist logisch und konsequent – ebenso wie eine EU-Politik, die Feindbilder züchtet und sich selbst als Opfer inszeniert. UN-Charta und Völkerrecht, das mühsam errichtete System internationaler Verträge gegen weitere Aufrüstung und Kriegsgefahr werden nicht nur in Syrien mit Füßen getreten; die »Verrohung«, die Wilhelm Heitmeyer im Rahmen der Studien über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit beobachtete, gilt auch für die Politik der USA und der EU. Sie ist verlogen und völkerrechtswidrig, wie Andreas Zumach nach dem Militärschlag der Westmächte gegen Syrien feststellte (https://taz.de/!5495969/).
Unter der Krisenhaftigkeit kapitalistischer Wirtschaftsweise leiden in der ganzen Welt Milliarden Menschen. In der neoliberal radikalisierten Form des Kapitalismus gewinnt die Missachtung der Menschlichkeit eine beschleunigte Eigendynamik, die mit beängstigender Zwangsläufigkeit nicht nur Elend und Ungleichheit, eine »imperiale Lebensweise« (Ulrich Brand und Markus Wissen) und Rassismus erzeugt, sondern einem Krieg zutreibt – zugetrieben wird. Doch während die alten imperialen Mächte USA, Frankreich, England und auch Deutschland in zahlreichen Ländern Krieg führen und den Kalten (?) Krieg gegen Russland forcieren, verharrt ein großer Teil der Bevölkerung in Passivität. Viele Menschen in der EU fügen sich in die scheinbare Zwangsläufigkeit der Eskalation, zumal sie mit der Bewertung des Wahrheitsgehaltes all der Lügen zur Kriegsvorbereitung überfordert sind. Sie fühlen sich ausgeliefert und erleben Politiker und ihre Auftritte als Inszenierung.
Die NATO und die EU rüsten zielstrebig auf; die USA, Großbritannien und Frankreich initiieren und führen Kriege, um einer Bedrohung zu begegnen. Da ihre Glaubwürdigkeit durch all die Kriegslügen erschüttert ist, setzen sie enorme Kapazitäten ein, um die Glaubwürdigkeit derer zu erschüttern, die ihren Interessen und hegemonialen Ansprüchen in die Quere kommen. Die Propagandamaschinerie läuft geradezu überhitzt. Ein vager Verdacht, eine unbewiesene Beschuldigung genügt, um dem gewollten Krieg eine Scheinlegitimation zu geben und alle internationalen Regelungen außer Kraft zu setzen. Schon vor Jahren hat der Chef der Nachrichtenagentur AP enthüllt, dass die US-Administration das Militär in eine globale Propaganda-Maschinerie verwandelt und Druck auf Berichterstatter ausübt. Das US-Militär habe seine Propagandaabteilung gewaltig ausgebaut. »Nichts wird unversucht gelassen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen.« Laut AP-Recherchen verfügte das Pentagon 2009 über 27.000 Personen, die ausschließlich für die Beeinflussung der Öffentlichkeit zuständig waren (Tagesanzeiger, 12.2.2009). Die Ursachen der Kriege müssen dort gesucht und bekämpft werden, wo sich Staat und Wirtschaft zusammentun, um kapitalistische Interessen global durchzusetzen.