Die Tradition der Ostermärsche gibt es in Italien nicht, aber doch noch eine Friedensbewegung, die drei Tage nach dem Außenministertreffen der inzwischen 29 NATO-Staaten in Washington eine internationale Konferenz am 7. April in Florenz organisierte. Ihr Thema: »70 Jahre NATO – welche historische Bilanz? Aus dem Kriegssystem austreten – jetzt!« Am Tag davor hatte es eine Demo in Livorno gegen die US-Basis Camp Darby gegeben, die das größte Waffenarsenal außerhalb des US-Territoriums birgt, inklusive atomgetriebener Kriegsschiffe. Italien gehört wie Deutschland zu den fünf NATO-Ländern, in denen die USA mit der Lagerung von Atomwaffen gegen den internationalen Atomwaffensperrvertrag verstoßen.
Im Kontext der Globalisierung ist die internationale Kriegsgefahr enorm angewachsen, auch wenn sie von der mediengeleiteten Öffentlichkeit nicht angemessen wahrgenommen wird und sich in einer Vielzahl regional begrenzter Konflikte zu erschöpfen scheint. Aufklärung tut not.
Mehr als 600 Teilnehmer aus Europa und den USA waren der Initiative mehrerer italienischer Antikriegskomitees, darunter No Guerra No Nato und Pax Cristi, und der kanadischen Global Research gefolgt und analysierten stundenlang die – in Michail Gorbatschows Grußbotschaft hervorgehobene – zunehmend bedrohlichere militärische Weltlage. Der Direktor des letztgenannten Forschungszentrums, Michel Chossudovsky, Professor für Wirtschaftswissenschaften, eröffnete die Tagung mit der Klarstellung, dass es sich bei der NATO keineswegs um eine Allianz gleichberechtigter Staaten handele, sondern um einen Militärpakt unter US-Dominanz, der die einstige Vorherrschaft der USA über den Westen inzwischen über fast ganz Europa ausgeweitet habe und auch weiter garantieren solle.
Die Kommandostrukturen der NATO sind eng verflochten mit denen der US-Streitkräfte, und der NATO-Oberbefehlshaber in Europa ist immer ein US-General, der NATO-Generalsekretär (derzeit der Norweger Jens Stoltenberg) ein Bürokrat ohne Entscheidungskompetenz. Entsprechend ausgeweitet ist die Anzahl der US/NATO-Militärstützpunkte (allein in Italien sind es mehr als 110), denn die militärische Dominanz soll auch die politische und ökonomische Kontrolle über den Kontinent festigen.
Ein knapper Abriss der NATO-Geschichte zeigt eine erschütternde Bilanz von Verstößen gegen das internationale Völkerrecht; der Angriff auf Jugoslawien 1999 öffnete den Weg für weitere Verbrechen in Afghanistan, Libyen, Syrien und so weiter.
Die Gesamtbedrohung hat zugenommen, seit die einstigen Garantien gegen einen atomaren Erstschlag zur Zeit des Kalten Krieges nach dessen Ende ersetzt worden sind durch eine atomare »first strike«-Option zur vorgeblichen Verteidigung, für die die entsprechenden kleineren Atomwaffen schon entwickelt und positioniert werden, weitere Verbrechen sind damit vorprogrammiert.
Nach der Auflösung des Warschauer Paktes (1991) und der Abrüstung der einstigen Ostblockstaaten, als die Bundesrepublik sich »nur noch von Freunden umzingelt« sah (H. Kohl), rüstete die NATO nicht konsequent ab, sondern erweiterte ihren militärischen Einfluss von den einstigen Achsenmächten Deutschland/Italien im Süden auf den Balkan und im Osten – entgegen voriger Versicherungen – bis an die russische Westgrenze. Dort sind inzwischen vier multinationale Einsatztruppen (in Polen, Estland, Litauen und Lettland) stationiert, die mit Jagdbombern den Luftraum überwachen, darunter auch italienische Eurofighter. (Die italienischen Militärkosten belaufen sich derzeit auf 70 Millionen Euro pro Tag und sollen auf 100 Millionen steigen.)
Die militärischen Manöver, die – wie schon vor 70 Jahren – angeblich »zur Verteidigung Europas gegen einen russischen Angriff« mit inzwischen mehreren Zehntausend alliierten Soldaten durchgeführt werden, sollen sich 2019 auf insgesamt 310 Einsätze zu Wasser, zu Lande und in der Luft steigern! Eine regelrechte Vorbereitung auf hypothetische Kriegsszenarien mit chemischen, biologischen und atomaren Waffen. Man kann nur hoffen, dass dort keiner die Nerven verliert!
In einem Interview mit dem Militärexperten Manlio Dinucci (»Mit der NATO von Welfare zu Warfare«) erhellt Michel Chossudovsky Michel Chossudovsky den engen Zusammenhang zwischen Globalisierung und Krieg: »Die Militarisierung unterstützt das Durchsetzen einer makroökonomischen Restrukturierung der Zielländer. Sie erlegt ihnen Militärausgaben auf, die eine Kriegswirtschaft favorisieren und zu einer zivilwirtschaftlichen Destabilisierung führen, wie auch zu einem Machtverlust der nationalen Institutionen.« (Hier und im folgenden Absatz: zitiert nach il manifesto, 19.4.2019; Übersetzung S. B.-K.)
Während Trump zu Beginn seiner Amtszeit die NATO zunächst als obsolet bezeichnete und das von Obama auf den Weg gebrachte US-Atomprogramm auf 1200 Milliarden Dollar aufstockte, will er nun doch auch von Europa einen Beitrag zur weltweiten sogenannten Friedenssicherung einfordern. Die von der NATO geforderte Erhöhung der Militärausgaben wird in den europäischen Staaten ebenfalls auf Kosten des welfare gehen. Chossudovsky: »Endziel des Ganzen ist die Eroberung sowohl materieller als auch menschlicher Ressourcen sowie der politischen Institutionen der Staaten. Die Kriegsakte dienen dem Prozess der wirtschaftlichen Eroberung. Das Hegemonieprojekt der USA zielt auf die Transformation souveräner Staaten und auch internationaler Institutionen in offene Einflussgebiete für wirtschaftliche Durchdringung. Eines der Instrumente dafür sind massive Auflagen für verschuldete Länder. Die Auferlegung tödlicher makroökonomischer Reformen führt dann zur Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung.« Und damit zu einer weltweiten Destabilisierung, die dann wiederum die Forderung nach mehr Militär für »Sicherheit« nach sich ziehen kann, ein tödlicher Teufelskreis.
Über all das schweigen die Massenmedien im politischen Diskurs vor den Europawahlen. Abgelehnt wird der US/NATO-Pakt, der den Interessen der großen Mehrheit der Europäer widerspricht, von der Partei der Europäischen Linken (siehe auch die Bundestagsrede von Heike Hänsel am 5. April und den Antrag der Linken auf Abzug der US-Truppen und der Atomwaffen aus Deutschland).
Aber das ist ein weiter Weg. Es müsste den Friedensbewegungen in Europa gelingen, aus ihren Nischen heraus- und ins Bewusstsein der Bevölkerung einzutreten, ähnlich zum Beispiel wie die aktuelle Klimabewegung (Greta Thunberg). Beide könn(t)en nur durch radikales Umdenken und gemeinsames Handeln Schlimmeres verhüten. Doch die offizielle Desinformation ist immens, seitdem Kriegführung als Friedenssicherung bezeichnet wird und die Realität auf den Kopf gestellt ist. Damit ist die Schaffung anderer Informationsquellen unabdingbarer Teil des Kampfes geworden und war auch ein Themenschwerpunkt in Florenz.
Die die Konferenz abschließende »Erklärung von Florenz für einen internationalen NATO-Exit« ist einsehbar unter https://www.pressenza.com.
Siehe auch Susanna Böhme-Kubys Artikel: »Italien, ein Flugzeugträger«, Ossietzky 4/07, »Gegen Krieg und NATO«, Ossietzky 10/2015.