Dreizehneinhalb Jahre ist Angela Merkel nun schon unsere Kanzlerin, und in all der Zeit hat sie sich unbeirrt von hohen Werten leiten lassen. Ihr Wertekanon ist festgefügt, durch nichts und niemanden zu erschüttern. Eine kleine Auswahl, die möglicherweise Geduld und Nerven einiger Ossietzky-Leser strapaziert, bietet das Vergnügen, die Redekunst und Sprachgewalt unserer Regierungschefin zu bewundern:
Als diese 2008 mit dem Karlspreis ausgezeichnet wurde, hielt sie eine bewegende Dankesrede, in der sie »unsere gemeinsame Wertegrundlage« darlegte: »Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Seine Würde ist unantastbar. Daraus leiten sich zentrale Werte ab, die Europa im Kern zusammenhalten. So setzen wir uns gemeinsam für Frieden und Freiheit, für Solidarität und Toleranz, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Wir Europäerinnen und Europäer wissen um unsere Verantwortung für die Schöpfung. Wir wissen auch um unsere soziale Verantwortung – im Innern unserer Gesellschaften, aber auch im Umgang mit anderen. Wenn wir uns unserer gemeinsamen Werte bewusst sind, dann haben wir einen verlässlichen Kompass für unser Handeln in Politik und Gesellschaft.« Ach, hat sie das schön gesagt. Ja, in diesem Europa möchte man leben.
Im darauffolgenden Jahr trat sie auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos auf und bekannte, dass sie nicht für Kapitalismus und schon gar nicht für Sozialismus sei. In ihrer Rede unterstrich sie, dass die soziale Marktwirtschaft, die Deutschland nach dem Krieg Wohlstand gebracht habe, der dritte Weg zwischen Kapitalismus und Staatswirtschaft sei. »Der Staat ist der Hüter der sozialen Ordnung, aber Wettbewerb braucht Augenmaß und soziale Verantwortung.«
Nichts liegt Frau Merkel so am Herzen wie die »soziale Marktwirtschaft«. So nimmt es nicht Wunder, dass es ihr ein Herzensbedürfnis war, Mitte 2018 auf der Festveranstaltung »70 Jahre Soziale Marktwirtschaft« aufzutreten und zu unterstreichen: »Es geht um Chancengerechtigkeit, die auf den Einzelnen abstellt und nicht auf das Kollektiv. Sie soll jedem die Möglichkeit geben, sich in gleicher Freiheit nach jeweiligen Neigungen und Fähigkeiten entfalten zu können – eigenverantwortlich, aber eben auch immer verantwortlich gegenüber anderen. Die Orientierung an diesen Werten – an Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – macht in der Summe uns als Gemeinschaft und als Land stark.«
Für welche Werte die Noch-Kanzlerin eintritt, machte sie im November 2016 in ihrem Pressestatement im Bundeskanzleramt zur Wahl Trumps deutlich, in dem sie unter anderem feststellte »Deutschland und Amerika sind durch Werte verbunden: Demokratie, Freiheit, Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung. Auf der Basis dieser Werte biete ich dem künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, eine enge Zusammenarbeit an.« Da wird der Donald sich gewaltig gefreut und sich flugs ans Werk gemacht haben, die Zusammenarbeit mit den Rüstungsausgabensäumigen nicht allzu eng werden zu lassen.
Um Werte ging es der Kanzlerin auch in ihrer Neujahrsansprache 2018. Die Bundesbürgerinnen und -bürger waren überaus glücklich und zugleich gerührt, als sie diese Worte hörten: »Mit unserer Arbeit für gleichwertige Lebensverhältnisse wollen wir erreichen, dass jede und jeder einen guten Zugang zu Bildung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung hat … Dabei ringen wir um die besten Lösungen in der Sache. Immer häufiger aber auch um den Stil unseres Miteinanders, um unsere Werte: Offenheit, Toleranz und Respekt.«
Macht man sich die Mühe, in dem Werterepertoire Merkels die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu suchen, dann wird man selten fündig. Eine der wenigen Ausnahmen war ihre Rede auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen CDU im April 2017, in der sie den damaligen SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz scharf angriff: »Die Sozialdemokraten sind in der Vergangenheit verhangen. Sie reden über Gerechtigkeit, aber vergessen, dass Gerechtigkeit ohne Innovation nicht klappt. Gerechtigkeit und Innovation muss es heißen.« Ein wenig sybillinisch ist diese Aussage allerdings.
Aber gut, schließlich fanden die Schwarzen und die Blassroten doch zusammen, wenn auch ohne Schulz, und in ihrem Koalitionsvertrag wird »soziale Gerechtigkeit« wohl einen zentralen Platz einnehmen. Weit gefehlt! Der Begriff taucht zum ersten und damit auch zum letzten Mal in Zeile 7218 auf. Hier formulierten die Koalitionspartner ihre außenpolitischen Ziele gegenüber Lateinamerika. Dazu heißt es: »Neben Handelsfragen sind für uns Klimapolitik, Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, eine faire Globalisierung sowie Sicherheit und Frieden zentrale Punkte unserer Kooperation.« Endlich geht es den Regierungsparteien einmal um soziale Gerechtigkeit, wenn auch nur auf einem fernen Kontinent.
Aber warum sollte die Kanzlerin in ihren vielen Reden für soziale Gerechtigkeit eintreten, warum sollten im Koalitionsvertrag, also im Regierungsprogramm, entsprechende Maßnahmen vorgesehen sein? In der Bundesrepublik Deutschland ist doch gerade auf diesem Gebiet alles in bester Ordnung. Selbstverständlich gibt es hier und da noch kleine Mängel, aber insgesamt sind die sozialen Errungenschaften unbestreitbar.
So erhalten alle alten Menschen Rente, wenn auch nicht in gleicher Höhe. Nahezu jeder zweite Altersrentner, also rund 8,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, erhält monatlich weniger als 800 Euro. Das entspricht einem Anteil von 48 Prozent aller Rentner. Gut 11,3 Millionen oder 62 Prozent der Rentner erhalten weniger als 1000 Euro. Aber wer ein Leben lang fleißig war, muss im Alter nicht darben. Das ist am Beispiel des Daimler-Chefs Dieter Zetsche gut zu sehen. Der fleißige Mann geht im Mai in Rente. Er wird jährlich mindestens 1,05 Millionen Euro Ruhegehalt beziehen. Da er als Führungskraft der Daimler AG Anspruch auf angesammelte jährliche Kapitalbausteine hat, wird Herr Zetsche eine zusätzliche jährliche Rente von circa 500.000 Euro erhalten. Falls er darauf nicht verzichtet, was allerdings nicht zu erwarten ist, erhält er summa summarum eine tägliche Rente von rund 4250 Euro. Wenn der Daimler-Chef kein leuchtendes Vorbild für alle deutschen Arbeitnehmer ist, wer dann?
Auch das Eigentum ist im bundesdeutschen Heimatland recht unterschiedlich verteilt. Während die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung laut dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade einmal auf ein Prozent. Nach EU-Maßstäben sind 13,4 Millionen Menschen von Armut betroffen oder bedroht. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung besitzen die reichsten 45 Familien mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Es bewahrheitet sich die alte deutsche Volksweisheit: »Sich regen, bringt Segen.«
Ja, der Kapitalismus sorgt ganz automatisch für soziale Verhältnisse. So ist es einfach nicht nötig, dass die Kanzlerin die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in ihren Wertekatalog aufnimmt. Was bereits schönste Lebensrealität ist, das muss niemand fordern, auch nicht unsere Noch-Regierungschefin.