Richtig – aus der ersten durch den »Ägyptischen Frühling« ermöglichten Wahl gingen die Muslimbrüder mit Mohamed Mursi an der Spitze als stärkste Kraft hervor. Viele Europäer verstehen diesen Sieg noch immer als Triumph der Demokratie, der durch Eingreifen des Militärs unter Abelfattah al-Sisi dann verspielt worden sei. Schon lange heißt es, dass al-Sisi Ägypten wieder zur Diktatur mache. Und die jüngste Verfassungsänderung, die ihm mehr Macht und die Möglichkeit gibt, noch mehrfach für das Präsidentenamt zu kandidieren und es bis 2030 innehaben zu können, ist tatsächlich ein bedenkliches Signal in Richtung Autoritarismus. Und doch verbirgt sich hinter dieser, die deutschen Medien dominierenden Auffassung eine durch schematisch-unhistorische Maßstäbe geprägte Begrifflichkeit von Demokratie und Diktatur. Dass unter Mursi die Opposition keineswegs mit Samthandschuhen angefasst, bereits bestehende Frauen- und Minderheitenrechte – also wichtige Kernelemente der Demokratie – geschleift wurden und ein ganzer Katalog ziviler Freiheitsrechte zur Disposition gestellt war, bleibt unterbewertet. Ebenso unterbewertet bleibt, dass al-Sisis Regime bereits mehrfach durch Wahlen bestätigt wurde wie auch jetzt die Verfassungsänderungen zur möglichen Verlängerung seiner Amtszeit. Da wird von »gelenkten Wahlen« gesprochen. Beweise aber fehlen für Manipulationen, und auch hiesige Medien können fast nur Bürgerstimmen vorführen, die positiv zur Regierung al-Sisis stehen. So bedenklich die aktuellen Verfassungsänderungen sind, der Aufstand von 2011 hat gezeigt, dass die Ägypter durchaus erneut in der Lage sein werden, sich eines Regimes zu entledigen, wenn es ihnen unerträglich geworden ist.
Obwohl sich die Muslimbrüder seit Jahrzehnten besonders durch soziale Werke bei den Unterprivilegierten Vertrauen erworben hatten, wissen Kenner des Landes, dass auch in diesen Schichten ein im Vergleich zu anderen nordafrikanischen Staaten hohes Toleranzpotential à la »leben und leben lassen« existiert, das sich nicht ohne weiteres in ein islamistisches Regelwerk pressen lässt. Daraus erklärt sich der rasche Stimmungswandel schon während Mursis Präsidentschaft. Wie hat sich dieses Toleranzpotential historisch entwickelt? Bis Islamisten – schon lange vor Mursis Präsidentschaft – den Hass auf die zehn Prozent christlicher Bevölkerung schürten, war zum Beispiel die religiöse Koexistenz nicht gefährdet. Die achtungsvollen Umgangsformen, die die Ägypter untereinander pflegen, erkläre ich mir aus dem schon lange währenden gedrängten Zusammenleben in der schmalen Vegetationszone um die Nilufer.
Dass auch ein Großteil der Unterprivilegierten der fortschrittlichen Verfassung, die das Al-Sisi-Regime zur Abstimmung brachte, gewogener war als einer Fortsetzung des Mursi-Regimes, einigt sie mit den Mittelklassen, den eigentlichen Trägern des »Ägyptischen Frühlings« 2011. Die auch weiterhin vorhandenen islamistischen Gruppierungen wollen sich damit selbstverständlich nicht abfinden. Dass daraus ein politischer Kampf erwächst, der von der Regierung zu führen ist, müsste nachvollziehbar sein. Dass er nicht immer mit menschenrechtskonformen Mitteln geführt wird, ist bedauerlich und sollte vom Ausland her beobachtet und kritisiert werden. Eine oberflächliche Begrifflichkeit, die Islamisten zu Demokraten stilisiert und al-Sisi zum abzulehnenden Diktator, führt jedoch leicht zur Negation der dringlichen Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung.
Das Beispiel Ägyptens, wo die Armenpflege weitgehend durch das Charity-System der Muslimbrüder wahrgenommen wird, macht deutlich, wie wichtig es wäre, mit Hilfe eines effektiven Steuersystems einen effektiven Sozialstaat zu errichten. Wenn aber Ägypten mit dem imposanten Aufstand 2011 letztlich nur eine politische Pirouette gedreht hat und das Land wieder da zu stehen scheint, wo es zu Mubaraks Zeiten stand, ist dies in erster Linie der gegenwärtigen neoliberalen Weltwirtschaftsordnung geschuldet, die den Sozialstaat weltweit zu verhindern versucht. Das Land gehörte mit der unter Sadat eingeleiteten »Infitah« – der Marktöffnung nach Westen – zu den ersten Entwicklungsländern, die die eigene Industrialisierung abbrachen und sich beim Internationalen Währungsfonds und bei der Weltbank um Kredite für Importe bemühten. Das Ergebnis ist eine hoffnungslose Abhängigkeit von ausländischem Geld, die längst nicht mehr nur gegenüber dem Westen besteht, sondern vor allem gegenüber der arabischen Halbinsel. Um die Gunst ägyptischer Regierungen konkurrieren Katar, das die Muslimbrüder unterstützt, und Saudi-Arabien, das al-Sisi unterstützt. Dieser sah sich dadurch genötigt, in begrenztem Umfang am schmutzigen Jemen-Krieg teilzunehmen, was freilich auch viele andere tun. Es sollte jedoch ein gewichtiger Grund sein, Waffenexporte nach Ägypten einer strengen Kontrolle zu unterziehen. Jedoch werden Appelle zur Einhaltung von Menschenrechten nur begrenzte Ergebnisse zeitigen, solange Ägypten aus der Endlosschleife politischer und materieller Abhängigkeiten nicht ausbrechen kann. Deshalb sollten europäische Linke nicht nur entschiedener für Menschenrechte kämpfen, sondern auch für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Die wird gerade auch von der EU eher torpediert, denn sie hat die meisten afrikanischen Länder, darunter auch Ägypten, zu Freihandelsabkommen gedrängt, die in den nächsten Jahren eine noch größere Flut europäischer Waren über den Kontinent spülen und weitere Arbeitsplätze vernichten werden. Was erneut Flüchtlingsbewegungen hervorrufen wird.
Auch im Nachbarland Libyen hatten unter dem Einfluss Katars stehende Islamisten die erste Wahl nach dem Sturz Muhammar Gaddafis gewonnen. Aber die eher einem toleranten Sufi-Islam verbundenen Libyer haben sich in späteren Wahlen ebenfalls wieder gegen sie entschieden. Das verhinderte nicht, dass schwer bewaffnete islamistische Gruppen einen großen Teil des Landes, insbesondere den Großraum Tripolis und den Süden, unter ihre Gewalt brachten und – ähnlich wie Mursi in Ägypten – bereits bestehende Frauenrechte abschafften. Eine nicht durch Wahlen legitimierte, sondern 2015 von der UNO eingesetzte provisorische »Einheitsregierung« unter Fajez al-Sarradsch, die von europäischen Medien als »international anerkannt« tituliert wurde, erwies sich als unfähig, die Milizen zu kontrollieren und das Alltagsleben der Normalbürger wieder herzustellen. Obwohl die Ausfuhr von Erdöl weiter florierte und Tripolis der Zugang zu ausländischen Guthaben des Gaddafi-Regimes gestattet war, herrscht chronische Benzinknappheit, und es ist auch nicht gelungen, das Bankenwesen soweit wieder flott zu machen, dass die Bürger nach Bedarf an ihr Geld kommen. Weil die Milizen die Hauptstadt in Einflusssphären aufgeteilt haben und auch untereinander konkurrieren, konnte al-Sarradschs Sicherheit nur gewährleistet werden, indem er von einem Schiff im Hafen von Tripolis aus zu regieren versucht.
Dass die UNO nach dem von ihr fahrlässig zugelassenen Aggressionskrieg, der zum Sturz Gaddafis führte, zunächst keine anderen Lösungen ansteuern konnte, ist nachvollziehbar. Dass sie diese Farce jedoch à la longue leistete, zeigt, wie fahrlässig sie mittlerweile lahmt.
Jetzt sind viele westliche Medien plötzlich aufgeschreckt, weil der die Cyrenaika ordnungspolitisch beherrschende Chelifa Haftar eine »Libysche Nationalarmee« anführt, die entschlossen gegen Islamisten vorgegangen ist, Anfang des Jahres auch weite Teile des Fezzan von terroristischen Banden aus dem Tschad befreit und die bittere Not leidenden Südgebiete sofort mit Lebensmitteln und Geldern der Nationalbankfiliale von Benghazi versorgt hat. Jetzt steht Haftar vor den Toren der Hauptstadt – was die Medien dazu bringt, vor einem neuen Diktator à la Gaddafi zu warnen. Und dieselben Medien, die das Ende von dessen Regime unter Einsatz höchster militärischer Gewalt eifrig befürwortet hatten, verbreiten jetzt, dass das libysche Problem nicht mit Waffen, sondern nur durch Wahlen gelöst werden könne. Zu deren baldiger Abhaltung sich Haftar übrigens immer bekannt hat.
Es geht hier aber nicht darum, diesen Militär zu idealisieren. Nachdem er unter Gaddafi Landesverrat begangen hatte, war er in den Dienst der CIA getreten und 2011 am Putsch beteiligt, dann erster Verteidigungsminister. Entlassen wurde er, weil er für eine konsequente Auflösung islamistischer Milizen eintrat, bevor deren Mitglieder in eine neu gebildete Armee übernommen werden könnten – eine Praxis, die er selbst im Osten des Landes erfolgreich angewandt hat. Momentan repräsentiert er die einzige realistische Hoffnung der libyschen Bürger, wieder zu einer einigermaßen funktionierenden Staatlichkeit zu kommen. Das wäre auch die Voraussetzung, um für die unter unmenschlichen Bedingungen in Libyen festgehaltenen afrikanischen Flüchtlinge Lösungswege zu finden.
Dass Ägypten an der Stabilisierung des Nachbarstaates großes Interesse hat und zu den Unterstützern Haftars gehört, wundert nicht. Europa ist hier gespalten. Deutschland und Großbritannien unterstützen die »international anerkannte Regierung«, während Frankreich, das führend an der Beseitigung Gaddafis beteiligt war, seit Jahren Haftar sogar militärisch hilft.
Dass tausende Menschen aus den Gebieten fliehen müssen, die zum Schlachtfeld zwischen dessen Truppen und den Milizen Sarradschs geworden sind, hätten die UNO und die Europäer verhindern können, wenn sie nicht zu lange ein Gebilde zum demokratischen Embryo erklärt hätten, das alle Merkmale eines failed state trägt.
Am 18. April scheiterte eine von England in den UNO-Sicherheitsrat eingebrachte Resolution, die Haftar einseitig für die entstandene Situation verurteilte am Veto Russlands und – der USA. Donald Trump hatte die Seiten gewechselt.