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Fünf Tage Venezuela  (Natalie Benelli)

11. April Caracas: Ich nehme an einer internationalen Solidaritätsmission des Weltfriedensrates in Venezuela teil. Die Schweizer Delegation, der ich angehöre, besteht aus vier Personen, die folgende Organisationen vertreten: ALBA Suiza, Vereinigung Schweiz-Cuba, Schweizerische Friedensbewegung, Partei der Arbeit und Jeunes POP. Auf dem Flughafen empfangen uns junge Mitstreiter des Comité de Solidaridad Internacional Venezuela (COSI) und der Jugendsektion der Kommunistischen Partei Venezuelas. Wir und weitere Delegierte aus anderen Ländern werden mit dem Reisebus nach Caracas in unsere Hotels gebracht.

 

Unterwegs fallen mir vor allem zwei Dinge auf: Einerseits die unzähligen, meist farbigen Backsteinhäuschen, die an den Hängen der Hügel rund um Caracas kleben. Andererseits die Überbauungen mit riesigen Gebäuden der Mision Vivienda, Venezuelas Sozialwohnungsprogramm, begonnen unter Hugo Chávez. Die meisten dieser Gebäude sind mit einem großen roten V gekennzeichnet, einige ziert Chávez‘ Antlitz. Venezuela hat unter der Bolivarischen Regierung bereits über 2,5 Millionen Sozialwohnungen gebaut und an armutsbetroffene Familien verteilt. Die Wohnungen gehen kostenlos in das Eigentum der BewohnerInnen über, die dann nur Strom und Wasser zahlen müssen. Für die Betroffenen bedeutet das eine enorme Steigerung der Lebensqualität im Vergleich zum »Leben« in den früheren Elendsvierteln, den »barrios«, in denen es kein Wasser, keine Toiletten/Kanalisation gibt und deren Behausungswände aus Karton bestehen, so dass man die Nachbarn nachts atmen hören kann – eindrücklich beschrieben in Charlie Hardys Buch »Cowboy in Caracas«. Hardy zeigt auf, dass Venezuela für den Großteil der Bevölkerung vor Chávez kein »florierendes Land« war, wie das die Konzernmedien bei uns gern behaupten.

 

Was mir auch auffällt: Rund um das Gebiet des Flughafens sind Angehörige der Bolivarischen Streitkräfte in Zweierteams postiert. Der Flughafen gilt sicher als mögliches Ziel für Anschläge und Sabotageakte. Allerdings erhalte ich nicht den Eindruck von hoher Alarmbereitschaft. Die Militärs wirken gelassen und sogar etwas einsam auf ihren spärlichen Posten. Am Flughafen selber gab es eine auffällige Präsenz von Angehörigen der Bolivarischen Polizei, aber auch die wirkten zugänglicher als die bis zu den Zähnen bewaffneten Militärs, die seit ein paar Jahren zum Alltag europäischer Bahnhöfe und Flughäfen gehören.

 

Der Verkehr nimmt zu, je mehr wir uns der Hauptstadt nähern. In der Gegend der beiden Hotels (Hotel Alba – das ehemalige Hilton, das heute verstaatlicht ist – und Hotel Meliá) wird er chaotisch – eine lebendige Großstadt. Die Menschen gehen ihren Alltagsgeschäften nach. Vom Auto aus sehen wir die kleinen Läden am Straßenrand. Das Angebot ist nicht riesig, zum Teil sind die Geschäfte geschlossen, die Fassaden der Häuser abgewetzt. Aber wir sehen Bäckereien mit Broten, Metzgereien mit Fleischwaren, Stände mit Bananen und anderen Früchten sowie Gemüse. Der Alltag ist aufgrund der Sanktionen sicher nicht einfach, aber von einer »humanitären Krise« kann keine Rede sein. Die Elektrizität ist zumindest hier im Gebiet um das Hotel Meliá zu 100 Prozent wiederhergestellt. Das Internet im Hotel funktioniert einwandfrei.

 

Präsident Trump spricht davon, dass im Falle von Venezuela alle Optionen auf dem Tisch seien, inklusive einer militärischen. Wie Venezuelas Außenminister Jorge Arreaza richtig bemerkt, gibt es für Trump aber vor allem eine Option nicht: den Dialog und eine friedliche Lösung der Konflikte mit der Opposition. Der selbsternannte Präsident Guaidó ruft explizit nach einer Militärintervention in seinem Land – also gegen das Volk. Die US-Regierung und ihre Marionette Guaidó werden nicht davor zurückschrecken, den Tod vieler Menschen in Kauf zu nehmen, um das politische Projekt der Bolivarischen Revolution zu zerstören.

 

12. April Caracas: Heute nahmen wir zunächst an einer »ofrenda floral« an der Statue Simón Bolívars auf der Plaza Bolívar teil. Bolívar ist der venezolanische Nationalheld, der im 19. Jahrhundert für ein vereintes Lateinamerika – La Patria Grande – zur Befreiung Lateinamerikas von der spanischen Kolonialherrschaft kämpfte. Ihm zu Ehren heißt Venezuela heute »Bolivarische Republik Venezuela«. Bolívar konnte seinen Traum nicht verwirklichen, heute findet der gleiche Kampf statt, aber gegen die US-Vorherrschaft in Lateinamerika. Venezuela ringt um nationale Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Entgegen dem, was unsere Medien schreiben, stehen die meisten Menschen hier hinter der Bolivarischen Revolution und Präsident Nicolás Maduro. Und sie sind bereit, die Errungenschaften der letzten 20 Jahre zu verteidigen. Das sieht man auch auf der Plaza Bolívar. Eine Bühne ist dort fest installiert. Es finden regelmäßig Darbietungen und Podiumsdiskussionen statt. Die Plaza Bolívar – wie auch andere wichtige Plätze der Stadt – wird so physisch und politisch Tag und Nacht von den Anhängern des Bolivarischen Prozesses, den Chavistas, »besetzt«. Die in einem kleinen Zelt untergebrachte »esquina caliente« – die »heiße Ecke« – ist seit dem gescheiterten Putschversuch gegen Chávez im Jahr 2002 Tag und Nacht belegt, um mit der Besetzung des öffentlichen Raums zu verhindern, dass er von der Opposition eingenommen wird.

 

»Das Volk«, das ist in erster Linie die armutsbetroffene Bevölkerung, deren Lebensbedingungen sich dank der unter Chávez und Maduro eingeführten So-zialprogramme, den »misiones« – kostenlose Gesundheitsversorgung, kostenlose Bildung, günstiger Wohnraum, günstige Lebensmittel, kostenloser öffentlicher Verkehr –, massiv verbessert haben. Die Bevölkerung verteidigt diese Errungenschaften. In Venezuela sind die während Jahrzehnten marginalisierten und diskriminierten, ökonomisch ausgebeuteten Werktätigen zum politischen Subjekt geworden – eine Ungeheuerlichkeit für die lokalen und internationalen Eliten.

 

Am späteren Nachmittag findet in einem großen Festzelt auf der Plaza Bicentenario ein Treffen von Präsident Maduro mit Delegierten des Weltbundes der Demokratischen Jugend und des Weltfriedensrates statt. Hunderte vor allem junge Leute füllen das Zelt. Wir sind als Gäste eingeladen. Die Föderation Venezolanischer UniversitätsstudentInnen markiert lautstark Präsenz. Dadurch, dass mit dem Bolivarischen Prozess der Zugang zur Bildung bis hin zu den Universitäten kostenlos wurde, haben heute auch Menschen aus den ärmeren sozialen Schichten Zugang zu Schulbildung und Studium. 2004 erklärte die UNESCO Venezuela frei von Analphabetismus – eine Revolution, nachdem Millionen Menschen bis in die späten 1990er Jahre hier nicht lesen und schreiben konnten. Auch hier gilt: Der Großteil der Bevölkerung weiß sehr wohl, was er zu verlieren hat, sollte die Opposition wieder an die Macht kommen.

 

Während des Treffens mit Präsident Maduro verlesen der Präsident des Weltbundes der Demokratischen Jugend (aus Zypern) und die Präsidentin des Weltfriedensrates (eine Brasilianerin) Solidaritätsbotschaften. In seiner Rede verkündet Präsident Maduro offiziell die Übergabe der 2,6-millionsten Wohnung an eine venezolanische Familie, die vorher 25 Jahre lang bei der Mutter der Frau gelebt hatte, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten konnte. Bis Ende Dezember 2019 sollen drei Millionen Wohnungen übergeben werden, bis 2025 fünf Millionen.

 

13. April Caracas: Heute fand der offizielle Festakt der 2. Internationalen Solidaritätsmission mit Venezuela des Weltbundes der Demokratischen Jugend und des Weltfriedensrates statt. 87 Delegierte von 65 Organisationen aus 45 Ländern kamen nach Caracas, um dem venezolanischen Volk ihre Solidarität auszudrücken. In ihren Erklärungen verurteilten die Delegierten die anhaltenden politischen, wirtschaftlichen und medialen Angriffe und die Finanz- und Wirtschaftsblockade der US-Regierung, ihrer europäischen Alliierten und der rechten Regierungen Lateinamerikas gegen Venezuela. Diese verstoßen mit ihren Angriffen gegen die Charta der Vereinten Nationen und das Völkerrecht. Die Schweizer Delegation verurteilte vor allem die Schweizer Regierung, die sich den Sanktionen gegen Venezuela angeschlossen hat und damit gegen die traditionelle Politik der Neutralität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates verstößt. Durch die Sanktionen verliert Venezuela nicht nur täglich Millionen Dollar an Einnahmen. Das Land wird auch daran gehindert, Medikamente, Lebensmittel und andere Güter zu importieren, da die US-dominierten Banken und Finanzinstitute sich weigern, Geldzahlungen aus Venezuela zu überweisen. Die Schweizer Großbank UBS verweigert zum Beispiel dem Personal der venezolanischen Botschaft in Bern die Auszahlung des Lohnes mit der Begründung, Venezuela sei ein »sanktioniertes Land«. Das staatliche Ölförderunternehmen PDVSA, dessen Infrastruktur zu einem Großteil aus Maschinen und Zubehör der US-Firma Caterpillar und der deutschen Firma Siemens besteht, erhält seit Jahren kaum mehr Ersatzteile für seine Anlagen. Die bei ausländischen Banken deponierten Goldbestände Venezuelas und die Einnahmen der venezolanischen Tochtergesellschaft Citgo, die in den USA Tankstellen betreibt, sind blockiert. Der ehemalige Unabhängige Experte des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung, Alfred de Zayas, hebt in seinem Lagebericht zu den Menschenrechten in Venezuela von August 2018 deutlich hervor, dass die wirtschaftlichen Probleme des Landes in erster Linie eine Folge der Sanktionen sind – womit die Sanktionen genau das Ziel erfüllen, das Sanktionen erfüllen sollen, nämlich: ein Volk auszuhungern und es so gegen die eigene Regierung aufzubringen, um dann mit dem Argument der »humanitären Krise« eine US-geführte militärische Intervention im Land zu legitimieren.

 

Jetzt, am späten Nachmittag, findet ein Akt zum 70-jährigen Bestehen des Weltfriedensrates statt. Die Gründung des Weltfriedensrats im April 1949 in Paris war eine Antwort auf die NATO-Gründung. Der Präsident des venezolanischen Friedenskomitees COSI, Carolus Wimmer, bedankt sich bei den Delegierten für ihre Solidarität und Unterstützung. Vor zwei Tagen, am 11. April, verkündete der Chef des US-Südkommandos, Craig S. Faller, seine Streitkräfte seien für eine militärische Intervention in Venezuela bereit. Wimmer betont die Wichtigkeit, angesichts der realen Bedrohung und der konstanten Desinformation durch die westlichen Massenmedien klar Position für Venezuela zu beziehen. Venezuela hat die weltweit größten bekannten Öl- und Goldreserven. Das Land verfügt über wichtige Rohstoffe wie Coltan, Bauxit, Eisenerze und hat eine der größten Süßwasserreserven weltweit. Das weckt Begehrlichkeiten.

 

14. April Caracas: Im Hotel Meliá war heute Morgen die Sonntagsausgabe von El Universal, einer der größten Oppositionszeitungen, erhältlich. Der Großteil der Medien hier – Zeitungen, Fernsehen, Radio – gehört privaten Unternehmen. Die Regierung hat keinen Einfluss darauf, was sie publizieren. Wenn unsere Medien behaupten, in Venezuela gebe es keine Pressefreiheit, lügen sie. Zensur ist aufgrund der Besitzverhältnisse in der Medienlandschaft nicht möglich. Ein Problem, das Zeitungen aller politischer Ausrichtungen haben: Wegen der Sanktionen fehlt es an Papier, um überhaupt Zeitungen zu drucken.

 

Am Nachmittag besuchen wir die Gran Base de Misiones de Paz Catia (GBMP) in Caracas. Die GBMP sind soziokulturelle Quartierzentren und Zentralen der Regierungsinitiative »movimiento por la paz y la vida« (Bewegung für Frieden und für das Leben), deren Ziel es ist, armutsbetroffenen Jugendlichen eine Alternative zur (Klein-)Kriminalität zu bieten. Obwohl Armut in den letzten 20 Jahren stark reduziert werden konnte, sind Kleinkriminalität und Banden nach wie vor verbreitet. Durch die internationalen Sanktionen wird die wirtschaftliche Situation zudem (gewollt) wieder verschärft. In der GBMP »Catia« gibt es auf fünf Stockwerken ein breites Angebot für sportliche Aktivitäten: Boxen, Fechten, Basketball, Tischtennis, Kraft- und Fitnessraum. Dazu Marktstände, an denen Handwerk verkauft wird, und ein Raum zur Schwangerenbetreuung. Auch SeniorInnen trifft man hier im Stadtteilzentrum an, zum Beispiel beim Dominospielen. Im Erdgeschoss befindet sich ein Kinderspielplatz, im ersten Stock ein Konferenzraum. Die geschlossenen Räume sind klimatisiert, im Erdgeschoss und im obersten Stock zirkuliert eine angenehme Brise. Kinder aus dem Quartier erhalten in der GBMP zu essen. In der Mensa werden dreimal täglich 250 Essen serviert. Alles ist sauber und in gutem Zustand – und kostenlos. Eine lokale Radiostation sendet direkt aus der GBMP ins Quartier.

 

Auf der Fahrt zum »Cuartel de la montaña 4F«, der letzten Ruhestätte von Hugo Chávez, kommen wir an einem Baseballstadion vorbei, in dem Kinder trainieren und spielen. So sieht keine humanitäre Krise aus.

15. April Caracas: Wir besuchen die staatliche Elektrizitätsgesellschaft CORPOELEC in Chacao, die für die Verteilung der Elektrizität im Großraum Caracas zuständig ist. Wegen der Osterwoche – semana santa – ist kaum jemand am Arbeiten, die meisten ArbeiterInnen sind heute auf dem Gelände, um ihre »caja CLAP« abzuholen – dazu später mehr. Wir erhalten eine Führung durch die Abteilung, die für die Stromzähler zuständig ist. Es sind verschiedene Modelle im Umlauf, darunter chinesische, argentinische, brasilianische Modelle sowie Stromzähler der Schweizer Firma Landis & Gyr. Im Moment werden vor allem neue Zähler an KundInnen abgegeben, da aufgrund der Sanktionen Ersatzteile, aber auch Werkzeuge, Reinigungsmittel und Farbe fehlen, um die alten zu reparieren. Am 7. März und den darauffolgenden Tagen wurde das Stromnetz in Venezuela sabotiert, große Teile von Caracas waren einige Tage ohne Strom. Ohne Strom zu sein, das heißt: kein Licht, die Pumpen fördern kein Trinkwasser, es gibt keine Möglichkeit, Kreditkarten zu benutzen, Geld abzuheben, Nachrichten zu sehen, Kommunikationstechnologie zu nutzen, Spitäler und Produktionsstätten können nicht betrieben werden et cetera.

 

Die Belegschaft der CORPOELEC in Chacao arbeitete pausenlos, so dass die Elektrizität nach fünf Tagen wieder zur Verfügung stand. Die Bevölkerung verhielt sich besonnen, es gab kein Chaos, keine Plünderungen, keine Gewaltaktionen, die es Guaidó ermöglicht hätten, sich als Retter der Nation aufzuspielen und die demokratisch gewählte Regierung abzusetzen. Dafür nutzte die organisierte Belegschaft der CORPOELEC die außergewöhnliche Situation, um die Mensa des Geländes in die eigenen Hände zu nehmen und von nun an in Selbstverwaltung zu betreiben. Während unseres Besuchs wurde in der Küche Hühnerfleisch verarbeitet, Gemüse geschnitten und Fladenbrot aus Maismehl – arepas – hergestellt. In den Räumlichkeiten der Mensa werden Vorträge zu Themen wie dem Sabotageakt gegen das Stromnetz, aber auch Geopolitik und Wirtschaft organisiert. In einem Treffen mit Mitgliedern der sozialistischen bolivarischen Arbeiterzentrale erfahren wir, dass Outsourcing, also die Vergabe von Arbeiten an Subunternehmen, die immer mit einer Spaltung der Belegschaft und einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und den Löhnen einhergehen, in Venezuela gesetzlich verboten sind.

 

Zurück zu den »cajas CLAP« – den CLAP-Kisten. CLAP ist ein von der Regierung initiiertes Lebensmittelversorgungssystem, das die Verteilung von subventionierten Lebensmitteln einmal im Monat (manchmal sogar alle zwei Wochen) gegen einen sehr niedrigen Preis an die Bevölkerung garantiert. Zurzeit werden rund sechs Millionen Familien in Venezuela – so gut wie die ganze Bevölkerung von 30 Millionen Personen – über dieses System mit Grundlebensmitteln wie Reis, Pasta, Öl, Linsen, Mehl, Zucker, Thunfischkonserven et cetera versorgt – unabhängig ihrer politischen Ausrichtung und ihrer finanziellen Situation. Die Lebensmittel werden hauptsächlich über zwei Wege verteilt: Die »CLAP obrero« werden den Werktätigen an ihren Arbeitsstellen übergeben. Die »CLAP comunas« werden in den Stadtteilen von der organisierten Bevölkerung verteilt. Die Ausgabe an die Familien erfolgt anhand von Listen, für die Logistik werden hier unter anderem die Quartierszentren genutzt. Die Bezahlung – rund 510 Bolivar bei einem aktuellen Mindestlohn von 18.000 Bolivar im Monat – erfolgt im Voraus. Die Bevölkerung ist in den Prozess eingebunden, sie macht ihn überhaupt möglich. Aufgaben werden an Verantwortliche verteilt, die dafür sorgen, dass alle Familien ihre Lebensmittel erhalten. Während der Anschläge auf die Stromversorgung im März wurde das System CLAP dazu benutzt, die Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen. Die Regierung schickte Zisternenwagen in die Quartiere, die Bevölkerung organisierte und sicherte die Verteilung des Trinkwassers an die Menschen vor Ort.

 

Die Lebensmittel für die CLAP-Kisten werden vor allem aus Mexiko importiert und zum Teil illegal nach Kolumbien und Brasilien geschmuggelt, um dort zu den üblichen Marktpreisen verkauft zu werden. Seit die Regierung Präsident Maduros Ende Februar die Grenzen zu Kolumbien und Brasilien schließen ließ, konnte die Preisinflation in Venezuela eingedämmt werden. Allerdings haben sich die Lebensbedingungen für die Grenzbevölkerung in den Ortschaften auf der kolumbianischen und brasilianischen Seite mit der Grenzschließung massiv verschärft, da diese Ortschaften großenteils von den illegalen Lebensmittel- und Benzin-»Importen« aus Venezuela abhängig sind. Die wahre »humanitäre Krise« besteht in den Grenzstätten in Kolumbien und Brasilien.

 

Zum Abschluss unserer Reise besuchen wir das Projekt Amatina, ein Beispiel für die Selbstverwaltung der Bevölkerung: Amatina ist ein Wohnkomplex auf einem enteigneten Stück Land des privaten Großunternehmen Polar, ein Lebensmittelgroßhändler, der einen Großteil der Lebensmittelimporte und -verteilung in Venezuela kontrolliert und aktiv an der künstlichen Verknappung von Lebensmitteln beteiligt ist. Amatina wird seit 2013 mithilfe der finanziellen Unterstützung der Regierung im Rahmen der Gran Mision Vivienda von den BewohnerInnen – rund 130 Familien – gebaut und betrieben. Die Menschen, die sich rund um das Projekt Amatina organisiert haben, gehören zu der Bevölkerungsschicht, die vorher obdachlos war oder in einem der barrios lebte. Amatina betreibt eine eigene Bäckerei, in der zu nicht inflationären Preisen Backwaren verkauft werden. Zwölf Personen arbeiten hier gegen Lohn, sechs in der Morgen-, sechs in der Nachmittagsschicht. Im Garten, der zum Komplex gehört, werden Gemüse und Arzneipflanzen angebaut. Es gibt einen Kinderhort. Der Gemeinschaftsraum und das Studio für den Radiosender sind noch im Bau. Die Wohnungen sind modern und großzügig. Wir sprechen mit ein paar Frauen, die offensichtlich stolz darauf sind, ihre Wohnungen mit ihren eigenen Händen und ohne Hilfe von Privatunternehmen gebaut zu haben. Freiwillige aus anderen Organisationen helfen bei den Arbeiten, und es gibt Hilfe von internationalen Brigaden. Am Abend findet eine Versammlung der Jugend von Amatina statt. Das politische Bewusstsein der Jugendlichen hier ist unglaublich. Sie kennen die Geschichte der spanischen Kolonialisierung Lateinamerikas und der Unabhängigkeitskriege Venezuelas. Sie sind bestens über die aktuelle Situation informiert und stolz, ein Teil des Widerstandes gegen das US-Imperium zu sein. Als wir ihnen erzählen, dass die Medien in der Schweiz berichten, in Venezuela herrschten Hunger, Chaos und ein brutaler Diktator, der sein Volk unterdrückt, verstehen sie die Welt nicht mehr.

 

 

Dr. Natalie Benelli lebt in der Schweiz. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet in der Forschung.