Ende Januar sorgten Äußerungen des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der Funke Mediengruppe und der französischen Zeitung Ouest-France für Aufmerksamkeit, vor allem im Ausland. Schäuble hatte wieder einmal ein stärkeres militärisches Engagement gefordert: Man könne sich nicht »wegducken« und »nicht alles den Franzosen und den Amerikanern überlassen«. Was hellhörig machte und befremdend wirkte, war der Bezug zu Auschwitz, das vor 75 Jahren befreit wurde. »Die Lehre aus Auschwitz« könne, so Schäuble etwas ungeschickt, kein Argument dafür sein, »dauerhaft kein Engagement zu übernehmen«. Aufrüstungspolitik und Kriegsbeteiligung seien weiterhin zu forcieren. Konkret geht es Schäuble um den Aufbau einer europäischen Armee und die direkte Beteiligung an Kriegen, zum Beispiel in Mali. Bei Einsätzen dieser Art müsse man mitwirken, auch dann, wenn die französische Regierung nicht gerade in Begeisterungsstürme gerate, wenn die deutsche ihre Vorstellungen und Bedingungen entwickle. Zum Schluss ein kryptischer Hinweis auf die »moralischen Kosten«, die solche Einsätze mit sich bringen. Gemeint sind damit offensichtlich die Todesopfer, die Folgen militärischer Machtdemonstration. Solche »Kosten« könne man nicht einfach den Verbündeten aufbürden. Deutsche müssten sie übernehmen, wenn sie ihre Macht demonstrieren wollen. Die Lehre aus Auschwitz solle – so viel ist klar – kein Hindernis sein.
Man kann sich natürlich fragen, worin denn die Lehre aus Auschwitz bestehen soll. In einer Rede, die Schäuble am 29. Januar, nur wenige Stunden vor dem erwähnten Zeitungsinterview gehalten hat, finden sich Hinweise. Ein heilsames Schweigen gebe es nicht, heißt es hier. Die Vergangenheit müsse stets ausgehandelt werden, nur so bilde sich – wie er Jan Assmann zitiert – ein Gedächtnis. Schäuble erwähnt die Befreiung durch Soldaten der Roten Armee, und er verzichtet auch nicht darauf, auf das Ausmaß der Verbrechen einzugehen und die verschiedenen Gruppen aufzulisten, deren systematische Ausrottung geplant und weitgehend ausgeführt wurde. Schäuble stellt auch heraus, dass man sich zwar – zögerlich – zur Schuld an den Verbrechen bekannt, sich der Vergangenheit aber nicht wirklich gestellt habe. Aber gerade hier bleibt er vage. Die Ursachen für Auschwitz werden nicht benannt – Worte wie Faschismus, Eroberungskrieg, imperialistische Lebensraumpolitik, Herrenmenschentum, Antikommunismus fallen nicht. Auschwitz dient Schäuble als Warnung vor Rassismus und Antisemitismus, doch den Kontext zu deren Entstehung, Ausbreitung und Funktion lässt er aus. So richtig der Verweis auf das Prozesshafte des Erinnerns ist, so abstrakt bleibt bei ihm das Ganze, wenn man den historischen und gesellschaftlichen Kontext nicht benennt. Die Lehre aus Auschwitz hängt somit wie in so vielen Sonntagsreden in der Luft. Wirkliche Auswirkungen auf die Gegenwart hat sie nicht, kann sie und soll sie wohl auch nicht haben. Über einen Appell, die Würde des Menschen zu achten und gegen rassistische Übergriffe einzuschreiten, geht sie nicht hinaus. Das System, das Auschwitz möglich machte, kommt nicht vor. Stattdessen wird höchst vage davon gesprochen, »wie verführbar wir Menschen« sind und wie »zerbrechlich unsere Zivilisation« ist. Worin soll die Lehre aus Auschwitz bestehen, wenn sie auf solchen sattsam bekannten Plattitüden beruht?
Wie Schäuble die Nachkriegsgeschichte sieht, kann man ansonsten an einer Rede studieren, die er im Oktober 2019 zum Gedenken an Adenauer gehalten hat. Es geht freilich nicht nur um den ersten Bundeskanzler der westdeutschen Teilrepublik, sondern – ganz aktuell – um »Deutschlands Rolle in der globalisierten Welt«. Adenauer wird als Architekt von »Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand« gefeiert, seine Entscheidung, die deutsche Einheit zu opfern, wird verteidigt. 1945 wird hier unverblümt als »Katastrophe« bezeichnet – ohne weiter darauf einzugehen, was mit der reaktionären Vokabel impliziert ist. Die Nachkriegsjahre sind für Schäuble wohl die Jahre eines vorübergehenden Chaos, aus dem Adenauer zu neuem Wohlstand herausgeführt habe. Doch die erreichte Stabilität gelte es nun zu verteidigen. Nach 1990 müsse man bereit sein, auch »unsere Macht« einzusetzen, »um zu schützen und zu fördern, was die Grundlage unseres Lebensmodells ausmacht«. Der Verweis auf die Macht findet sich also hier bereits, ebenso der ominös-kryptische Hinweis auf den »Preis« dieser Macht. Die »Zurückhaltung« der Deutschen führt er auf die »Katastrophe« von 1945 zurück, sie sei dafür verantwortlich, dass wir unsere Macht nicht demonstrieren wollten. »Aber unsere Geschichte«, so ruft er aus, »darf kein Feigenblatt sein.« Im Jahr 2019 ist diese Einschätzung umso verwunderlicher, als die Berliner Republik bereits jahrelang ihre ökonomische und politische Hegemoniestellung in der EU unter Beweis gestellt hat. Länder wie das drangsalierte, seiner Souveränität weitgehend beraubte Griechenland können ein Lied davon singen. Schäuble verschanzt sich hinter einem angeblichen demokratischen Konstruktionsprinzip der EU, deren »Regelwerk« eine Hegemonie Deutschlands gar nicht zulasse. Europa wird also gebraucht, um die Souveränität in der Welt zu sichern. Dazu gehört dann auch die EU-Armee, für die sich die »Schwarze Null« der Austeritätspolitik stets stark machte. Wie undemokratisch Schäuble dabei denkt, wird deutlich, wenn er sich am Schluss seiner Rede auf Adenauers Remilitarisierungskurs in den 1950er Jahren bezieht. Diesen gegen den Widerstand von 75 Prozent der Bevölkerung durchzusetzen, habe Adenauer keinerlei Kopfschmerzen bereitet. Für ihn – wie für Schäuble – war allein entscheidend, das einmal »als richtig Erkannte« durchzusetzen, auch gegen demokratischen Widerstand. Die Botschaft ist klar: Die »Wohlstandssicherung« kann nur mit entsprechender Machtentfaltung, auch der militärischen, gelingen. Von irgendeiner Lehre aus Auschwitz kann man sich da nicht beirren lassen – 75 Jahre nach Kriegsende.