»So etwas hatte ich noch nie gesehen, und ich hatte den Eindruck, dass den Menschen geholfen werden muss.« Was die Tschechin Jitka Jakubzová in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges sah, war entsetzlich. Ein gespenstischer Zug rollte durch das deutsch besetzte sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren. In 77 offenen Kohlewaggons wurden weit über viertausend fast verhungerte, zu Tode erschöpfte Männer und Frauen durch das Land nach Süden gekarrt. KZ-Häftlinge. Das KZ Leitmeritz (im annektierten »Sudetenland«), größtes Außenlager des KZ Flossenbürg (in der Oberpfalz), wollte sie angesichts der näher rückenden US Army loswerden. Ob das KZ Mauthausen, größtes deutsches KZ auf österreichischem Boden, sie aufnehmen würde, war unklar. »Wir wussten nicht, was man mit uns vorhatte«, so die Überlebende Danica Gabarič später. »Manche erzählten, dass man uns im Kampfgetümmel als lebende Wand im Kampf gegen die Befreier verwenden würde.« Sie hätten schon begonnen, die Erschossenen um die endlich gefundene Ruhe zu beneiden. Es ist nicht der einzige KZ-Transport, der in diesen Wochen vor Kriegsende noch einmal unermessliches Leid über die Häftlinge bringt. Tausende überleben es nicht. Doch als der Zug die Grenze des Großdeutschen Reiches zum Protektorat überquert hat, verläuft die Sache anders als bei anderen KZ-Transporten. Es geschieht Unerwartetes, Einzigartiges.
Die Geschichte des Häftlingstransportes von Leitmeritz nach Süden erzählen Andrea Mocellin und Thomas Muggenthaler in ihrem Dokumentarfilm »Todeszug in die Freiheit«. Die Filmemacher können sich auf heimlich aufgenommenes dokumentarisches Foto- und Filmmaterial ebenso wie auf Protokolle aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und aktuelle Aussagen von Zeitzeug*innen stützen. Der historische Hintergrund wird, angenehm sparsam, vom Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebeleit, erläutert.
Es ist ein besonderer Film. Die Grausamkeiten der SS werden nicht beschönigt. Im Vordergrund stehen jedoch die Hilfsaktionen der tschechischen Bevölkerung für die Häftlinge. Aktionen, die ohne gut vernetzte Organisatoren kaum hätten gelingen können.
Von Station zu Station eilen Informationen über die Not der Häftlinge dem Zug voraus. An mehreren Bahnhöfen wird er von einer großen Menschenmenge erwartet. So zum Beispiel in der Kleinstadt Rostoky, wenige Kilometer vor Prag. Die Wartenden haben rechtzeitig erfahren, was gebraucht wird; sie haben Suppe gekocht, Brotlaibe mitgebracht. Jetzt fordern sie von der SS, den Häftlingen helfen zu dürfen. »Wir wachten am nächsten Morgen auf und da war plötzlich Brot, Kekse, etwas zu essen im Waggon«, erinnert sich die damals 19-jährige Ukrainerin Maria Fomina, die schon Auschwitz überlebt hat. Die Verhandlungen zwischen der SS und der Bevölkerung, die helfen will, ergeben auch, dass ein Teil der Häftlinge aus dem Zug aussteigen und sich auf dem Bahnsteig aufhalten kann. Einige von ihnen werden von den Helfern in den Warteraum geschleust. Der tschechische Gendarm patrouilliert vor dem Eingang und passt auf, dass die deutschen Wachen nicht hineingehen. Währenddessen bekommen die Häftlinge drinnen normale Kleidung und ziehen sich um. Durch die Tür auf der anderen Seite gehen sie davon. »Die Leute haben absichtlich ein Durcheinander provoziert, damit es nicht auffällt.« Nicht weniger als dreihundert Häftlinge können so weggebracht und versteckt werden. Achtzig Schwerkranke werden aus den Waggons geholt, um in dem zum Notlazarett umfunktionierten ehemaligen Armenhaus ihre Wunden zu versorgen und ihre Krankheiten – oft Typhus – zu behandeln. Mit von der Partie ist der Bahnhofsvorsteher von Rostoky. Er verhindert die Weiterfahrt des Zuges noch an demselben Tag und gewinnt damit »wertvolle Stunden, um entschlossen zu handeln«. Bis heute erinnert ein kleines Mahnmal in der Bahnhofshalle von Rostoky an die damaligen Ereignisse.
Noch erfolgreicher verläuft der Stopp in Prag-Bubny. Dank des organisierten Eingreifens der Tschechen einschließlich des Bahnhofvorstehers, der die Bremsen des Zuges für schadhaft und die Lokomotive für fahruntüchtig erklärt, können etwa tausend Häftlinge fliehen. Schwierig ist die Situation in Olbramovice, einer Station am Rande eines großen SS-Truppenübungsplatzes. Der Zug wird für sechs Tage auf ein Abstellgleis geschoben. Die Versorgung der Häftlinge mit dem Notwendigsten gelingt trotz des abgelegenen Ortes. Mit Lastwagen wird Verpflegung gebracht. Freilich kann nicht verhindert werden, dass der SS-Oberkommandierende im Dorf wild um sich schießt und etliche Häftlinge ermordet.
Als der Todeszug nach sechs Tagen in Richtung Großdeutschland weiterfährt, hat in der tschechischen Hauptstadt der Prager Aufstand begonnen. Die Führung der tschechischen Widerstandsbewegung beschließt, die Häftlinge vor Erreichen der Grenze zu befreien. Der Coup gelingt. Kurz vor der Grenze wird der Zug gestoppt. Dreitausend Häftlinge kommen frei. Die deutschen Bewacher machen sich über die Grenze davon. Es ist der 8. Mai 1945.
»Todeszug in die Freiheit«, ein Film von Andrea Mocellin und Thomas Muggenthaler. Redaktion: Andreas Bönte. Bayerischer Rundfunk, 45 Minuten. Am 5. Mai um 21 Uhr in ARD-alpha. Bis zum 21. Mai in der 3Sat-Mediathek.